TAG DES FLÜCHTLINGS 1989
„Ich war fremd und obdachlos …
und ihr habt mich aufgenommen“
Ein Schülergottesdienst
INHALT
- Grußwort des Vertreters des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (1989)
- Grußwort der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (1989)
ANALYSEN
- Der Parlamentarische Rat und das Asylrecht
- „Festung Europa“ – zur neueren Entwicklung der Asylpolitik in der Europäischen Gemeinschaft
- 40 Jahre Grundrecht auf Asyl – ein Pfeiler unserer Verfassung
- Die Saat geht auf: Ausländerhaß
- Visumpflicht für Kinder?
- Verfolgt, weil Frau – kein Asylgrund?
- Asyl in der Kirche – Erfahrungen aus Berlin
- Abschiebungen in den Libanon?
BEISPIELE UND ANREGUNGEN
- Nicht politisch verfolgt? – Cengiz Dogu, ein Flüchtlingsschicksal
- Offener Brief an den Bundesinnenminister
- „Ich war fremd und obdachlos … und ihr habt mich aufgenommen“
- Stein des Anstoßes
- Container-Nacht-Aktion als Auftakt des Tages des Flüchtlings 1988 in Stuttgart
- Der Kölner Flüchtlingsrat zur Aussiedlerdiskussion
- Resolution der „Flüchtlinge in Berlin“
- Ökumenische Aktion in der Fußgängerzone
- Speisezettel weist den Weg aus der Isolation
- Nur Platz für Bett und zwei Stühle
- Statistik
- Materialhinweise / Adressen
In der internationalen Gesamtschule Heidelberg fand am 19.12.1986 ein Schülergottesdienst zum Thema „Asyl“ statt. An der Vorbereitung des Gottesdienstes waren Lehrer, Schüler und Eltern beteiligt. Der Gottesdienst war eingebettet in einen Prozeß intensiver Beschäftigung mit der Asylthematik durch die Beteiligten. Dem Gottesdienst ging eine Sammlung von Sachspenden für Flüchtlinge, etwa zwei Wochen vor dem Gottesdienst, voraus. Eine Woche vor dem Gottesdienst war eine Ausstellung zum Thema „Asyl“ in der Mensa der Schule zu sehen. Dem Gottesdienst folgte ein Gesprächsangebot von vier Gesprächsforen mit Asylsuchenden und Experten. Auszüge aus dem Gottesdienst:
Stellungnahme von Betroffenen
1. Sprecherin:
Ich bin 17 Jahre alt, ich komme aus dem Libanon. Meine Familie lebt in Beirut. Viele Jahre der Angst haben wir hinter uns, Angst vor Raketen, Angst vor Autobomben und vor Kämpfen in der Stadt.
Unser Haus wurde zerstört, mein Vater mit dem Tode bedroht, weil er nicht mitkämpfen wollte.
Jetzt lebe ich hier in einem Land, das mir fremd ist. Die Leute sind freundlich zu mir, doch ich verstehe ihre Sprache nicht. Gott sei Dank habe ich Englisch gelernt, sonst wäre ich oft ganz hilflos.
In meiner Heimat wollte ich studieren. Hier weiß ich nicht, wie es weitergeht. Ich vermisse meine Freundinnen. Ich habe oft Heimweh. Auch meine Mutter weint oft. Sie darf nicht einkaufen auf dem Markt und nicht selber kochen. Stattdessen bekommen wir Kantinenessen aus der Lagerküche, das in Plastikbehältern geliefert wird und für uns ganz ungewohnt ist.
Mein Vater ist sehr deprimiert, er möchte gern arbeiten, irgendetwas, vielleicht als Taxifahrer, aber er darf nicht arbeiten. Es ist verboten.
Er mußte Sozialhilfe beantragen. Er bekommt jetzt ein Taschengeld von 2,30 DM pro Tag. Wenn er das Geld abholt, fühlt er sich gedemütigt. Er hat das Gefühl, ein Bettler zu sein. Besonders schlimm ist es, wenn wir dann manchmal hören, Asylanten seien faul, sie wollten gar nicht arbeiten.
Warum verstehen uns die Deutschen nicht? Sie hatten doch auch viele Flüchtlinge im Krieg und danach. Was nehmen wir ihnen denn weg?
Zwischenspiel
2. Sprecher:
Ich komme aus Eritrea.
Zu Hause konnte ich nicht mehr bleiben, seit ich mich der „Eritreischen Volksbefreiungsfront“ angeschlossen hatte. Wir wollten uns gegen die massive Unterdrückung unseres Volkes durch die äthiopischen Machthaber wehren, die uns Eritreer mürbe und gefügig machen wollen dadurch, daß sie unser Wasser vergiften, unsere Häuser zerstören, unsere Tiere töten, unser Land niederbrennen, unsere Kirchen zerstören.
