Franz Leuninger zum Gedenken
20. Juli 1944
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- Gewerkschaft
- Politik
- Widerstand
- Gefängnis und Tod
- Gedenkfeier
Weil er zum Widerstand
des 20. Juli 1944
gegen Hitler gehörte, wurde
FRANZ LEUNINGER
am 1. März 1945
in Berlin Plötzensee hingerichtet.
Ein Grab ist unbekannt.
Daher sei ihm mit Basalt, dem Westerwälder Vulkangestein, ein virtuelles Denkmal gesetzt.
Sohn Walter (Tondokument )
Alois Leuninger
Franz Leuninger zum Gedenken
20. Juli 1944
Die vorliegende Schrift ist in der Absicht verfaßt, ein Bild von den Lebensbereichen zu zeichnen, denen er entstammt und die ihn geprägt haben. Dazu gehört vor allem das Elternhaus im Westerwald, das ihm die Grundlagen für das Leben vermittelte. Sein Weg führte über den Wanderarbeiter im Baugewerbe hin zum Gewerkschaftssekretär. Er liebte die Freiheit und das Recht, die er auch im politischen Raum zu verwirklichen suchte! Nur in einem kurzen Lebensabschnitt war er infolge seiner beruflichen Tätigkeit in einer sozial gehobeneren Position. Aber auch in dieser Zeit blieb er jener Volksschicht verbunden, der er entstammte und deren Los er so lange trug.
Der Inhalt der Schrift stützt sich, soweit nicht anders erkennbar, auf persönliche Kenntnisse des Verfassers und auf Informationen von Personen, die Franz Leuninger begegnet sind. An dieser Stelle sei allen gedankt, die in liebevoller Weise die Arbeit unterstützten. Nur wenige Namen sind genannt, die aber für alle stehen.
Mengerskirchen, im März 1970.
Der Verfasser
DIE HEIMAT
Land und Leute Mengerskirchen liegt im Südteil des Westerwaldes. Es gehört nicht mehr zu jener Landschaft, die als hoher Westerwald bezeichnet wird, wenn auch seine Gemarkung in nördlicher Richtung zum Teil in sie hineinreicht. Eingebettet in einer Talmulde südlich des Knoten (604 m) ist es Grenzgebiet des Westerwaldes. Weniger als 10 Kilometer Luftlinie trennen es von der Lahn, der natürlichen Grenze zwischen Westerwald und Taunus. Indessen entspricht der Gemarkungsteil am Südhang des Knoten weitgehend dem Landschaftscharakter des hohen Westerwaldes; eine ausgedehnte Viehweide, dicht besät mit Basaltblöcken und Grauwacken, gekrönt durch den ,,Galgenkopf“, einer hohen Klippe aus mächtigen Steinquadern. Ein Drittel der 1078 ha großen Gemarkung ist Wald, der andere Teil, von einigen kleineren Flächen abgesehen, wird landwirtschaftlich genutzt. Der Boden ist allerdings von sehr unterschiedlicher und oft minderer Qualität. Die Gemarkung gab deshalb nicht her, was die 1041 Einwohner, die Mengerskirchen im Jahre 1905 hatte, zum Leben benötigten; zu Ende des Dreißigjährigen Krieges betrug die Einwohnerzahl vielleicht noch zweihundert.
Ehedem muß die wirtschaftliche und soziale Situation in dem großen Marktflecken recht gut gewesen sein, was daraus hervorgeht, daß dort bereits im 18. Jahrhundert ein Arzt ansässig war. Allerdings bekam Mengerskirchen keinen Anschluß an die moderne Industriewirtschaft. Dies hat seine Gründe in der ungünstigen geographischen Lage des Ortes abseits größerer Verkehrswege und dem Fehlen hochwertiger Bodenschätze wie Kohle und Erz. Der Bau der Kerkerbachbahn im Jahre 1908 hatte nur vorübergehend eine geringfügige Änderung der Verhältnisse zur Folge. Nur eine kleine Anzahl Männer fand in der damaligen Zeit Arbeit beim Abbau von Basalt- und Tonvorkommen. Den Abtransport besorgte die Kerkerbachbahn, die auch einen Personenverkehr zur Lahnbahnstrecke durchführte. Bis dahin verkehrte die Postkutsche zwischen Mengerskirchen Weilburg Rennerod, die Personen und Postgut beförderte. Den übrigen Transport besorgten Fuhrleute mit Pferdegespannen.
Mit der starken Bevölkerungsvermehrung, die zu Ende des 17. Jahrhunderts einsetzte, wuchsen auch Armut und Not. Ganz sicher hat man in Mengerskirchen schon sehr frühzeitig versucht, diesen Fakten durch die Schaffung von Verdienstmöglichkeiten entgegenzuwirken. Beweis hierfür ist eine öffentliche Spinnerei, die aber nicht lange bestand, und das Gewerbe der , das bereits um die Mitte des 18. Jahrhunderts von einer größeren Zahl von Handwerkern ausgeübt worden sein dürfte.
Zu Anfang des 20. Jahrhunderts waren zeitweilig bis zu 150 Nagelschmiede in Mengerskirchen tätig. Das Einkommen aus dieser Arbeit war gering. Deshalb gaben mit dem steigenden Bedarf an Arbeitskräften im rheinisch-westfälischen Industriegebiet viele Nagelschmiede ihre ganzjährige Tätigkeit als solche auf und suchten Arbeit vorwiegend im Baugewerbe. Das führte vielfach zur Trennung von der Familie über Monate hinaus. Nur im Winter waren die Männer zu Hause und arbeiteten in dieser Zeit als Nagelschmiede, ebenso wie die Kleinbauern während der arbeitsarmen Zeit in der Landwirtschaft zusätzliches Einkommen durch die Fertigung von Nägeln suchten. Hin und wieder gab es auch noch andere Verdienstmöglichkeiten, wie beispielsweise beim Straßenbau, die jedoch nur kurzfristig waren. In diesem Zusammenhang ist auch noch auf die Konsolidierung der Gemarkung, den Bau der Wasserleitung und Kanalisation in dem letzten Jahrzehnt vor dem ersten Weltkrieg hinzuweisen. In den Wintermonaten waren Kleinbauern als Holzfäller im Gemeindewald beschäftigt.
Aber die Existenzgrundlage des überwiegenden Teils der Bevölkerung waren die Landwirtschaft, die Tätigkeit der Männer als Bauarbeiter in der Fremde und das Nagelschmiedegewerbe.
Gewiß war der Verdienst gerade der Nagelschmiede gemessen an der Leistung gering, aber die Arbeit brachte Bargeld, an dem es meistens mangelte. Es hat Zeiten gegeben, in denen in einer Winterarbeitswoche in Mengerskirchen 1,2 Millionen Schuhnägel geschmiedet wurden. Das dürfte einen Gesamtwochenverdienst der Nagelschmiede von etwa 1500 Mark ergeben haben. Wenig genug, denn es entfielen auf den einzelnen Nagler im Durchschnitt etwa 10 Mark. Wesentlicher war das, was die Bauarbeiter in der Fremde von ihrem Lohn für die Familie erübrigten.
Die Kleinbauern hatten mitunter auch dadurch einen kleinen Nebenverdienst, daß sie für Familien, die kein eigenes Fuhrwerk besaßen, einige Äcker mitbestellten. Man nannte sie ,,Äckermänner“. Eine kleine Begebenheit möge auch zeigen, wie man Bargeld schätzte: Der Vater des Verfassers übernahm von einem befreundeten jüdischen Viehhändler den Auftrag, mit seinem eigenen Kuhgespann einen Bauernwagen von Mengerskirchen nach dem etwa 12 km entfernten Steinbach zu bringen. Hierfür bekam er 3 Mark. Franz damals etwa 12 Jahre alt machte die Fahrt mit, zu der man mehr als 6 Stunden benötigte. In Steinbach nahmen der Vater und er einen kleinen Imbiß für 25 Pfennige zu sich, der aus einem Glas Bier und zwei Portionen trockenen Brotes bestand. So verblieben als Entgelt für den aufwendigen und strapaziösen Auftrag 2,75 Mark, wobei noch zu berücksichtigen ist, daß die Kühe, wegen des langen Weges, am Abend weniger Milch gaben als sonst.
Das Bild der Landschaft wurde durch den bäuerlichen Kleinbetrieb geprägt. Mehr als 150 Kleinbauern mühten sich auf der Scholle um Nahrung für ihre meist großen Familien. Von einigen Ausnahmen abgesehen, erfolgten Bestellung und Ernte mit einem Gespann von 2 Kühen. Bauernwagen, Ackerpflug und Nebengeräte wurden von den ortsansässigen Handwerkern hergestellt. Als Nahrungsmittel spielte die Kartoffel eine große Rolle. Ihr Anbau war weniger risikoreich als der anderer Erzeugnisse, und der Ertrag sicherte weitgehend die Ernährung der Familie. Anbau, Bearbeitung und Ernte der Kartoffel waren mühsam und erforderten viel menschliche Arbeitskraft. So erfolgten Jäten, Ausgraben, Auflesen und Versacken von Hand.
