TAG DES FLÜCHTLINGS 1996
Der Einzelfall zählt
Günter Burkhardt
INHALT
- Grußwort der Vertreterin der Hohen Flüchtlingskommissarin der Vereinten Nationen (UNHCR) in der Bundesrepublik Deutschland
- Entwicklung der Asylpolitik in Europa
- Frauenspezifische Verfolgungsgründe
- Der Einzelfall zählt
- Statt Asyl: Auslandsschutzbrief und Nichtverfolgungsbescheinigung – Verfassungsgericht glaubt der Selbstauskunft von Diktatoren
- Gibt es Kettenabschiebungen?
- »In meinem Kopf ist immer die Frage: Was kommt später?« – Minderjährige unbegleitete Flüchtlinge
- Kann man Folter übersehen?
- Der Präsident erhöht die Schlagzahl
– Druck auf die Mitarbeiter des Bundesamtes verschlechtert die Qualität der Asylentscheidungen - »…daß hier allzu leichtfertig mit dem Schicksal eines Menschen umgegangen wird.«
Später Erfolg für die kurdische Familie Simsek im Petitionsausschuß - Brennpunkt Flughafen
- Nach Einreise: Abschiebehaft
- Für Härtefallregelungen
- Gegen die inhumane Abschiebepraxis in Deutschland
- Illegalität fällt nicht vom Himmel
- Beispiele und Anregungen
- Das Asylbewerberleistungsgesetz ein Schreckgespenst für Flüchtlinge und Asylsuchende
- Ärzte-Netzwerk »Medizinische Hilfe«
- Erste Erfahrungen einer Abschiebehaft-Gruppe
- Begegnung mit Flüchtlingen suchen
- Wir wollen, daß ihr bleiben könnt!
- Was ist los in Zaire?
- Gruppenasyl in Regensburg für togoische Flüchtlinge
- Unzureichende Altfallregelung – künftig kaum noch Abschiebestopps
- Zehn Jahre PRO ASYL
- Adressen
- Statistik
»Unter den Schlägen platzte die Haut an meinen Fußsohlen…«
Im April 1994 hat die kath. Kirchengemeinde St. Sebastian gemeinsam mit der ev. Kirchengemeinde St. Johannes in Gilching entschieden, der Familie S. Kirchenasyl zu gewähren. Während seines Wehrdienstes wurde Hüseyin S. als Kurde beschimpft und drangsaliert. Zurück in seiner Heimatstadt Pasarcik eröffnete er ein Gasthaus. Dort sollte er zur Unterstützung der kurdischen Arbeiterpartei Kleidung und Essen zur Verfügung stellen. Trotz großer Angst vor dem Staatssicherheitsdienst wich er dem Druck und begann, für die Arbeiterpartei zu arbeiten. Nach einer Anzeige wurde er von der Polizei verhaftet, tagelang verhört und gefoltert. Man schlug ihn mit bloßen Fäusten und Knüppeln auf besonders empfindliche KörpersteIlen, hängte ihn an eine Eisenstange, so daß er den Boden nur noch mit den Zehenspitzen berühren konnte und schlug ihn auf die Fußsohlen, bis die Haut platzte. Danach ließ man ihn durch Salzwasser gehen.
1992 gelang Hüseyin S. die Flucht nach Deutschland. Doch sein Asylantrag wurde als »offensichtlich unbegründet« abgelehnt. Die Zuflucht in den Schutz der Kirche war die letzte Möglichkeit, ihn vor einer Abschiebung zu bewahren. Doch der bayerische Innenminister schaltete auf stur. Die letzte Möglichkeit für Familie S. war die Flucht aus Deutschland in ein anderes europäisches Land, wo sie heute leben.
