TAG DES FLÜCHTLINGS 1996
Der Präsident erhöht die Schlagzahl
Druck auf die Mitarbeiter des Bundesamtes
verschlechtert die Qualität der Asylentscheidungen
INHALT
- Grußwort der Vertreterin der Hohen Flüchtlingskommissarin der Vereinten Nationen (UNHCR) in der Bundesrepublik Deutschland
- Entwicklung der Asylpolitik in Europa
- Frauenspezifische Verfolgungsgründe
- Der Einzelfall zählt
- Statt Asyl: Auslandsschutzbrief und Nichtverfolgungsbescheinigung – Verfassungsgericht glaubt der Selbstauskunft von Diktatoren
- Gibt es Kettenabschiebungen?
- »In meinem Kopf ist immer die Frage: Was kommt später?« – Minderjährige unbegleitete Flüchtlinge
- Kann man Folter übersehen?
- Der Präsident erhöht die Schlagzahl
– Druck auf die Mitarbeiter des Bundesamtes verschlechtert die Qualität der Asylentscheidungen - »…daß hier allzu leichtfertig mit dem Schicksal eines Menschen umgegangen wird.«
Später Erfolg für die kurdische Familie Simsek im Petitionsausschuß - Brennpunkt Flughafen
- Nach Einreise: Abschiebehaft
- Für Härtefallregelungen
- Gegen die inhumane Abschiebepraxis in Deutschland
- Illegalität fällt nicht vom Himmel
- Beispiele und Anregungen
- Das Asylbewerberleistungsgesetz ein Schreckgespenst für Flüchtlinge und Asylsuchende
- Ärzte-Netzwerk »Medizinische Hilfe«
- Erste Erfahrungen einer Abschiebehaft-Gruppe
- Begegnung mit Flüchtlingen suchen
- Wir wollen, daß ihr bleiben könnt!
- Was ist los in Zaire?
- Gruppenasyl in Regensburg für togoische Flüchtlinge
- Unzureichende Altfallregelung – künftig kaum noch Abschiebestopps
- Zehn Jahre PRO ASYL
- Adressen
- Statistik
Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge ist die für die Durchführung der Asylverfahren zuständige Behörde. Die Anhörung von Asylsuchenden beim Bundesamt ist von entscheidender Bedeutung für das weitere Verfahren und das Schicksal der Betroffenen. Die Kompetenz und Sorgfalt der Befrager, der sogenannten Einzelentscheider, stellt Weichen. Wo in den 70er Jahren noch ganze Anerkennungsausschüsse entschieden, liegt die Verantwortung heute auf den Schultern einzelner. Die Tätigkeit der Entscheider setzt Sachkenntnis der Situation in den jeweiligen Herkunftsländern ebenso voraus wie Einfühlungsvermögen in ihr Gegenüber und die Fähigkeit, ein Gespräch so zu führen, daß alle wesentlichen Sachverhalte zur Sprache kommen und gleichzeitig die Regeln eines ordentlichen Verwaltungsverfahrens eingehalten werden. Daß die Kommunikation mit dem Flüchtling in der Regel über Dolmetscher mit sehr unterschiedlicher Fähigkeit erfolgt, macht eine weitere Schwierigkeit aus. Vor allem erfordert eine sorgfältige Anhörung Zeit.
PRO ASYL hat in den letzten Jahren immer wieder nachgewiesen, daß die Qualität vieler Entscheidungen des Bundesamtes mangelhaft ist. Die Anerkennungsprotokolle lassen erkennen, daß die Sachkenntnis der Bediensteten außerordentlich schwankt und daß viele die Regeln ihrer Kunst nicht beherrschen. Flüchtlinge berichten darüber hinaus, daß die Anhörungssituation häufig von Hektik geprägt ist, auch wenn dann schließlich als Dauer der Anhörung zwei oder drei Stunden im Protokoll festgehalten werden. Viel Zeit entfällt hiervon auf Formalien, Diktat, Rückübersetzung des Protokolls. Die mangelhafte Qualität vieler Bundesamtsentscheidungen hat einen Grund darin, daß nach dem Inkrafttreten des neuen Asylrechts neue Entscheider in großer Zahl angeworben wurden. Bei der Stellenausschreibung wurden die Anforderungen an die berufliche Vorqualifikation herabgesetzt.