Wesentlich war dabei die Möglichkeit des Einsatzes von Frauen und Kindern. Größere Familien mit eigener Landwirtschaft kellerten – je nach Ernteertrag – 50 bis 100 Sack Kartoffeln ein, wovon ein geringer Teil als Viehfutter verwertet wurde. Die Kartoffel hatte gegenüber anderen Produkten den Vorteil, daß sie im Haushalt auf vielseitige Weise verwendbar war. Nicht unerheblich war auch der Getreideanbau. Roggen und Gerste dienten als Brotgetreide und Hafer als Viehfutter. Das Abernten erfolgte von Hand mit einfachen Geräten. Vereinzelt gab es noch die ,,Schnitterin“ im wörtlichen Sinne, welche mit der Sichel das Getreide schnitt. Dies ist wohl die älteste Art des Erntens mit einem Gerät und war sehr mühsam, schützte aber vor Verlusten an Körnern. In selteneren Fällen wurde die Gerste gerupft, wenn wegen des niedrigen Wuchses die Wurzel am Halm bleiben mußte. Der Getreideausdrusch erfolgte meistens mit dem Dreschflegel. Die oft geringen Ernteerträge beruhten nicht nur auf der Bodenbeschaffenheit, sondern auch auf ungenügender Düngung und unzureichender Bearbeitung. Der letztere Umstand war nicht selten auf das schwache Kuhgespann zurückzuführen, das in seiner Leistung beschränkt war. Vielfach ließ aber auch die geringe Höhe der Ackerkrume eine ausreichende Bearbeitung nicht zu.
Die vielen Wiesen in der Gemarkung mit unterschiedlichen Erträgen lieferten Heu und Grünfutter. Das Gras wurde mit der Sense und später vereinzelt mit der Mähmaschine gemäht, während die Bearbeitung des Heues und das Einbringen mit den althergebrachten Geräten wie seit urvordenklichen Zeiten erfolgte. Hierbei spielte die Frauen- und Kinderarbeit wiederum eine große Rolle. Die Schulferien fielen in die Heuernte. Während der heißen Sommertage mußten alle viel Arbeit leisten. Die Mäher und Mäherinnen begannen ihr Tagewerk vielfach schon vor Sonnenaufgang. Mit dem Vormarsch der Technik – auch in der Landwirtschaft – nach dem ersten Weltkrieg, fanden -wenn auch wegen der vielen Kleinbetriebe zunächst nur vereinzelt – Maschinen Verwendung.
Für die Viehhaltung war die Viehweide auf dem Knotengelände entscheidend. Die zwar nicht sehr ergiebige Grasnarbe gab in den Sommermonaten doch mehr als 300 Kühen, Rindern und
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Ziegen Nahrung. Der geringe Hütelohn für den Kuhhirten mit einem Hütejungen und zwei Hunden, der teilweise in Naturalien bestand, wurde von den Viehbesitzern aufgebracht.
Bis über das Jahr 1920 hinaus waren die Haushaltungen in Mengerskirchen – soweit man eine Landwirtschaft betrieb – in größtem Maße Selbstversorger. Das Brot kam nicht vom Bäcker, sondern man stellte es selbst her von dem Mehl des eigenen Getreides, das von einer der Mühlen unterhalb des Seeweihers gemahlen worden war. Der Fettversorgung diente die Hausschlachtung. Hierfür standen der Familie ein oder auch zwei Schweine zur Verfügung. Frischfleisch und Wurst aus der Metzgerei gab es in vielen Familien nur, wenn die Hausschlachtung aufgebraucht war, und dann auch nur an Sonn- oder Feiertagen. Milch, Butter und Eier entstammten ebenfalls der Eigen-erzeugung. Doch gestatteten die Verhältnisse in der Regel nicht einen Verbrauch, der dem echten Bedarf der Familie entsprochen hätte. Vielmehr mußte von den vorgenannten Erzeugnissen für den Verkauf manches abgespart werden. Zwar brachte ein halbes Dutzend Eier vielleicht nur einen Erlös von 30 Pfennigen, und die Butterfrau, welche die Butter in einem Korb zu ihren Kunden nach dem 16 km entfernten Weilburg trug, zahlte der Bäuerin nur 80 bis 90 Pfennig für das Pfund, aber es war Bargeld, das die Hausfrau in die Hand bekam und wenn es auch nur nach Pfennigen zählte.
Aber auch in anderen Bereichen warfen die kleinbäuerlichen Betriebe kaum Bargeld ab. Was waren schon die 20 Mark, die der Verkauf eines Kalbes brachte, oder die hundert Mark für ein fettes Schwein? Dabei handelte es sich ohnedies um seltene Vorgänge im Laufe eines Jahres, ganz zu schweigen von dem noch selteneren Absatz eines Stück Großviehes. Mit solchen Bareinkünften waren die Ausgaben für Kleidung und Schuhwerk nur ungenügend zu decken. Für anderes blieb kaum etwas übrig. Zucker kaufte man in Mengen von einem halben Pfund und das Leuchtpetroleum halbliterweise. Nicht selten waren kinderreiche Kleinbauern verschuldet und ihre Anwesen mit Hypotheken belastet. Solche Verschuldungen entstanden meist durch Krankheit in der Familie oder ein Unglück im Viehstall. Durch derartige Umstände gerieten sie mitunter in die Hände gewissenloser
Viehhändler und Kreditgeber. Dieser Zustand änderte sich erst mit der Verbreitung öffentlicher Spar- und Kreditkassen.
Mengerskirchen war in früherer Zeit ein befestigter Ort mit einer mit sieben Türmen und drei Toren versehenen Ringmauer. Hiervon war weitgehend das Ortsbild bestimmt, denn der Raum für die Errichtung von Wohnhäusern und Wirtschaftsgebäuden war durch die Mauer äußerst begrenzt. Als die Befestigung noch militärische Bedeutung hatte, und das dürfte noch über die Zeit des Dreißigjährigen Krieges hinaus gewesen sein, war innerhalb der Ringmauer wohl ausreichend Platz für die Wohnhäuser der damaligen Bevölkerung. Dagegen reichte es nicht für die etwa 40 Scheunen, die außerhalb errichtet werden mußten. Diese Scheunen sind sehr alt, denn auf dem Querbalken einer solchen (am Friedhof) ist die Jahreszahl 1608 angebracht. Mengerskirchen war nämlich im Mittelalter zeitweilig eine Umspannstation an der Straße Frankfurt-Köln, die über den Knoten führte. Das bedingte einen verhältnismäßig großen Pferdebestand und entsprechende Vorräte an Heu und Futtergetreide, die vorwiegend in diesen Scheunen untergebracht wurden. In den nachfolgenden Zeiten teilten sich mitunter vier Kleinbauern in eine solche Scheune.
Noch lange war aber der Raum innerhalb der Ringmauern trotz der Bevölkerungsvermehrung das Wohngebiet von Mengerskirchen. In engen Straßen und Gassen mit Ausnahme der Hauptstraße und dem Gelände um Schloß und Kirche standen die Häuser in Reihen eng aneinandergeschmiegt, vereinzelt unterbrochen durch einen ,,Alen“ Durchlaß. Die meisten glichen sich in der Architektur, der Größe und Raumeinteilung; sie waren zweistöckig. Im Erdgeschoß lag der lange, schmale Hausflur, ,,Ern“ genannt, der sich nach hinten verbreiterte und meistens als Küche diente, mitunter aber auch noch die Nagelschmiede beherbergte. Neben dem ,,Ern“ lag die große Stube, die Wohnzwecken diente und in der Regel auch Elternschlafzimmer war. Im oberen Stockwerk befanden sich noch ein oder zwei Kammern. Im Keller brachten viele Kleinbauern, wegen des Platzmangels bei den Wohnhäusern, ihre Kühe, Schweine und Hühner unter.
Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war offensichtlich die Bautätigkeit in Mengerskirchen gering. Die Errichtung von Wohnhäusern außerhalb der Ringmauer erhielt offenbar Impulse durch den Bau der sogenannten ,,Freiheitshäuschen“ auf dem Damm. Diese waren einstöckig und besaßen teilweise neben dem geräumigen ,,Ern“ nur eine größere Stube. Im Zusammenhang mit dem Revolutionsgeschehen im Jahre 1848 soll der Landesfürst das Bauholz dazu geliefert haben. Durch die enge Bebauung des Ortes wohnte die Bevölkerung nahe an Kirche und Schule, und der große Brunnen in der Ortsmitte erleichterte ihr die Wasserversorgung. Im Rahmen der Konsolidierung während der letzten Jahre vor dem ersten Weltkrieg kam es zu einer entscheidenden Ausdehnung des Wohngebietes infolge von elf neuen Durchlässen durch die Bereiche, die den Ortskern umschlossen.
Inwieweit eine landesherrliche Verordnung aus dem 18. Jahrhundert, die sich mit dem Wohnungsbau beschäftigte, in Mengerskirchen wirksam wurde, läßt sich nicht sagen. Sie verbot die Erbauung neuer Häuser gänzlich, ,,weil das Holz rar wird und die Leute nur bauen, um ihren Kindern, die kein Handwerk wissen und auch keinen Ackerbau haben, wenigstens Wohnungen zu hinterlassen, wodurch auch viele, die auswärts etwas lernen könnten, im Land bleiben“. Im Grunde genommen hat der Landesherr damals das Problem der Übervölkerung im Westerwald richtig erkannt.
