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TAG DES FLÜCHTLINGS 1989

Visumpflicht für Kinder?

Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages

Am 20. Februar 1989 fand in Bonn eine öffentliche Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages zum Thema „Asyl- und Flüchtlingspolitik“ statt, zu der einzelne Sachverständige, die Kirchen, einige Wohlfahrtsverbände, UNHCR, amnesty international, terre des hommes sowie Vertreter von Verbänden und Behörden eingeladen waren.

Wer Interesse am Gesamtpaket der schriftlichen Stellungnahmen sowie am Protokoll der Anhörung des Innenausschusses hat, wende sich an den Innenausschuß des Deutschen Bundestages, Bundeshaus, 5300 Bonn 1.

Auszüge aus der Stellungnahme von terre des hommes

Frage: Wie sollte dem in den letzten Jahren verstärkt aufgetretenen Problem der Zuflucht von allein einreisenden Kindern und Jugendlichen bis zu 16 Jahren Rechnung getragen werden?

Antwort: „Das Kind ist in allen Notlagen bei den ersten, die Schutz und Hilfe erhalten.“ (Grundsatz 8 der UN-Charta des Kindes vom 20. November 1959).

Nach einem Bericht der UNO-Menschenrechtskommission tragen rund 200.000 Kinder unter 15 Jahren Waffen und leisten in der einen oder anderen Form Militärdienst. Die meisten von ihnen sind zwangsrekrutiert.

Tausende von Kindern in vielen Staaten der Welt sind Opfer von Folter, von staatlichen Übergriffen und Menschenrechtsverletzungen. Zehntausende von Kindern werden willkürlich inhaftiert, in Gefängnisse gesperrt, verschleppt, ermordet und hingerichtet. Kinder von oppositionellen und politisch aktiven Eltern sind häufig besonders gefährdet; sie werden mißhandelt, um Informationen zu erpressen. Kinder mußten die Folterungen ihrer Eltern ansehen; Eltern wird damit gedroht, ihre Kinder zu foltern, wenn sie nicht reden oder „Geständnisse“ preisgeben. Kinder werden „verdächtigen“ Eltern weggenommen:

„Subversive Eltern bringen ihren Kinder die Subversion bei. Dem muß ein Ende bereitet werden.“ So begründete dies einst der Polizeichef der argentinischen Hauptstadt, wo auch heute noch immer über 100 Kinder seit Mitte der 70er Jahre vermißt werden (nach dem Bericht der Schweizer und Bonner Sektion von amnesty international „Kinder als Opfer politischer Gewalt“, 1988).

In vielen Ländern leiden insbesondere die Kinder unter den „Strukturanpassungs- programmen“ des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank: die Armen müssen die Schulden zahlen, die sie nie gemacht haben, und ihre Kinder erleiden dabei für ihre Entwicklung irreparable Schäden.

In 14 der 27 Projektländer von terre des hommes herrscht Krieg; oft ist es ein schmutziger und verdeckter Krieg gegen die Zivilbevölkerung und zur Kontrolle der Bevölkerung, in dessen Folge Angst, Unsicherheit, Mißtrauen den Alltag bestimmen.

Immer wieder werden Projektpartnerinnen und Projektpartner von terre des hommes in diesen Ländern bedroht, verhaftet, gefoltert, ermordet.

Es sind der politische Druck, die Ausweglosigkeit, die desperate Situation im Heimatland und der persönliche Gefahrendruck, dem sich viele Eltern und Verwandte ausgesetzt sehen, die sie veranlassen, ihre Kinder vor Krieg, Not und Elend in Sicherheit zu bringen.

Über 6 Millionen Kinder und Jugendliche sind nach Angaben des UNHCR auf der Flucht. Viele von ihnen fliehen, ganz auf sich gestellt, aus den Kriegs- und Krisenländern.

Kinder benötigen besonderen Schutz, sie brauchen Unterstützung und Hilfe; sie haben die geringsten Handlungsalternativen und können sich am wenigsten selbst helfen.

Viele der Kinder, die in die Bundesrepublik kommen, sind dringend behandlungsbedürftig; sie leiden unter quälenden Erinnerungen, träumen vom Krieg, von Toten, Bomben und vom Leben in Bunkern; viele sind verstört, desorientiert, haben Angstzustände; sie leiden unter Fluchttraumata und unter Trennungsschmerz, viele sind medizinisch behandlungsbedürftig.

Kinder sind als Flüchtlinge noch verletzbarer und schutzbedürftiger als erwachsene Flüchtlinge. Ihr Schutz, ihr Wohlergehen und eine verstärkte Fürsorge sieht terre des hommes als eine absolute Priorität glaubwürdigen staatlichen Flüchtlingsschutzes an.

Daher verurteilt terre des hommes die wiederholten Versuche, Kinder und Jugendliche an der Einreise in die Bundesrepublik zu hindern und die Absichten, eine Visumspflicht für Kinder unter 16 Jahren einzuführen, in aller Schärfe.

Dem verzweifelten Schritt vieler Eltern und Kinder hier mit Zurückweisung und Zwangsmaßnahmen zu begegnen, hält terre des hommes besonders beschämend für ein Land, in dem in der Zeit des Faschismus viele Eltern das Überleben ihrer Kinder nur durch Wegschicken ins Ausland sichern konnten und das mit dem im Grundgesetz verankerten Asylrecht neue humanitäre Maßstäbe setzen wollte.

terre des hommes fordert in diesem Zusammenhang

  • die strikte Anwendung des Haager Minderjährigen‑Schutzabkommens
    und des Jugendwohlfahrtsgesetzes für alle minderjährigen Flüchtlinge;
  • einen gesicherten Rechtstatus auch für die 16‑ bis 18jährigen; ausländerrechtliche Regelungen dürfen hier keinen Vorrang haben;
  • die Flüchtlingskinder müssen das gleiche Recht auf Bildung und Erziehung haben wie deutsche Kinder;
  • den Aufbau von Flughafen‑Sozialdiensten nach dem Frankfurter Beispiel, um insbesondere alleinreisenden minderjährigen Flüchtlingen die notwendige Betreuung und Hilfe zuteil werden zu lassen.

Da Kinder als die schwächsten und am leichtesten zu verletzenden Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft auch die allergrößten Schwierigkeiten haben, ihre Rechte geltend zu machen und sie durchzusetzen, fordert terre des hommes auch die Unterstützung des Vorhabens der Vereinten Nationen durch die Bundesregierung, eine internationale Konvention über die Rechte des Kindes zu erarbeiten und möglichst noch 1989 zu verabschieden.

Große Bereinigung

Die Ursachen kämpfen jetzt gegen ihre Folgen

daß sie keiner mehr für die Folgen verantwortlich machen darf

denn auch das Verantwortlichmachen gehört zu den Folgen

und Folgen werden verboten und verfolgt von den Ursachen selbst

Die wollen von solchen Folgen nichts wissen

Wer sieht wie eifrig sie hinter den Folgen her sind

und immer noch sagt sie stehen in enger Verbindung mit ihnen

der wird nur sich selbst die Folgen zuschreiben müssen

Erich Fried

Aus:
Erich Fried, Hundert Gedichte ohne Vaterland, Verlag Klaus Wagenbach, 1973


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