Wenn wir für unser Recht eintreten, werden wir umgesiedelt oder irgendwann einfach abgeholt, ins Gefängnis gesteckt oder erschossen.
Ich war insgesamt drei Jahre im Gefängnis und kann froh sein, daß ich überhaupt lebend herauskam. Ich wurde oft gefoltert und trage die Spuren der Folterung noch heute. Sie wollten immer wieder Namen wissen, Namen von Mitgliedern der „Befreiungsfront“ und natürlich andere Informationen. Meiner Frau war inzwischen die Flucht über Italien nach Deutschland gelungen. Sie konnte nur die beiden jüngsten Kinder mitnehmen, mit denen sie in Mannheim politisches Asyl gefunden hat.
Nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis habe ich sofort nach meinen drei älteren Kindern gesucht, um mit ihnen auf die Flucht zu gehen. Ich habe sie nicht gefunden, ich weiß bis heute nichts von ihnen, noch nicht mal, ob sie noch am Leben sind.
3. Sprecherin:
Ich komme aus dem Iran.
Als ich in der Nacht über die Grenze hierher gekommen bin, dachte ich mir: Unterdrückung, Blutbad, Folter sind vorbei. Niemand richtet mich mehr nur aus dem Grund, daß ich frei sein will.
Die Khomeini-Regierung hatte uns vor der Revolution viel versprochen, aber sie hielten ihre Versprechungen nicht, sondern führten langsam mittelalterliche Gesetze ein. Wir Frauen im Iran müssen uns verschleiern, und zwar so, daß kein Haar zu sehen ist. Einmal saß ich bei einer der vielen Hausdurchsuchungen mit meiner Freundin zusammen, unsere Kopf tücher waren ein wenig verrutscht, so daß man die Haare sehen konnte. Dafür wurde meiner Freundin der Kopf total kahlgeschoren.
Einen Lippenstift zu benutzen ist verboten. Einmal habe ich miterleben müssen, wie eine Frau gezwungen wurde, sich den Lippenstift mit einer Rasierklinge zu entfernen. Freundschaften zwischen Männern und Frauen sind verboten. Ehepaare müssen ihre Heiratsurkunde ständig dabei haben, um sie bei Straßenkontrollen vorzeigen zu können. Ich hatte einen Freund, kam in eine Kontrolle und bekam als Strafe 70 Schläge mit einer schweren Kette. Diese Auspeitschung fand in aller Öffentlichkeit auf dem Marktplatz statt. Ich blutete am ganzen Körper. Diesen Terror konnte ich nicht länger ertragen. Es gelang mir, über die Türkei nach Deutschland zu fliehen.
Manche Leute hier sagen uns: Ihr kommt ja nur her, weil ihr Hunger habt, weil ihr denkt, ihr könnt hier besser verdienen. Ihr seid „Wirtschaftsasylanten“! Das stimmt überhaupt nicht! Wir haben zuhause genug zu essen, wir verdienen genauso gut wie die Leute hier. Aber wir wollen nicht länger Angst haben müssen, jeden Tag!
Viele junge Männer aus Iran verlassen ihre Heimat, weil sie nicht von Khomeini-Leuten von der Straße weggeholt und in den unsinnigen Krieg gegen die Kurden in Irak geschickt werden wollen.
Sie wollen nicht auf ihre Brüder in Kurdistan schießen! Ist es denn zuviel verlangt, wenn man den Frieden will?
Meditation
O. Kokoschka, „In memory of the Children of Europe“
Der Maler Oskar Kokoschka gibt uns mit diesem Bild eine Vorstellung davon, was es heißt, Jesus aufzunehmen. Der Gekreuzigte und Auferstandene beugt sich herab zu den Kindern in Europa. Zu den Flüchtlingskindern nach dem 2. Weltkrieg. Deren Leben weiterhin bedroht ist durch Kälte und Hunger.
Jesus aufnehmen bedeutet hier: so wie er eine Hand frei haben für Menschen, die mich brauchen. So wie er meine Augen aufhalten für Menschen, deren Leben bedroht ist. Heute, 40 Jahre später, sind es 15 Millionen Flüchtlinge in der Welt. Ihr Leben ist bedroht. Draußen durch Folter, Krieg und Hunger. Bei uns durch Isolation in Lagern, Arbeitsverbot und Abschiebehaft.
Jesus aufnehmen bedeutet, meine Hand frei halten für sie. Wach sein. Nicht hereinfallen auf Propagandamärchen von Flut und Schwemme, Parasiten und Schmarotzern. Vielmehr offen sein, sich informieren über ihre Lage zu Hause und bei uns. Kontakte herstellen mit Menschen und Organisationen, die ihnen konkret beistehen. Das ist eine Möglichkeit, den Zaun zu durchlöchern, der uns trennt. Die verordnete Isolation zu durchbrechen. Gott will diese Welt ohne Zäune und Mauern. Für ihn gibt es keine Deutschen und Asylanten. Alle Menschen sind seine geliebten Geschöpfe. Deshalb will ich, daß es nicht so weitergeht.