In einem Schulbuch – ,,Geographie“ genannt – das noch nach der Jahrhundertwende benutzt wurde, heißt es: ,,Der Westerwald ist eine durchaus arme Gegend; aber die Bewohner sind genügsam und zufrieden mit ihrer Lage.“ Dieses Zitat wird der Situation nicht gerecht. Bezeichnender noch ist für den Westerwälder nämlich Fleiß und Strebsamkeit.
Trotz der beengten wirtschaftlichen Situation der Leute von Mengerskirchen war es einigen wirtschaftlich etwas besser gestellten Familien möglich, Kinder zur höheren Schule zu schicken und sie sogar vereinzelt akademischen Berufen zuzuführen. Die größere Zahl davon waren Theologen. Viele Frauen widmeten sich dem Ordensberuf. Daneben gab es eine ganze Reihe von Lehrern, Ingenieuren und Ärzten, von denen einige Spitzenpositionen erreichten. Die Fälle sind nicht vereinzelt, in denen Volksschüler später aus eigener Kraft auf Grund ihrer Zielstrebigkeit in qualifizierte Berufe aufstiegen. Hierzu gehören insbesondere die vielen Männer, die sich vom Bauhilfsarbeiter zum Polier und Oberpolier emporarbeiteten. Außerdem verdienen genannt zu werden die sieben Männer, welche in den letzten drei Jahrzehnten vor 1933 als Gewerkschaftssekretäre tätig waren. Bezeichnenderweise gehörten sie alle dem Zentralverband christlicher Bauarbeiter Deutschlands“.
In den Jahren, über die hier berichtet wird, lag die Zeit der großen Not für Mengerskirchen. Sie dauerte mit kurzen Unterbrechungen über 30 Jahre. Ihr Beginn war der Ausbruch des ersten Weltkrieges im August 1914 und der Höhepunkt der Zusammenbruch Deutschlands im Jahre 1945. Etwa 180 Bürger aus Mengerskirchen mußten im ersten Weltkrieg Kriegsdienst leisten. Viele davon starben den Soldatentod, andere kehrten als Krüppel zurück, und diejenigen, die in Kriegsgefangenschaft geraten waren, sahen mitunter die Heimat erst lange nach Kriegsende wieder.
Fünfundfünfzig Namen verzeichnet die Tafel an der Gedächtnisstätte auf dem Friedhof von Männern, die gefallen, vermißt oder an den Folgen des Krieges gestorben sind. Doppelt so viel Namen der Toten des zweiten Weltkrieges stehen an der gleichen Stelle, worunter auch diejenigen sind, deren Angehörige in Mengerskirchen nach ihrer Vertreibung eine neue Heimat gefunden haben. Vor soviel Leid verblaßt die materielle Not, welche die Bevölkerung in beiden Kriegen vorwiegend durch den Mangel an Nahrung und Kleidung tragen mußte. Während des zweiten Weltkrieges überflogen feindliche Bomber verschiedentlich in großer Zahl Mengerskirchen. Einzelne abgeworfene Bomben fielen außerhalb des Ortes und richteten nur geringfügige Schäden an.
Doch auch während der Zeit, die zwischen den zwei großen Weltkriegen lag, herrschte zeitweilig große Not unter den Menschen von Mengerskirchen. Hier ist vor allem die Arbeitslosigkeit zu nennen, die Ende der zwanziger Jahre begann und bis in die dreißiger Jahre hinein dauerte. Davon wurden besonders
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die Bauarbeiter betroffen. Welche Ausmaße die Arbeitslosigkeit damals hatte, bezeugt die Tatsache, daß am 1. Mai 1931, also in der Bausaison, über 700/o der Mitglieder der Verwaltungsstelle Limburg des christlichen Bauarbeiterverbandes arbeitslos waren, davon 430/o ausgesteuert und somit keinen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung mehr hatten. In Mengerskirchen suchte man durch die Durchführung von Notstandsarbeiten dem Übel zu steuern. So erfolgten beispielsweise Meliorationsarbeiten auf der Knotenviehweide und der Ausbau der Straße über den Knoten nach Mademühlen – ehedem ein Teil der Straße Frankfurt-Köln. Fünfzehn Mark Lohn wöchentlich erhielt dabei ein verheirateter Arbeiter.
Der Höhepunkt der Notzeit begann mit der Machtübernahme im Jahre 1933 durch Hitler. Für Mengerskirchen begann sie mit leidvollen Tagen, über die aber an anderer Stelle berichtet wird.
in der Gemeinschaft
„In der Familie leben ja die Menschen zusammen in jener engen Lebensgemeinschaft, die durch die Bande des Blutes, die Bande gemeinsamer Erziehung, gemeinsamer Sorgen und Nöte, gemeinsamer Liebe und Treue den Menschen Heim und
Heimat gibt.“ (Bischof Ferdinand Dirichs)
In der Landschaft und unter den Leuten von Mengerskirchen lebte der Kleinbauer und Nagelschmied Weinand Leuninger mit seiner Familie. In beengten wirtschaftlichen Verhältnissen, wie die meisten anderen. Im Jahre 1894 wurde die Familie gegründet. Gering war Hab und Gut, das beide Elternteile in die Ehe einbrachten.
Ursprünglich dienten als Wohnung zwei kleine gemietete Zimmer, mit einer bescheidenen Ausstattung. Aber die Eltern waren strebsam. Der Vater arbeitete als Nagelschmied und bebaute gemeinsam mit der Mutter zunächst einige Äcker. Noch in Miete wohnend, brachten sie es zu einem kleinen Viehbestand. Indessen reichte die Wohnung für die größer werdende Familie
nicht mehr aus. Durch den Erwerb des recht geräumigen ehemaligen jüdischen Gemeindehauses auf dem Damm war dem abgeholfen. Als das Haus bezogen wurde – es war kurz nach Auflösung der kleinen jüdischen Gemeinde – befanden sich an den Türpfosten noch Kapseln, ,,Mezuza“ genannt, in denen von den Juden winzige Schriftrollen mit Bibelstellen und dem Namen Gottes aufbewahrt wurden. Zunächst war noch das große Zimmer im oberen Stockwerk, das ehedem der jüdischen Gemeinde als Bet- und Versammlungsraum diente, für fünf Mark im Monat an einen Schneider vermietet, der gleichzeitig Nachtwächter des Ortes war.
Das Hausgrundstück, im Schatten von Schloßburg und Kirche liegend, bot räumlich gute Ausdehnungsmöglichkeiten. Der Vater konnte eine Nagelschmiede für mehrere Nagler einrichten, und es ermöglichte auch die Vergrößerung des landwirtschaftlichen Betriebes. Mittlerweile wuchs die Zahl der Kinder. Franz, das drittälteste Kind von insgesamt neun, wurde im Jahre 1898 geboren.
Mit alledem wuchsen auch die Arbeitslast und die Sorgen der Eltern. Neben der Arbeit in der nun größeren Landwirtschaft übte der Vater noch immer sein Handwerk aus, und die Mutter versorgte das große Hauswesen. Es war so unumgänglich, daß die älteren Kinder, auch wenn sie noch die Schule besuchten, ihnen gemäße Arbeiten im Haushalt und in der Landwirtschaft verrichteten. An dem hierzu nötigen guten Willen und Fleiß ließen sie es nicht fehlen. Sie trugen so die Verantwortung für die Existenz der Familie mit, soweit es von ihnen zu erwarten war.
Schulprobleme gab es in der Familie nicht, denn die Begabung reichte bei allen Kindern so weit, um solche nicht aufkommen zu lassen. Es fehlte aber an den materiellen Voraussetzungen, um einem der Kinder den Besuch einer höheren Schule zu ermöglichen.
So unkompliziert wie das Verhältnis zur Schule war auch das Verhältnis zu Religion und Kirche. Alle fügten sich gut in die Ordnung, die vom Elternhaus her gesetzt war. Hier herrschten feste religiöse Grundsätze. Das gemeinsame Tischgebet wurde nie versäumt, und der Besuch der Gottesdienste war durch unumstößliche Regeln geordnet. Zu Kirche und Schule waren es nur wenige Schritte über eine primitive Treppe, welche über die Reste der alten Stadtmauer führte. Die sechs Buben der Familie waren alle Meßdiener und führten dieses Amt gewissenhaft aus. Über all dies hinaus respektierte man religiöses Brauchtum. Da war das gemeinsame Gebet zum Angelusläuten und in der Fastenzeit das allabendliche Beten des Rosenkranzes im Wohnzimmer – an der Bank und an den Stühlen knieend. Diese Haltung entsprach nicht nur der religiösen Einstellung, sondern auch dem Begehren, durch das Gebet Sorgen und Not von der Familie abzuwenden oder sie doch meistern zu können. Und ihrer waren gar oft nicht wenige.
