Generic selectors
Nur exakte Ergenisse
Suchen in Titel
Suche in Inhalt
Post Type Selectors

TAG DES FLÜCHTLINGS 1988

Kinder und Jugendliche im Asylverfahren

Klaus Wolken

Weltweit ist jeder zweite Flüchtling ein Kind. Wie hoch in der Bundesrepublik ihr Anteil an der Gesamtzahl der Asylbewerber ist, weiß niemand, da hierüber keine Statistik geführt wird; jedoch kommen in den letzten Jahren minderjährige Flüchtlinge auch verstärkt hierher, hauptsächlich aus dem Libanon, dem Iran, Äthiopien und Afghanistan. Viele von ihnen sind ohne Begleitung ihrer Eltern hier, „unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“, wie sie in der Amtssprache genannt werden. In jüngster Zeit sind es vor allem Kinder aus dem Iran, die von ihren Eltern auf die Flucht geschickt werden, um sie davor zu bewahren, im Krieg gegen den Irak eingesetzt zu werden, ohne militärische Ausbildung an vorderster Front als Minensucher.

Wenn diese minderjährigen Flüchtlinge noch nicht das 16. Lebensjahr vollendet haben, benötigen sie für ihre Einreise in die Bundesrepublik kein Visum, also keine Aufenthaltserlaubnis. Sie stehen unter dem Schutz des „Haager Abkommen über den Schutz Minderjähriger“, das in der Bundesrepublik 1971 als Gesetz in Kraft trat. Hingegen

soll dieser Schutz für Jugendliche, die bei ihrer Einreise älter als 16 Jahre sind, nicht mehr gelten. Sie sind nach dem Gesetz für das Asylverfahren selbst handlungsfähig. Für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge bedeutet das, daß sie keinen Vormund mehr erhalten und in der Regel wie Erwachsene in Sammelunterkünften untergebracht werden, obwohl sie dort wohl kaum die erforderlichen erzieherischen Hilfen erhalten können, auf die sie nach dem Haager Minderjährigenschutzabkommen eigentlich in gleichem Umtang Anspruch hätten wie deutsche Kinder und Jugendliche.

Alle diese Kinder müssen ein eigenes Asylverfahren durchlaufen und eine eigene politische Verfolgung nachweisen, um selbst als Asylberechtigte anerkannt zu werden. Das gilt auch für diejenigen, die sich in Begleitung ihrer Eltern befinden. Sie können sich nicht darauf berufen, daß ihre Eltern möglicherweise als politisch Verfolgte anerkannt sind. Es gibt in der Bundesrepublik kein Familienasyl. Früher hat das Bundesverwaltungsgericht zwar aus dem besonderen Schutz, den das Grundgesetz Ehe und Familie gewährt, den Schluß gezogen, daß die minderjährigen Kinder und der Ehegatte eines Asylberechtigten grundsätzlich auch als Asylberechtigte anerkannt werden sollten (z. B. Urteil vom 29. 4. 1971, Az. I C 42.67). Im Zuge der allgemeinen Verschärfung der Asylrechtsprechung vertritt dasselbe Gericht aber heute die Auffassung, daß die Asylrechtsgewährung eben nicht automatisch auf die Familienangehörigen zu erstrecken sei (Urteil vom 27. 4. 1987, Az 9 C 239.80). Zwar sind sie wegen des grundgesetzlich verankerten Schutzes von Ehe und Familie weiterhin vor einer Abschiebung in ihr Heimatland sicher, dürfen also bei ihren asylberechtigten Familienangehörigen bleiben. Dennoch hat die eigene Nicht‑Anerkennung weitreichende praktische Folgen: so können die nicht‑asylberechtigten Angehörigen eines politisch Verfolgten im Falle seines Todes nicht mehr ohne weiteres mit der Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis rechnen. Weitere Nachteile betreffen z. B. den Zugang zum Arbeitsmarkt und die Ansprüche auf Ausbildungs‑ und Studienförderung. Man sieht daran, daß es hier nicht nur um irgendwelche Statusfragen geht, sondern daß durch die restriktive Rechtsprechung auch auf diesen Gebiet entscheidende Weichen für die Zukunft der betroffenen Kinder und Jugendlichen gestellt werden.

Auch von seiten der Politiker ist hier kaum eine Änderung zum Besseren zu erwarten. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich als Mitglied des Exekutivkomitees für das Programm des Hohen Flüchtlingskommissars 1981 zwar ausdrücklich dafür ausgesprochen, den Familienangehörigen grundsätzlich denselben Rechtsstatus und faktisch dieselben Rechte zu gewähren wie dem als Flüchtling anerkannten Familienoberhaupt. Geschehen ist in dieser Hinsicht seitdem aber noch nichts. Darauf angesprochen, geben die verantwortlichen Politiker nur ausweichende Antworten, dieselben Politiker, die vom Ostblock nachdrücklich die Familienzusammenführung fordern. Die Bundesrepublik Deutschland ist damit das einzige Land in Europa, das den Flüchtlingsstatus nicht auf die engen Familienangehörigen von politisch Verfolgten erstreckt, obwohl doch die Bundesrepublik nach eigenem Bekunden das Land mit dem liberalsten Asylrecht der Welt ist.