Jetzt gibt es auch Belege dafür, daß die Leitung des Bundesamtes Druck auf die Entscheider ausübt, um eine möglichst hohe Zahl von Entscheidungen zu erreichen. So schreibt der Personalrat der Außenstelle Freiburg im Februar 1996 an den erst vor kurzem ins Amt eingeführten Präsidenten des Bundesamtes, Hans Georg Dusch: »Auf die Entscheiderinnen und Entscheider wird ein starKer Druck ausgeübt, möglichst Asylverfahren mit zeitlich kurzen Anhörungen und kurzen Bescheiden auf Kosten der Qualität durchzuführen. Die Anweisung des Präsidenten, eine erhöhte Anzahl von Anhörungen und Entscheidungen bei »gleicher Qualität« anzufertigen, kann aufgrund der zeitlichen Rahmenbedingungen nur als Lippenbekenntnis gewertet werden. Dies ergibt sich zwingend aus dem für eine qualitative Bearbeitung notwendigen Zeitaufwand. Die Sachverhaltsaufklärung soll – wie teilweise schon in der Vergangenheit – auf die Verwaltungsgerichte abgewälzt werden.«
Der neue Präsident hatte sich bei seiner Antrittsrede am 20. Dezember 1995 gegenüber Bundesinnenminister Kanther offensichtlich selbst unter Druck gesetzt mit der Zusage, dafür zu sorgen, daß bis Ende März 1996 alle Altfälle entschieden sein würden. Gleichzeitig sollten die PersonalsteIlen des Bundesamtes um 1.000 reduziert werden. Konsternierten Personalräten wurde die massive Ableistung von Überstunden angekündigt. Entscheider sollten »freiwillig« täglich bis zu elf Stunden arbeiten. Nachdem das Bundes innenministerium darauf hingewiesen hatte, daß dies gegen das Arbeitszeitrecht verstößt, wurde der Druck auf die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen subtiler gestaltet.
Während die Mitarbeiter während der geforderten Überstunden ihre eigenen Arbeitsplätze wegrationalisieren, wächst der Druck auf die Einzelentscheider, mit den Flüchtlingen kurzen Prozeß zu machen. In einem Schreiben vom 1. Februar 1996 fordert der Präsident eine Erhöhung der »Schlagzahl« von bislang 44 Asylentscheidungen pro Einzelentscheider im Monat. Der Freiburger Personalrat wirft Präsident Dusch mangelnde Sachkompetenz vor: »Nach Ihren eigenen Worten ergibt sich diese »Schlagzahl« lediglich aus der Zuordnung der zur Verfügung stehenden Einzelentscheider zu den prognostizierten Zugangszahlen (00). Ebenso sachgerecht wäre es – im Sinne des Asylgrundrechtes – die Wassermenge des Bodensees in Verbindung zu setzen mit der prognostizierten Anzahl der Bodenseefelchen.« Dann wird geschildert, wie der Druck unterhalb der Präsidentenebene weitergegeben wird: »So forderte uns der hiesige Gruppenleiter, Herr Dr. Bachmann, ausdrücklich in Ihrem Namen auf, in Zukunft kürzere Anhörungen und kürzere Bescheide zu machen, um so die Anzahl der Entscheidungen massiv zu erhöhen.«
Die Statistiken der einzelnen Außenstellen werden benutzt, um auf angeblich zu langsam arbeitende Außenstellen Druck auszuüben. Entscheiderinnen und Entscheider beugen sich, so die Personalräte, dem massiven Druck, um – auf Kosten der Qualität – die geforderte Zahl von Entscheidungen zu erreichen. Die Folge: »Es zeigt sich zwangsläufig, daß ein mangelhafter Bescheid, verbunden mit einer mangelhaften Anhörung (die Anhörung dauerte regelmäßig eine Stunde oder weniger, der Bescheid besteht aus Textbausteinen aus der Zentrale) in einem hohen Umfange vom Gericht aufgehoben wird, verbunden mit einer entsprechenden Kostentragungspflicht des Bundes. (…) Uns steht eine umfangreiche Sammlung solcher »Kurzanhörungen« und »Kurzbescheide« zur Verfügung, die wir Ihnen anonymisiert gerne zur Verfügung stellen. (…) Die von Ihnen geforderten »Kurzanhörungen« und »Kurzentscheide« haben darüber hinaus zur Folge, daß die eigentliche Sachaufklärung den Gerichten überantwortet wird, das Bundesamt mithin seine eigentliche Aufgabe nicht erfüllt.«
Der Freiburger Personalrat attestiert Präsident Dusch weiter, daß er sich auf geradem Wege in die Illegalität befindet. Denn nach dem Asylverfahrensgesetz unterliegen die Einzelentscheider im Einzelfall keinen Weisungen. Auch ihr Chef darf sich deshalb nicht einmischen. Der Personalrat: »Betriebsanweisungen, Einzelverfügungen oder Anordnungen, die zum Ergebnis haben, daß aufgrund des Zeitdrucks eine sachgerechte Prüfung des Einzelfalls nicht mehr möglich ist, verstoßen eindeutig gegen die gesetzlich geschützte Weisungsungebundenheit.« Nach Einschätzung der Gewerkschaft ÖTV erfüllt der Präsident des Bundesamtes mit der verantwortungslosen Erhöhung der Entscheidungszahlen auch andere Vorgaben des Bundesinnenministeriums. Das Bundesamt übernimmt eine Pilotfunktion für den bei anderen Bundesbehörden geplanten Personalabbau. Durch eine knallharte Personalpolitik sollten die Beschäftigten offenbar zu Eigenkündigungen gezwungen werden. Denn die bislang beliebte Übernahme von Bundesamtsentscheidern in den Grenzschutzdienst wird bei 1.000 wegfallenden Stellen kaum möglich sein.