In späteren Jahren führte Franz einmal ein Gespräch mit einer jungen Frau, die dem Wert des Gebetes keine Bedeutung beimessen wollte. Er widersprach ihr und schilderte dabei, wie er als ganz junger Mensch am Bau Steinträger gewesen und wie schwer ihm diese Arbeit mitunter geworden sei. Wenn ihm dabei die Kräfte zu versagen drohten, habe er manchmal auf einer Sprosse der Leiter, die er mit den schweren Steinen zu ersteigen hatte, angehalten und ein kurzes Gebet verrichtet, dann sei es wieder weitergegangen.
Christentum wurde indessen nicht nur im Gebet, sondern auch anders praktiziert. Vor allem an den in Not befindlichen Mitmenschen. Zwar standen hierfür nur beschränkt materielle Mittel zur Verfügung. Aber für die, welche noch weniger hatten, reichte es immer noch zu einer bescheidenen Gabe. Es waren dies nicht nur Bettler und die Menschen, die in Kriegszeiten besonderen Mangel an Nahrung litten, sondern auch viele andere.
Die Autorität der Eltern galt viel in der Familie. Das beeinträchtigte jedoch nicht die tiefe Zuneigung zwischen ihnen und den Kindern. Man begegnete sich in uneingeschränktem Vertrauen zueinander. Dementsprechend war die familiäre Atmosphäre. Alle mühten sich, einander zu erfreuen. Am Weihnachtsfest sorgte der Vater für den Christbaum, der noch nicht in allen Familien selbstverständlich war. Die Mutter war darauf bedacht, für jedes Kind ein kleines Geschenk zum Fest zu haben; eine bunte Tasse, ein bebildertes Taschentuch, ein Wollschal und ähnliches. Einmal erstand der Vater ein ungewöhnlich großes Schaukelpferd in Hachenburg, das er viele Kilometer weit auf den Schultern nach Hause brachte.
Indessen war das Bedürfnis, durch Geschenke Freude zu bereiten, in der Familie nicht einseitig auf die Eltern beschränkt. Eine besondere Gelegenheit hierzu bot sich den Kindern jeweils am Namenstag der Mutter. Einmal sprengten hierbei die drei ältesten, aber noch schulpflichtigen Kinder – zu denen auch Franz gehörte – den Rahmen. Sie sammelten Schwarzdornschlehen, die sie an den Apotheker verkauften. Mit dem Erlös erstanden sie für die Mutter ein Paar warme Schuhe für den Winter, zu dem damals ungewöhnlich hohen Preis von 13,50 Mark. Aber die Leistung der Kinder war auch ungewöhnlich, denn sie hatten dreieinhalb Zentner Schlehen gesammelt.
Im Ablauf des Familiengeschehens ereignete sich im Grunde genommen nichts Außergewöhnliches. Aber alle Bereiche wurden sorgfältig gepflegt. Das traf auf das Bemühen der Eltern um eine ausreichende materielle Existenz der Familie zu, ebenso wie auf die Erziehung der Kinder und das Zusammenleben. Von nachhaltigem Einfluß ist dabei sicherlich das religiöse Klima gewesen. Dieses war nicht gezeichnet durch enge puritanische Strenge, sondern es bestand in einer aufgeschlossenen christlichen Lebensauffassung.
Franz war ein geistig sehr aufnahmefähiger und aufnahmebereiter Junge. Aber er betrachtete seine Umwelt schon frühzeitig kritisch. Daraus entwickelte sich ein gutes Verhältnis zu seinen Eltern und Geschwistern. Er nahm inneren und äußeren Anteil an dem Leben eines jeden einzelnen Familienmitgliedes. Zahlreich sind die Sorgen und oft schwer das Leid in einer großen Familie. Er konnte gar nicht anders, als tragen helfen, ganz gleich, wen es traf und wie es traf. In unvergleichlicher Weise trug schon der Knabe auf seinen schwachen Schultern mit an den Sorgen der Eltern, denen er Stütze bis zu deren Lebensende war. Beim Heimgang der Mutter richtete er den Vater in seinem Schmerze mit folgenden Worten auf: ,,Nun ist unsere gute Mutter tot. Das darf Dich nicht niederdrücken. Wir wollen an die Verstorbene so lieb und gut denken, wie sie zu Lebzeiten zu uns war, aber Du mußt leben… Wir brauchen Dich, unseren Vater, noch sehr lange.“ Mit Dankbarkeit und Freude erfüllte ihn aber auch die Liebe, die seine Eltern und Geschwister ihm entgegenbrachten. Allen ist er gut gewesen, und keines hat auf seinen Rat und seine Unterstützung verzichten müssen. Ein jedes war seiner Anteilnahme gewiß, ganz gleich, ob es sich um das schwerkranke Kind des Bruders handelte oder um das Leid der Schwester um den im Krieg vermißten Sohn. Gerade der letzte Krieg brachte viel Sorgen in die Familie.
Franz war der erste von sechs Söhnen, der aktiv am Kriegsgeschehen teilnehmen mußte. Hierüber schreibt er von sich: ,,Ich wollte gerne die schwere Last des Soldatseins auf mich nehmen, wenn ich dadurch meine Brüder vor diesem Geschick bewahren könnte.“ Er aber wurde entlassen, und andere Brüder mußten Soldat werden. Wie hat er mit diesen die Härte des Soldatenlebens empfunden! Dem während des Weihnachtsfestes 1943 in Rußland fern von Frau und Kindern weilenden Bruder schreibt er: ,,Ich werde an Dich denken und Dich rufen, wenn wir unter dem Weihnachtsbaum stehen.“ Und dem gleichen Bruder, der kurze Zeit später Hab und Gut bei einem Fliegerangriff verlor, gibt er die Versicherung: ,,Wenn wieder einmal normale Zeiten sind, wirst Du nicht weniger haben, wie Du vorher gehabt hast. Dafür stehe ich!“
Die Achtung vor der Menschenwürde zeichnete Franz aus. Sie ergab sich für ihn aus der Kindschaft Gottes und war Richtschnur seines Handelns gegenüber dem Nächsten. Ohne Unterschied in der Person versuchte er, den Bedürftigen und Notleidenden Freund und Helfer zu sein. Aus dem Polenfeldzug
– den Franz aktiv mitmachte – schrieb er: ,,Viel Not und Elend sah ich in diesem Krieg. Ich habe überall geholfen, wo ich nur konnte und soviel ich konnte.“ Zwei Begebenheiten mögen seine soziale Haltung noch deutlicher machen. In Breslau fuhr er eines Tages mit der Straßenbahn. Da fiel ihm eine Frau auf, die offensichtlich starke körperliche Beschwerden hatte. Bei näherer Beobachtung und durch Befragen stellte er fest, daß die Frau unmittelbar vor ihrer schweren Stunde stand und in ein Krankenhaus wollte. An der nächsten Haltestelle hieß er sie aussteigen, besorgte ein Taxi, half der Frau beim Einsteigen, wies den Fahrer an, sie zum Krankenhaus zu bringen, und beglich sogleich die Fahrtkosten. Einmal erlebte er aber auch eine große Überraschung. Wie schon öfter hatte er einen bedürftigen Mann von der Straße zum Mittagessen mit in die Wohnung gebracht. Als derselbe gegangen war, mußte Franz feststellen, daß seine Brieftasche, die sich in seiner Jacke in der Garderobe befunden hatte, mit dem Gast verschwunden war. Ein solcher Vorgang konnte ihn aber nicht in seiner Haltung beeinträchtigen.
Der Gewerkscha/tssekretär
Für Franz Leuninger waren die Gewerkschaften bereits ein Begriff, als er noch im schulpflichtigen Alter stand. Im Jahre 1910 kam es im Baugewerbe zu einem Arbeitskampf von ungewöhnlichen Ausmaßen. Über die am 31. März desselben Jahres auslaufenden Regelungen der Lohn- und Arbeitsbedingungen waren schon vorher zwischen den Tarifpartnern ergebnislose Verhandlungen geführt worden. Über 30 Streitobjekte, worunter der Lohn und die Arbeitszeit die Hauptrolle spielten, standen im Gespräch. Bei den Auseinandersetzungen entstand, hervorgerufen durch das Verhalten der Arbeitgeber, der Eindruck, es gehe diesen schlechthin um eine Schwächung der Gewerkschaften. Die Arbeitgeber stützten sich auf ihre Organisation mit 22 000 Mitgliedern, die rund 350 000 Arbeiter beschäftigten. Aus dieser Machtposition leiteten sie ihr Recht auf Ablehnung der gewerkschaftlichen Forderungen her. Die Öffentlichkeit befürchtete einen harten Arbeitskampf. Erstmalig schaltete sich in ein solches Geschehen die kaiserliche Regierung ein, die zu vermitteln versuchte. Die Arbeitgeber indessen zeigten sich unnachgiebig und beschlossen am 15. April die Aussperrung, unter die 150 000 bis 200 000 Bauarbeiter fielen. Hiervon wurde Mengerskirchen mit seinen vielen Bauarbeitern in besonderem Maße in Mitleidenschaft gezogen. Der größte Teil von ihnen kehrte aus der Fremde in die Heimat zurück und war – soweit organisiert – auf die karge Streikunterstützung angewiesen. Der älteste Bruder von Franz, gerade aus der Schule entlassen, konnte, entgegen seiner Absicht, keine Arbeit im Baugewerbe aufnehmen. Die Heimatgemeinde schaffte durch Wegebaumaßnahmen Arbeitsmöglichkeiten für die ausgesperrten Bauarbeiter, um so die Not derselben abzuschwächen. In der Hauptsache waren Steine zu klopfen. Franz half seinem älteren Bruder bei dieser Arbeit nach Ende des Schulunterrichts. Die zu zerkleinernden Steine für den Schotter mußten von den Arbeitern zusammengetragen werden. Für den Kubikmeter Schotter zahlte der Unternehmer 3,50 Mark. Das war eine äußerst geringe Bezahlung. Franz und sein Bruder brachten es bei intensiver Arbeit von fast zwei Monaten auf einen Gesamtlohn von 7 Mark. Dabei mag mitgespielt haben, daß sie 12 und 14 Jahre alt waren. Aber das konnte es nicht allein sein. Es ist nicht auszuschließen, daß die Aufmaße fehlerhaft waren.