»Wir wurden vergewaltigt…«
Zwei Jahre lang war Frau I. Präsidentin der Müttersektion der P.D.S.c., einer Oppositionspartei in Zaire. Sie organisierte Versammlungen und Demonstrationen. Nach einer gegen den Diktator Mobutu gerichteten Demonstration wurde sie im Oktober 1994 verhaftet und ins Gefängnis der Sicherheitspolizei gebracht. Ihr Mann wurde ermordet. Frau I. erzählt:
»Dann schlugen sie mich, bis ich ohnmächtig wurde. Sie gossen mir Wasser ins Gesicht, daqÜt ich aufwachte und warfen mich in einen Raum, wo schon andere Frauen waren. Sie sagten mir, ich solle nur warten, bis die Nacht komme. Am nächsten Morgen waren wir nur noch zehn drei Frauen hatten die Soldaten umgebracht. Wir wurden geschlagen und vergewaltigt.«
Frau I. gelang unter großen Schwierigkeiten die Flucht nach Deutschland. Im Dezember 1994 wurde sie in Freiburg angehört. Der Übersetzer war ein Zairer, die Beamten des Bundesamtes allesamt Männer. Ihr Asylantrag wurde abgelehnt, weil sie nichts sagte. Die Scheu, die Demütigung offen zu legen, war zu groß. Am Ende des Asylverfahrens drohte ihr die Abschiebung. Durch öffentliche Proteste von engagierten Bürgerinnen und Bürgern, von PRO ASYL wie auch von Großorganisationen wie dem Deutschen Gewerkschaftsbund wurde erreicht, daß sie aus der Abschiebehaft entlassen wurde.
Doch Asyl hat sie noch lange nicht. Frauenspezifische Fluchtgründe, wie zum Beispiel Vergewaltigung, zählen bisher nicht im Asylverfahren.
Das Ergebnis eines gestellten Folgeantrages ist zur Zeit noch offen.
»Zuerst haben sie mich gefoltert und dann bekam ich das Todesurteil…«
Der Fall dieses Flüchtlings, der im Jahre 1994 am Frankfurter Flughafen landete, ist besonders tragisch. Er litt an auch für Laien erkennbaren Verletzungen und führte diese plausibel auf Folterungen zurück. Das Bundesamt hielt es nicht für nötig, eine ärztliche Untersuchung zu veranlassen, um die Herkunft der Verletzungen zu erforschen. Es ging seiner Ermittlungspflicht aus dem Weg, indem es‘ den Flüchtling einfach für unglaubwürdig erklärte: »Unverständlich und lebensfremd ist, daß einer Person, die hingerichtet werden soll, erst medizinische Behandlung zuteil wird, damit Folterwunden abheilen können.«
Nachdem der Flüchtling in der Anhörung berichtet hatte, von einem Militärgericht zum Tode verurteilt worden zu sein und die Umstände seiner geplanten Hinrichtung geschildert hatte, lautete die weitere Frage: »Ist Ihnen außer dieser einen hier geschilderten Sache nichts weiter durch die Behörden in Nigeria geschehen?« (AZ: G 1851979-232)
In diesem Fall ist es nicht gelungen, zu einer positiven Lösung zu kommen. Der Flüchtling wurde im Rahmen des Schnellverfahrens am Frankfurter Flughafen zurückgeschoben. Seitdem ist über seinen Verbleib nichts bekannt.
»Sie steckten Holzsplitter in meinen Penis…«
Auch dieser Flüchtling berichtete auf dem Frankfurter Flughafen detailliert dem Bundesgrenzschutz von seinen Folterungen. Doch die medizinisch notwendige Untersuchung, um den Verdacht der Folter zu erhärten oder zu widerlegen, erfolgte nicht. Auch dieser Flüchtling wurde aus Deutschland in ein ungewisses Schicksal zurückgeschoben.
»Meine Eltern wurden von ihnen geschlagen, getreten und getötet…«
Am 19. August 1993 landete, mit dem Flugzeug aus Griechenland kommend, die syrisch-orthodoxe Christin Esther (Name geändert) am Frankfurter Flughafen. Sie floh aus dem Irak über das Gebirge in die Türkei, von dort nach Griechenland. Dort stieg sie in das nächste Flugzeug und flog nach Deutschland.