(Der Sprecher geht zum Zaun und durchschneidet mit der Schere den obersten Teil des Zaunes.)
Wenn Jesus heute lebte, was er tun würde, ist klar. Seine Hände ausstrecken und rühren auch für die Flüchtlinge. Sich mit ihnen treffen. Mit ihnen zusammen essen. So wie es der Bischof von Limburg, Franz Kamphaus, getan hat. Er traf sich am Martinstag mit Asylbewerbern aus sechs Ländern. Der heilige Martin sei Vorbild im Teilen, sagte er und tat es. So wie es auch Menschen in Handschuhsheim und Schriesheim tun, die Flüchtlinge zu sich nach Hause einladen. Sie begleiten sie bei den Gesprächen und Verhandlungen mit Ämtern und Behörden.
Unser Gott will keine Welt mit bürokratischen Zäunen. Deshalb ermutigt die Bibel:
Durchlöchert die Zäune, macht Zäune so niedrig wie möglich, klettert über die Zäune, unterwandert sie, reicht euch die Hände über die Zäune, baut keine neuen, beendet den Götzendienst der Zäune!
(Der Sprecher geht zum Zaun und durchschneidet den nächsten Teil des Zaunes.)
Inzwischen hat die Auseinandersetzung um die Flüchtlinge in der BRD eine neue Phase erreicht. Ausländer, denen die Abschiebung droht, finden jetzt Zuflucht bei Bürgern und Kirchen. Zum Beispiel in Berlin. Im Oktober hat das Berliner Parlament den Abschiebestop für libanesische Flüchtlinge aufgehoben. 500 Libanesen sind von einem gewaltsamen Rücktransport bedroht. Daraufhin haben sich über 100 Berliner Bürger entschlossen, Flüchtlinge in ihren Wohnungen zu verstecken.
Der Berliner Pfarrer Lietz zitiert in seiner Kirche 2. Mose Buch 23,9 als die Losung der Stunde für Berlin: „Die Fremdlinge sollt ihr nicht unterdrücken, sondern gleichbehandeln. “
In Hamburg solidarisierte sich Bischof Peter Krusche mit Flüchtlingen, die in der Pauluskirche einen Hungerstreik begonnen hatten.
Obwohl bereits Staatsanwälte gegen Menschen bei uns ermitteln, die Flüchtlingen Zuflucht geben, setzen viele Kirchengemeinden unübersehbare Zeichen für die Flüchtlinge. Genauso wie in der Schweiz, genauso wie in den USA, wo Kirchengemeinden Zufluchtsstätten geworden sind.
Es kommen Fremde über den Zaun und werden Gäste. Aus Fremdenhaß wird Gastfreundschaft. Fremdenheime werden zu Gästehäusern.
Fremde werden Freunde.
Wenn der Zaun fällt, erfüllt sich Jesu Wort: „Ich war fremd und obdachlos…
und ihr habt mich aufgenommen.“
(Der Sprecher zerschneidet die letzten Teile des Zaunes)
Fürbitten
1. Herr, Wir sind Fremdlinge und Gäste vor dir. Vergib uns, daß wir Vorrechte in Anspruch nehmen, die uns nicht zustehen. Vergib uns, daß wir den Fremden unter uns mit Mißtrauen entgegentreten, sie häufig nur mit Almosen abspeisen und ihnen nicht die gleichen Rechte zugestehen, die wir genießen.
2. Wir sollen die Sache der Flüchtlinge, der Verfolgten, der Armen und Verlassenen zu unserer Sache machen, denn wir gehören zu ihnen. Du willst uns auf ihrer Seite sehen. Laß uns deinen Ruf hören und ihm folgen.
3. Wir bitten für die Verbesserung der Lage der Asylsuchenden in der Bundesrepublik Deutschland. Menschen, die gefoltert wurden oder dies befürchten müssen, sollen ein gesichertes Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik erhalten. Wie in anderen europäischen Ländern sollten endlich die Familienangehörigen von Asylberechtigten mit diesen rechtlich gleichgestellt werden. Die Anerkennungsverfahren für Asylbewerber sollten beschleunigt werden.
Laß uns lieben, wo Menschen sich
hassen. Laß uns für Versöhnung eintreten,
wo Menschen streiten und kämpfen. Laß uns teilen, wo Menschen in
Not sind. Laß uns Freude bereiten, wo Menschen traurig sind.
aus: Entwurf Nr. 2/88
Bühnenbild für den Gottesdienstes:
Ein Flüchtlingszimmer (eingerichtet mit Bett, Tisch und Schrank), das von einem Lagerzaun umgeben ist. Die Umzäunung wurde hergestellt mit Kartenständern und rot-weißen Absperrbändern oder Seilen.