So empfand schon der Volksschüler unmittelbar, welche Wertung menschliche Arbeitskraft zu jener Zeit erfuhr, denn letztlich ging es bei der Aussperrung um dieses Problem. Lohn nach ,,Leistung“ mit der Unterscheidung des ,,gelernten tüchtigen Gesellen“ und ,,geübten tüchtigen Bauhilfsarbeiters“. Der Arbeitgeber wollte bestimmen, wann diese Voraussetzungen vorlagen und er dadurch in der Lage war, im Einzelfall den Lohn willkürlich festzusetzen. Die Arbeitszeit sollte nicht weniger als 10 Stunden werktäglich betragen. In den Tagen des Kampfes trat auch die Forderung nach Einschränkung der Koalitionsfreiheit auf. Der Kampf nahm an Härte zu. Andere Wirtschaftszweige wurden in Mitleidenschaft gezogen. Öffentlichkeit und Behörden nahmen unterschiedlich Stellung zur Aussperrung. Die Schwierigkeiten mehrten sich und führten dazu, daß sich Unternehmer an die Regierung und Arbeiterfrauen an den Kaiser wandten. Zu jener Zeit betrug der Maurerstundenlohn in Hamburg 85 Pfennig, in der Umgebung von Breslau 32 bis 33 Pfennig und der Bauhilfsarbeiterlohn in Stuttgart 40 Pfennig.
Die Arbeitskampfparteien waren unnachgiebig. Gewerkschaften und Arbeiter vollbrachten große Leistungen. Gewerkschaftssekretäre verzichteten auf Teile ihrer Gehälter, arbeitende Gewerkschaftsmitglieder leisteten hohe Sonderbeiträge, und die Streikenden selbst mußten sich mit einer bescheidenen Streikunterstützung, die je nach Beitragshöhe, Familienstand und Dauer der Mitgliedschaft zwischen 6 und 18 Mark wöchentlich betrug, begnügen. Die Bemühungen der Reichsregierung führten schließlich zu einer Einigung. Am 18. Juni wurde die Aussperrung beendet. Diese Auseinandersetzung hatte die Gewerkschaften annähernd 9 Millionen Mark gekostet.
Noch nicht 14 Jahre alt, wurde Franz Leuninger Bauhilfsarbeiter. Es ist verständlich, daß er sich dann auch gleich den Gewerkschaften anschloß. Dabei mag das Erlebnis des geschilderten Arbeitskampfes mitgewirkt haben. Mehr aber sicher noch das eigene Erleben in der Welt der Arbeit. Seinen Eintritt in diese Welt und das, was ihm dort in den ersten Monaten widerfuhr, schildert sein älterer Bruder: ,,Im Dezember 1912 wurde ich 15 Jahre alt. Franz war 2 Jahre jünger. Ich arbeitete damals als Hilfsarbeiter im Baugewerbe und schmiedete im Winter Schuhnägel. Im Frühjahr nahm ich wieder die Arbeit am Bau auf, und zwar in Remscheid. Mit Franz hatte ich abgesprochen, daß er nach seiner Schulentlassung nachkommen könne. Er nahm jedoch zunächst eine Hilfsarbeit beim Feldwegebau in Mengerskirchen an. Da ihm der hierfür gezahlte Stundenlohn von 21 Pfennig zu niedrig war, gab er die Arbeit auf und meldete mir kurzfristig sein Kommen in Remscheid an. Ich geriet dadurch in Schwierigkeiten, weil es mir nicht gelingen wollte, Arbeit für ihn zu finden. Nach langem ,,Betteln“ fand ich dann doch einen Arbeitsplatz. Dort sollte Franz den Wasserschlauch beim Betonmischern halten, Kaffee kochen, Botengänge machen und anderes mehr. Ich brachte ihn am ersten Tag zu seiner Baustelle. Abends traf ich ihn wieder ,,im Logis“. Die Unterkunft bestand aus 2 schrägen durchgehenden Dachzimmern für 6 Mann. Franz saß vor dem Tisch und weinte laut, sein Gesicht war so verweint, daß ich ihn fast nicht erkannte. ,Ich mußte Zement tragen und schaufeln‘, sagte er. Aber das war sicher nicht die Ursache für seinen Kummer, sondern das Heimweh. Die folgenden Tage verliefen normal. Aber als ich am Lohntag heim kam, spielte sich die gleiche Szene ab wie am ersten Tag. Er hatte nur 20 Pfennig Stundenlohn erhalten. Ich bat am nächsten Tag den Arbeitgeber, Franz doch wenigstens 25 Pfennig die Stunde zu zahlen, und wenn er das nicht könne, solle er mir 5 Pfennige abziehen und sie ihm mehr geben. Franz war damals ein kleiner Kerl. Beim nächsten Lohntag bekam er dann doch 25 Pfennig Stundenlohn, ohne daß mir etwas abgezogen worden war.
Auf mein Anraten hin wurde Franz in den späteren Wochen wiederholt bei dem Arbeitgeber wegen weiterer Lohnerhöhung vorstellig und erreichte, daß sein Lohn nach und nach auf 40 Pfennig die Stunde aufgebessert wurde. Zu diesem Zeitpunkt war er dreizehneinhalb Jahre alt.
Franz wollte aber mehr verdienen. Deshalb wechselten wir im Spätsommer den Arbeitgeber. Ich bekam schon immer den vollen Hilfsarbeiterlohn von 53 Pfennigen die Stunde. Als der neue Arbeitgeber sich weigerte, Franz den gleichen Lohn zu zahlen, stellte der Polier diesen vor die Wahl, entweder Franz 53 Pfennig zu geben oder er, d.h. der Polier, werde kündigen. Beim Auslaufen der Arbeit auf der betreffenden Baustelle wurden 800/o aller Beschäftigten entlassen, Franz war aber bei denjenigen, die bleiben konnten. Er war ein geschickter und arbeitswilliger Junge. Das bewog eine im Akkord arbeitende Putzerkolonne, ihn für sich als Handlanger zu gewinnen. Man sagte ihm auch für den Winter Arbeit zu. Doch bei einer Schwarzarbeit, die der Polier nach Feierabend ausführen ließ, fiel Franz mit einem Sack Zement die Kellertreppe hinunter und verletzte sich so, daß er nicht weiterarbeiten konnte. Das war Ende November 1912. Franz war damals 13 Jahre und 11 Monate alt. Wir fuhren dann nach Hause zu den Eltern und Geschwistern und schmiedeten den Winter über mit dem Vater Schuhnägel.
Von unserem Verdienst in Remscheid in der Zeit, da wir jeder 53 Pfennige Stundenlohn hatten, schickten wir alle 2 Wochen 50 bis 55 Mark an die Eltern. Wir wollten ihnen damit helfen. Es sind nun fast 60 Jahre her, daß ich das Geschilderte erlebte. Es ist mir aber alles noch so in Erinnerung, als ob es gestern gewesen wäre.“
Rückhaltlos setzte sich Franz Leuninger in der folgenden Zeit als Mitglied und Vertrauensmann des christlichen Bauarbeiterverbandes für die Gewerkschaften ein. Wie die anderen Vertrauensmänner arrangierte und führte er Versammlungen durch, unterstützte den Gewerkschaftssekretär, wirkte mit bei der Planung und Durchführung von Hausagitationen, warb für den Verband auf der Baustelle, im Eisenbahnabteil, auf dem Weg zum Arbeitsplatz und in konfessionellen Standesvereinen.