Für viele minderjährige Flüchtlinge, die sich in Begleitung ihrer Eltern in der Bundesrepublik aufhalten, wird trotz der Nachteile beim Fehlen einer eigenen Asylanerkennung erst gar kein Antrag gestellt, weil man schon vorher angesichts der für sie schier unüberwindlichen Hürden auf dem Weg zur Asylberechtigung resigniert hat. „Wagt“ man dennoch den Versuch, für einen minderjährigen Flüchtling die für ihn so wichtige Asylberechtigung zu erreichen, so stellt man fest, daß an ihn genauso hohe Anforderungen gestellt werden wie an erwachsene Asylbewerber auch. So lehnte ein Verwaltungsgericht die Asylanträge einer Äthiopierin eritreischer Volkszugehörigkeit und ihrer beiden Kinder, fünf und sieben Jahre alt, mit der Begründung ab, sie könnten ohne weiteres nach Eritrea zurückkehren. Daß sie dort in Gefahr sind, Opfer von Luftangriffen der äthiopischen Armee zu werden, ändert nach Auffassung des Gerichts daran nichts: schließlich handelt es sich dabei um Gefahren im Rahmen eines Bürgerkrieges, der in Äthiopien herrscht. Solchen Gefahren komme aber nach der Rechtsprechung eine asylrechtliche Bedeutung nicht zu. Wie die Frau mit ihren beiden Kindern nach Eritrea kommt, soll ganz allein ihr Problem sein. Eine nach äthiopischem Recht illegale Einreise nach Äthiopien sei ihnen durchaus zumutbar, weil sie zwei Jahre zuvor schließlich auch illegal ausreisen konnten (VG Ansbach, Urteil vom 16. 7. 1987, Az AN 5 K 86.30230). Mit anderen Worten: weil sie einmal die lebensgefährliche Flucht aus Äthiopien unbeschadet überstanden haben, soll ihnen nach der Logik dieses Gerichts auch die genauso lebensgefährliche Rückkehr dorthin zumutbar sein.

Schlecht stehen auch die Chancen minderjähriger Flüchtlinge aus Afghanistan, in der Bundesrepublik Asyl zu erhalten. Zwar droht ihnen nach ihrer Rückkehr nach Afghanistan die Verschickung in die SoR,jetunion oder in ein anderes kommunistisches Land zur „Ausbildung und Erziehung“, deren Ziel es ist, „eine neue, ideologisch gefestigte, disziplinierte und fachkundige Generation heranzubilden“. Das droht aber allen afghanischen Kindern und Jugendlichen und ist deshalb nicht politisch motiviert, sagen die meisten Richter (OVG Münster, Urteil vom 18. z. 1987, Az 20 A 10099/86).

Minderjährige Flüchtlinge aus dem Iran, die als Asylgrund lediglich angeben, daß sie vor dem Krieg geflohen seien, haben ebenfalls kaum Chancen, Asyl zu erhalten. Schließlich sei es das Recht jedes Staates, so auch des Iran, seine Staatsbürger zur Wehrpflicht heranzuziehen, lautet die Argumentation des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge.

Wenn christliche Schüler in der Türkei zur Teilnahme am islamischen Religionsunterricht gezwungen werden, so bedeutet das nach Auffassung der Gerichte nicht, daß ihnen ein Anspruch auf Asylgewährung zusteht. Es stellt keinen Eingriff in den „unverzichtbaren Kern der Religionsfreiheit bzw. Religionsausübung der Kinder“ dar, weil sie weiterhin eine christliche Erziehung durch Kirche und Elternhaus erhalten könnten und man nicht davon ausgehen könne, daß der Religionsunterricht zur gezielten Indoktrination eingesetzt werde (VG Minden, Urteil vom 6. 4. 1987, Az 8 K 10/978/85 und 890/85). Solange die eigene Religion in den eigenen vier Wänden noch ausgeübt werden kann, ist die Religionsfreiheit gewährleistet, lautet die Konsequenz dieser doch sehr verblüffenden Interpretation des Begriffs Religions-„Freiheit“.

Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die Chance auf Anerkennung rin Asylverfahren für minderjährige Flüchtlinge schon aufgrund ihres Alters noch weit geringer ist als für erwachsene Asylbewerber. Sie sind bei einer Nicht‑Anerkennung zwar nicht automatisch von einer Abschiebung bedroht, werden dann aber in der Bundesrepublik nur geduldet, d. h. ihre Abschiebung wird ausgesetzt. Eine einigermaßen menschenwürdige Perspektive für den weiteren ‑ oft langjährigen ‑ Aufenthalt in der Bundesrepublik läßt der Status der Duldung jedoch nicht zu.


Nach oben