Die Gründe für ihre Flucht sind schwerwiegend: Sie sollte für das Regime Arbeitskollegen ausspionieren. Esther weigerte sich. Die Konsequenz: Sie wurde vorsätzlich mit dem Auto angefahren und als sie sich nach dem Krankenhausaufenthalt immer noch weigerte, kamen die Schergen des Regimes zu ihrem Elternhaus. Sie schlugen und traten die Eltern vor ihren Augen zusammen. Als sie dazwischengehen wollte, wurde auch sie verprügelt. Man versuchte, sie sexuell zu mißbrauchen. Als eine Nachbarin Alarm schlug, ließen die Eindringlinge ab. Beide Eltern starben an den Folgen ihrer Verletzungen, Esther floh Hals über Kopf.
Doch nach dem Willen der Mehrheit unserer Politiker soll sie kein Asyl in Deutschland erhalten. Nicht mehr der Grund für die Flucht zählt, sondern nur noch der Fluchtweg. Und wer über einen angeblich »sicheren Drittstaat« einreist, soll dorthin zurück. Doch Griechenland ist für sie nicht sicher. Griechenland wendet seinerseits eine ähnliche Drittstaatenregelung wie die Bundesrepublik an. Ihr droht die Abschiebung in die Türkei. Doch die Türkei gewährt grundsätzlich nur Flüchtlingen aus europäischen Ländern Asyl. Die Kettenabschiebung bis in den Verfolgerstaat Irak droht.
PRO ASYL hat diesen Fall bis hin zum Bundesverfassungsgericht unterstützt. Er ist einer der Fälle, an deren Beispiel das Verfassungsgericht die Rechtmäßigkeit des neuen Asylrechts prüft. Bei Redaktionsschluß dieses Heftes war der Ausgang des Verfahrens in Karlsruhe noch nicht bekannt.
Die hier geschilderten Fälle sind die Grundlage für die neuen Plakate von PRO ASYL. Wir bedanken uns dafür bei Dieter Klöckner und Mario Thielke, die diese Kampagne ohne Entgelt für PRO ASYL entworfen haben. Sie ist aufgrund von intensiven Gesprächen, bei denen auch die Grenzen und Verdrängungsmechanismen der eigenen Arbeit deutlich wurden, entstanden. »Können wir auf einem Plakat detailliert die Folterungen schildern?«, war eine der Fragen, die ich Dieter Klöckner stellte. Seine Antwort war: »Politiker, aber auch Ihr in der Asylarbeit Tätigen verdrängen die Realität. Vielleicht haltet Ihr sie sonst gar nicht aus. Wenn Ihr etwas bewegen wollt, müßt Ihr die brutale Wahrheit ins Bewußtsein rücken und die Menschen an dem Schicksal anderer teilhaben lassen.«
Mit den neuen Plakaten will PRO ASYL deshalb das Schicksal der verfolgten Menschen in den Mittelpunkt stellen. Das Asylrecht ist ein individuelles Grundrecht. Für die Entscheidung, ob jemand Asyl erhält, muß das Schicksal jedes einzelnen Flüchtlings betrachtet werden. Vielfach unterbleibt dies: Oberflächliche Anhörungen, Entscheidungen im Eilverfahren, insbesondere an den Flughäfen und unzureichende Gesetze führen dazu, daßdas Verfolgungsschicksal des einzelnen Flüchtlings nur ungenügend gewürdigt wird. Immer wieder gilt es aufs Neue deutlich zu machen: Der Einzelfall zählt. Gerade weil das Asylrecht immer größere Lücken aufweist und viele Verfolgte nicht unter den Schutz des Asylgrundrechts fallen, ist auf diese Diskrepanz verstärkt hinzuweisen. Die Plakatserie soll eine Anregung für Initiativgruppen, Kirchengemeinden und in der Asylarbeit Tätige sein, ähnliche Einzelfälle am Tag des Flüchtlings der Öffentlichkeit vorzustellen.