Die Vertrauensmänner waren das organisatorische Rückgrat des Verbandes. Ihre Tätigkeit würdigt das Verbandsorgan „Die Baugewerkschaft“ u. a. mit folgenden Worten:
„Die Kollegen, die am Sonnabend und Sonntag ohne Ausnahme mit den Verbandszeitungen, Beitragsmarken, Flugblättern und Aufnahmescheinen ausgerüstet, ihr nicht immer leichtes Amt als Vertrauensmann und Kassierer versehen und die von ihnen betreuten Mitglieder aufsuchen, Aufklärung schaffen und stets bestrebt sind, dem Verband neue Mitglieder zuzuführen… Dieses stille Wirken gewinnt vor allem deshalb an Wert, weil alle die mit dieser Tat verbundenen Opfer freiwillig und ohne Anspruch auf materiellen Lohn gebracht werden.“
Aus dem Kreis der Vertrauensmänner rekrutierten sich denn auch die Gewerkschaftssekretäre im christlichen Bauarbeiterverband. Mochten bei dem Einzelnen bei der Übernahme einer solchen Funktion Lücken in bezug auf die Voraussetzungen hierfür bestanden haben, so besaßen doch alle den Opfersinn und die Einsatzbereitschaft, die ein solches Amt erforderte. Nicht selten waren Mühsal und Diffamierungen damit verbunden.
Im Jahre 1922 arbeitete Franz Leuninger im Raum Aachen. Dort tat er sich wie überall in der Gewerkschaftsarbeit hervor. Es ging dabei nicht nur um die Lohn- und Arbeitsbedingungen, sondern auch um die Auseinandersetzung mit dem gewerkschaftlichen Gegner. Auf Grund seines energischen und gewandten Auftretens bestellte ihn der christliche Bauarbeiterverband zum ,,Lokalbeamten“ für den Bereich Euskirchen. Diese Berufsbezeichnung galt für Gewerkschaftssekretäre auf der lokalen Ebene. Als Gewerkschaftssekretär war er nun herausgehoben und in eine Funktion versetzt, die ihn prägte; das Leben zeigte sich ihm von einer anderen Seite. Die Aufgaben waren vielseitig und auch manchmal hart. Er stand aber nunmehr ganz im Dienst für die anderen.
Mit die wichtigste Aufgabe des Lokalbeamten war der Auf- und Ausbau der Verbandsorganisation. Wesentlich dabei waren Werbung und die Betreuung der Mitglieder. In dieser Beziehung nahmen die Gewerkschaftssekretäre im christlichen Bauarbeiterverband eine besondere Stellung ein. Die Mitglieder wechselten infolge der Eigenart des Gewerbes im Gegensatz zu anderen Industriearbeitern – oft den Arbeitsplatz. Dadurch war die Gefahr einer Lockerung der Beziehungen zum Verband gegeben. Dem wirkten die Gewerkschaftssekretäre durch häufigen Besuch der Baustellen entgegen. Das war meist nur in der Mittagspause möglich. Diese Besuche erregten gar oft den Unwillen der Arbeitgeber und führten zu Spannungen und Feindseligkeiten. Gar mancher Gewerkschaftssekretär mußte unter Drohungen die Baustelle verlassen. Aber auch die unorganisierten Arbeiter sahen nicht selten eine Belästigung im Erscheinen des Gewerkschaftssekretärs auf ihrem Arbeitsplatz. Ein besonderes Problem für den christlichen Gewerkschaftssekretär war die Auseinandersetzung mit den sozialistisch organisierten Arbeitern, die mitunter rüde Formen annahm. So fuhr der Gewerkschaftssekretär mit seinem Fahrrad von Baustelle zu Baustelle, immer in dem Bewußtsein, den Angriffen seiner Gegner dort ausgesetzt zu sein. Bei diesen Besuchen bot sich die Möglichkeit einer Kontrolle und Überwachung der Unfallverhütungsvorschriften.
Einen breiten Raum nahm im Aufgabenbereich dieser Männer das Versammlungswesen ein. Jede Ortsgruppe und Zahlstelle hatte in der Regel ihre monatliche Mitgliederversammlung, an welcher der Gewerkschaftssekretär teilnahm. Diese Veranstaltungen dienten in erster Linie der Information und Schulung. Darüber hinaus gab es noch Verwaltungsstellenkonferenzen, Vorstands-, Vertrauensmänner- und Baudelegiertensitzungen. Die Zusammenkünfte fanden vorwiegend am Wochenende statt, so daß der Gewerkschaftssekretär an Samstagen und Sonntagen selten bei seiner Familie sein konnte.
Oft fehlte auf dem Verbandssekretariat eine Büro- oder Schreibkraft, wodurch dem Sekretär noch zusätzliche Verwaltungsarbeiten zufielen.
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Wesentlich für den Lokalbeamten war auch die Kontrolle darüber, ob die Bestimmungen der Tarifverträge und sonstiger Abmachungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern zum Schutze der Arbeiter beachtet wurden. War dies nicht der Fall, so hatte er geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um das Recht zu erzwingen. So standen die Gewerkschaftssekretäre vor den Schranken des Arbeitsgerichts oder den tariflichen Schlichtungsstellen, um das zu fordern, was rechtens war. Ebenso klärten sie Streitigkeiten der Gewerkschaftsmitglieder mit den Sozialversicherungsbehörden und halfen nicht selten in anderen schwierigen Lebenslagen. Ein Mann, der von 1912 bis 1933 Sekretär im christlichen Bauarbeiterverband war, sagte: ,,Der Gewerkschaftssekretär war Mädchen für alles“. Manche Unbill mußte dabei auch noch hingenommen werden, die in Einzelfällen bis zu Gefängnisstrafen reichten. So stand Josef Mergenthal aus Winkels im Westerwald als Funktionär des christlichen Bauarbeiterverbandes in den Jahren 1907/08 in Remscheid wiederholt vor dem Schöffengericht, weil man ihn für Vorgänge im Rahmen eines Streiks verantwortlich machte, die nach damaliger Anschauung ungesetzlich erschienen. Ein Verfahren brachte ihm eine Haftstrafe von 2 Wochen ein. Als er aus dem Gefängnis nach Hause kam, hatte ihm der Gerichtsvollzieher einen Teil seines Hausrates – so die Nähmaschine – wegen der nicht bezahlten Gerichtskosten gepfändet.
Alljährlich in den Wintermonaten führte der christliche Bauarbeiterverband eine sogenannte Winteragitation durch. Ein großer Teil der Mitglieder stammte aus den katholischen Bereichen des Eichsfeldes, Hessens, des Sauerlandes, des Taunus und des Westerwaldes. Hier gab es Orte mit hundert und mehr Bauarbeitern, die ihre Arbeitsplätze vorwiegend in westdeutschen Industriegebieten hatten und nur in den Wintermonaten zu Hause waren. In dieser Zeit suchten die Gewerkschaftssekretäre die vorgenannten Gebiete zur Gewinnung neuer Mitglieder, der Festigung der Organisation und Unterrichtung der Bauarbeiter in sozialen und wirtschaftlichen Fragen auf. Im Verbandsbezirk Frankfurt führte man beispielsweise in den Wintermonaten des Jahres 1927 im Rahmen der vorgenannten Maßnahmen 100 Versammlungen und 5 Konferenzen durch. Für die beteiligten Gewerkschaftssekretäre war die Aktion mit erheblichen Strapazen verbunden. Als Redner mußten sie täglich in mehreren Versammlungen auftreten. Die Verkehrsmöglichkeiten waren ungünstig; die Wege mußten vielfach bei schlechter Witterung auf verschneiten Landstraßen zu Fuß zurückgelegt werden.
Die gesellschaftliche Stellung des Gewerkschaftssekretärs war zwiespältig. Nicht selten sah er sich öffentlichen Angriffen ausgesetzt. Man nannte ihn einen Demagogen und Unruhestifter, ,,der von den Arbeitergroschen lebe“. Andererseits bestand Klarheit darüber, daß die Arbeiter ohne die Gewerkschaften und ihre Funktionäre relativ wehrlos den Manipulationen der Arbeitgeber ausgesetzt waren. Die Bezahlung der Gewerkschaftssekretäre stand in keinem Verhältnis zu Leistung und Aufwand. Im christlichen Bauarbeiterverband richtete sich ihre Besoldung nach dem Stundenlohn der Maurer. Das Monatsgehalt des Lokalbeamten setzte sich aus 230 Maurerstundenlöhnen und einem zehnprozentigen Zuschlag zusammen. Der Bezirksleiter erhielt bei gleicher Stundenzahl einen dreißigprozentigen und die angestellten Mitglieder des Hauptvorstandes einen fünfzigprozentigen Zuschlag. Die Reisespesen lagen niedrig. Als Beispiel hierfür diene die Tatsache, daß ein Sekretär in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre, der eine das gesamte Verbandsgebiet umfassende Tätigkeit ausübte und viel auf Reisen war, Tagesspesen von 4 bis 5 Mark hatte, wozu noch die Übernachtungskosten in einem Gasthof kamen. Versammlungsspesen wurden mitunter groschenweise geltend gemacht.
Franz Leuninger war kurze Zeit Sekretär in Euskirchen und übernahm dann das Verbandssekretariat in Krefeld. Von dort erfolgte im Jahre 1927 seine Versetzung nach Breslau, wo er
– noch nicht 30 Jahre alt – als Bezirksleiter für den ganzen schlesischen Raum wirkte. Hier entfaltete er eine beachtliche Aktivität. Dies soll durch einige Veröffentlichungen im Verbandsorgan ,,Die Baugewerkschaft“, deren Mitarbeiter er war, belegt sein.
Er sah die Gleichberechtigung und Gleichachtung insbesondere des Handarbeiters in Wirtschaft und Gesellschaft auch im Jahre 1929 als noch nicht gegeben. In einem Aufsatz unter der Überschrift ,,Jedem das Seine“ schrieb er:
,,Es gibt viele Leute, welche auf Grund der Tatsache, daß einige Arbeiterführer Minister, Polizei-, Ober- und Regierungspräsidenten oder Landräte geworden sind, die Auffassung vertreten, die Arbeiterschaft habe die Gleichberechtigung und Gleichachtung erlangt, oder sie sei diesem Ziele wesentlich näher gekommen. Dieser Auffassung muß entschieden widersprochen werden. Gewiß hat der gewerkschaftliche Zusammenschluß uns im Laufe der Zeit den anderen Ständen gegenüber ein gewisses Ansehen verschafft, teilweise fürchtet man uns sogar. Aber das kann nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß der körperlichen Arbeit noch lange nicht der Wert zugemessen wird, der ihr gebührt… Die Gewinne aus der Tätigkeit des Arbeiters fließen in stärkstem Maße auch heute noch denen zu, die mit der körperlichen Arbeit wenig oder gar nichts zu tun haben.
Diese Zustände erzeugen verständlicherweise bei dem Arbeiter ein gewisses Minderwertigkeitsgefühl und den Gedanken, er sei ein Mensch zweiter Klasse. Das zeigt sich denn auch auf den Arbeitsstellen. Demütig, unterwürfig, sucht man sich die Gunst des Vorgesetzten und Arbeitgebers zu erhalten. Wo klare Rechte sind, werden diese nicht gefordert, sondern man bittet, denkt nicht daran, daß der Arbeitgeber auch auf den Arbeiter angewiesen ist, nicht nur der Arbeiter auf den Arbeitgeber.
Der Weg, den die Arbeiterschaft noch zu gehen hat, wird steil und steinig sein. Andere Stände sind ihn vor uns gegangen und haben es geschafft. Was sie erreichten, wird auch der vierte Stand – die Lohnarbeiterschaft – erreichen, wenn er den ernsten Willen dazu hat.“
In der ihm eigenen Art setzte er sich auch mit den sozialistischen Gewerkschaften auseinander, zumal dann, wenn diese aus parteipolitischen Gründen die gewerkschaftliche Linie verließen. Das zeigt ein Rundschreiben, das er als Bezirksleiter von Breslau an die Vorstandsmitglieder und Vertrauensleute seines Bezirks richtete. Hier ein Auszug:
,,Am 21. 8.1929 hat der sozialdemokratische Arbeitsminister im Sozialpolitischen Ausschuß des Reichstages seine Abänderungsvorschläge für die Arbeitslosenversicherung vorgelegt. Was Wissel verlangt, ist schlimmer als das, was wir befürchtet haben.
Nach seinem Vorschlag sollen die Bauarbeiter, welche keine 50 Wochen an einem Stück gearbeitet haben – und das sind doch alle – noch niedrigere Unterstützung bekommen, als die Krisenfürsorge vorsieht.
Für die Ledigen soll eine verkürzte Wartezeit Platz greifen, und als Drittes… eine verkappte Prüfung der Bedürftigkeit der Bauarbeiter.
Wir werden nichts unversucht lassen, um das Schlimmste abzuwehren und unsere Mitglieder vor der Verelendung zu schützen…
Dieses Rundschreiben, das noch einige Angriffe auf den Arbeitsminister enthielt, führte zu einer heftigen Reaktion der sozialdemokratischen Tagespresse Schlesiens und auch des Organs des Sozialdemokratischen Bauarbeiterverbandes ,,Der Grundstein“, auf Franz Leuninger.
Darauf antwortete er wie folgt in dem Verbandsorgan ,,Die
Baugewerkschaft:
,,Für mich kommt es nicht darauf an, welcher Partei der Arbeitsminister angehört, sondern entscheidend ist für mich, was er tut. Wollt Ihr vielleicht das decken, was Wissel während seiner Amtszeit getan hat? Ich nicht! Wohin sollte es kommen, wenn wir als gewerkschaftliche Organisation nicht mehr den Mut aufbrächten, gegen einzelne politische Parteien Stellung zu nehmen. Wenn der ,Grundstein‘ meint, ich sei ein verbissener Gegner der Sozialdemokratie und ein eingeschriebenes Mitglied der Zentrumspartei‘ so ist das seine Sache. Ich habe keine Ursache, ihm gegenüber ein politisches Glaubensbekenntnis abzulegen. Ich kann ihm aber sagen, daß ich in erster Linie Gewerkschaftler bin und im gegebenen Falle auch gegen die Parteien ins Feld ziehen werde, welchen ich politisch nahestehe…“
Aber auch im engeren gewerkschaftlichen Bereich, nämlich in der Auseinandersetzung mit den Arbeitgebern, zeigte er Mut und Entschlossenheit. Hiervon gibt Zeugnis ein Lohnstreik, den er mit den schlesischen Bauarbeitern im November 1932 – wahrscheinlich einer der letzten Lohnstreiks der Bauarbeiter überhaupt vor der Hitlerherrschaft – führte. Dabei ging es nicht um Lohnerhöhungen, sondern die Arbeitgeber forderten einen Abbau der Stundenlöhne in der Höhe von 15 bis 27 Prozent. Die Gewerkschaften drohten mit Streik, was die Arbeitgeber ironisch beantworteten mit der Bemerkung, daß für einen streikenden Bauarbeiter zehn andere zur Stelle seien. In der Tat herrschte damals unter den schlesischen Bauarbeitern eine große Arbeitslosigkeit. Vor den Toren Breslaus gab es Orte, in denen Hunderte von ihnen zwei Jahre und länger ohne Arbeit waren. Auf diese zählten die Arbeitgeber. In Tageszeitungen suchten sie Bauarbeiter, denen sie einen Stundenlohn von 80 Pfennig anboten, während der Tariflohn 92 Pfennig betrug.
Als die Tarifverhandlungen scheiterten, forderten die Arbeitgeberverbände ihre Mitglieder auf, ab 1. November 1932 allgemein den Stundenlohn auf 80 Pfennig zu senken. Im Falle einer Nichtbefolgung wurden hohe Verbandsstrafen angedroht und in der Tat auch auferlegt. Unter diesem Umständen zahlten, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Arbeitgeber den herabgesetzten Lohn.
Trotz aller Bedenken hinsichtlich der katastrophalen Lage auf dem Arbeitsmarkt, riefen die Gewerkschaften zum Streik auf. Die Solidarität der Bauarbeiter, ihr Geschick und ihre Ausdauer zeitigten den angestrebten Erfolg. Franz Leuninger konnte berichten:
,,Wir haben den Kampf gewonnen. Alle Unternehmer, welche Arbeit haben, verpflichten sich, bis zum 31. März 1933 die vor dem 31. Oktober 1932 geltenden Löhne zu zahlen.“
Das Arbeitsgebiet des Gewerkschaftssekretärs verlangte von diesem härtesten Einsatz. Was die christlichen Gewerkschaften von ihnen erwarteten, formulierte Adam Stegerwald – ihr profiliertester Führer – in der Jubiläumsfestschrift ,,25 Jahre christliche Gewerkschaften“ 1924 folgendermaßen:
,,Die Arbeiterbewegung ist keine nur wirtschaftliche Angelegenheit. Sie hat vielmehr den religiösen Bedürfnissen der Arbeiterschaft mit großem Verständnis zu begegnen und diese weitgehend zu unterstützen. Aus diesem Grund ist insbesondere zu verlangen, daß die Angestellten der christlichen Gewerkschaften sorgfältig ausgewählt werden. Sie müssen eine gründliche Ausbildung erfahren, sich als Charaktere und Persönlichkeiten erweisen, im privaten und öffentlichen Leben sich als praktizierende Christen bestätigen, mit den Vertretern der Religionsgemeinschaften ein gutes Verhältnis aufrechterhalten und pflegen, den konfessionellen Vereinen Verständnis entgegenbringen, sie fördern usw.“
Die Sekretäre des christlichen Bauarbeiterverbandes entsprachen weitgehend den Vorstellungen Stegerwalds. Mögliche Mängel ihres Bildungsgrades kann man ihnen nicht anlasten. Diese waren in den seltensten Fällen in der Person, sondern in der Widrigkeit der Verhältnisse begründet. Als junge Männer kamen sie vielfach von einer ländlichen Volksschule in die städtischen und industriellen Bereiche. Ihre Situation ließ selten eine geordnete Berufsausbildung zu. Mühsam mußten sie sich, meist direkt vom Arbeitsplatz kommend, in die Funktionen eines Gewerkschaftssekretärs einarbeiten. Aber sie schafften es, sie wurden keine Versager, weil sie Persönlichkeiten waren.
Bei den Bauarbeitern in Schlesien
Hierüber schreibt sein Freund und Mitarbeiter Franz Heisig aus Neustadt in Oberschlesien: ,,Wenige Wochen, nachdem Franz Leuninger im christlichen Bauarbeiterverband Bezirksleiter für Schlesien geworden war, kam er auch zu uns nach Neustadt/OS., um in einer Mitgliederversammlung zu sprechen. Die Versammlung war außerordentlich gut besucht, denn jeder wollte den neuen Bezirksleiter sehen und kennenlernen. Wir wußten von ihm nur, daß er aus Westdeutschland kam. Die Erwartung war um so größer, weil mitunter Redner von dort eine gewisse Überlegenheit uns gegenüber in den Vorträgen und auch in der Unterhaltung zu demonstrieren suchten. Es mußte ein tüchtiger Kollege sein, denn sonst wäre er nicht Bezirksleiter einer so großen Provinz geworden. Auch ich sah dieser Begegnung gespannt entgegen. Ich war Schriftführer und saß mit am Vorstandstisch. Als wir uns die Hand reichten und ansahen, blickte ich in das sympathische Gesicht eines offenen, aufrechten Menschen. In seinen Ausführungen fand ich meinen Eindruck voll bestätigt. Er sprach nicht herablassend, sondern erzählte uns von seiner Heimat, seinen Eltern und den Nöten seiner Jugend. Er kannte unsere Sorgen, und wir spürten seinen Willen, uns zu helfen.
Schon in dieser ersten Versammlung hatte er sich die Achtung und das Vertrauen aller Kollegen erworben, was auch auf den Baustellen in Gesprächen zum Ausdruck kam.
Nach Schluß der Versammlung begleitete ich ihn auf dem Wege zur Bahn. Bei dieser Gelegenheit sprachen wir vor allem über unsere Bauproduktivgenossenschaft, die sich zu einem beachtlichen Unternehmen entwickelt hatte. Da diese u. a. auch die großen Landarbeitersiedlungen baute, wurden laufend Bauarbeiter eingestellt. Gewerkschaftlich Nichtorganisierte versuchten wir mit Erfolg für den christlichen Bauarbeiterverband zu gewinnen. Bei anders Organisierten vertrat ich – im Gegensatz zu einigen älteren Kollegen – die Auffassung, daß man diese nicht zum Übertritt drängen dürfe. Ich lehnte es nämlich entschieden ab, Menschen, die ihrer inneren Einstellung nach nicht zu uns gehörten, unter Ausnutzung ihrer Notlage in unseren Verband aufzunehmen. Mir kam es auf überzeugte Mitglieder an, wenn auch seitens der sozialistischen Bauarbeiterorganisation anders gehandelt wurde. Franz hörte sich meine Auffassung an, und ich fragte ihn um seine Meinung. Er blieb stehen und erwiderte impulsiv: ,Kollege Heisig, Du hast recht, so geht es nicht, so darf man es nicht machen. So sehr ich Eure Bestrebungen, die Verwaltungsstelle auszubauen, anerkenne und begrüße, darf auf keinen Fall bei der Werbung ein Druck ausgeübt werden. Menschenwürde und freie Gewissensentscheidung sind unantastbar. Wenn wir das nicht achten, von wem sollte man es dann noch erwarten?‘
Als ich Franz kennenlernte, war ich noch Vertrauensmann im christlichen Bauarbeiterverband. Auf seine Initiative hin wurde ich im Jahre 1929 Lokalbeamter für den Bereich Neustadt/OS.
Anfänglich hatte ich Bedenken, eine solche Funktion zu übernehmen. Er räumte sie aus und verwies darauf, daß er mich nie für diese Tätigkeit zu gewinnen versucht hätte, wenn meine Eignung nicht gegeben gewesen wäre.
Als Gewerkschaftssekretär kam ich nun oft mit Franz, der mein Bezirksleiter war, zusammen. Wir besuchten in meinem Arbeitsbereich gemeinsam Mitgliederversammlungen, die immer gut besucht waren. In seiner gewinnenden Art sprach er dann zu den Kollegen, die ihn sehr schätzten. In Deutsch-Rasselwitz hatten wir nur 40 Mitglieder, aber unsere Versammlung war gut besucht, denn auch die Gegner waren gekommen. In einer kleinen, aber gut vorbereiteten Rede nahm der Vorsitzende die Eröffnung und Begrüßung vor. Nach der Versammlung begleiteten uns sehr viele Kollegen zum Bahnhof; es war ein kleiner ,Festzug‘. Während der Bahnfahrt sprachen wir über unsere Eindrücke von der Versammlung. Franz war besonders von der Ansprache des Vorsitzenden angetan. Er sagte dazu: ,Hast Du gesehen, wie er nach Worten rang, als er von unseren Idealen sprach und uns etwas Liebes sagen wollte. Er ist ein prächtiger Mensch, den auch die anderen Kollegen gern haben.‘
Doch nicht nur bei ernsten Anlässen begegneten wir gemeinsam unseren Mitgliedern. Die oberschlesischen Bauarbeiter wußten auch zu feiern. Dann kamen sie mit ihren Frauen und sonstigen Angehörigen zusammen. Es wurde gesungen und getanzt. Froh begrüßten sich alle, und der Bezirksleiter versäumte nie, jedem die Hand zu drücken. So kamen wir auch einmal mit der Kleinbahn zu einem Bauarbeiterfest in einem kleinen oberschlesischen Ort. Der Saal war festlich geschmückt, die Frauen hatten ihre Trachtenkleider angelegt, die Männer waren im Sonntagsstaat. Bis tief in die Nacht hinein erklangen die alten Tanzweisen der Musikkapelle, und wir beide mußten uns bemühen, alle Kollegenfrauen einmal zum Tanz zu führen. Am Ende des Festes ertönte dann ein ernster Choral, der an die Vergänglichkeit alles Irdischen erinnern sollte, dem alle stehend und schweigend zuhörten. Dieser alte Brauch beeindruckte Franz sehr.
Als Gewerkschaftsfunktionär lernte ich Franz erst richtig bei den Lohn- und Tarifverhandlungen kennen. Hier war er den anderen Beteiligten weit überlegen. Seine Darlegungen erfolgten mit Sachverstand und Herz und wirkten überzeugend. Er konnte aber auch hart und unerbittlich sein, wenn den berechtigten gewerkschaftlichen Forderungen kein Verständnis entgegengebracht wurde. Sehr lag ihm das Geschick der Bauarbeiter und ihrer Familien am Herzen. Ich erinnere mich an ein Rededuell in Gleiwitz mit dem Syndikus des Arbeitgeberverbandes, in welchem seine Worte einen ungewöhnlich scharfen Ton hatten. Sicher und selbstbewußt war seine Rede, Angriffe wies er schlagfertig zurück. Nie hat er in diesen Situationen seine Selbstbeherrschung verloren, nie wurden seine Worte verletzend. Hier zeigte sich seine ganze Persönlichkeit. In diesen Stunden haben wir den Freund bewundert. Auch seine Gegner akzeptierten ihn, das zeigte sich in der Wertschätzung, mit der man ihm allenthalben begegnete.
Und dann kam die Zeit der politischen Wirren. Der Kampf gegen die Gewerkschaften wurde heftiger, die Hetze immer schärfer. Wir trafen uns nur noch gelegentlich, dabei sprachen wir von der ungewissen Zukunft. Als Hitler im Januar 1933 die Herrschaft übernahm, sah Franz die Zerschlagung der Gewerkschaften, die Beseitigung der Demokratie und der freien Meinungsäußerung voraus. ,Wir gehen schweren Zeiten entgegen, wer weiß, was noch wird.‘ Die Ereignisse gaben ihm recht. Kurz vor der Übernahme unseres Verbandes durch die Nazis sandte er mir noch mein Gehalt mit einem Grußwort an mich und meine Familie.
Franz war uns ein lieber Freund gewesen. Ich bin ihm zu tiefem Dank verpflichtet, denn er hat mir für meine Gewerkschaftsarbeit wie für mein Leben überhaupt viel gegeben. Als mir und meinen Angehörigen die Nachricht von seinem Tode zuging, waren wir tief traurig, so, als ob ein Mitglied der Familie von uns gegangen sei. Seither haben wir immer wieder von ihm gesprochen. Er wird uns unvergessen bleiben.“
Offensichtlich hat sich Franz Leuninger mit den Bereichen Schlesiens besonders verbunden gefühlt, die als Grenzland galten und deren Arbeiterbevölkerung in besonders schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen lebte. Hiermit beschäftigte er sich in einem Aufsatz in der ,,Baugewerkschaft“ vom November 1928 eingehend. Darin stellt er folgendes fest:
„Die wirtschaftliche und soziale Lage der Arbeiterschaft in Schlesien entspricht bei weitem nicht der der übrigen deutschen Arbeiterschaft.
Es ist bezeichnend, daß dort Tausende von Frauen mit Schwer- und Schwerstarbeiten beschäftigt werden. Man sieht sie an den Kippwagen der Kalköfen. An den Laderampen der Fabriken laden sie mit den männlichen Arbeitern Kohle und andere Materialien ab. Selbst auf den Ziegeleien, in Sandgruben und bei Straßenbauten sind unzählige Frauen, verheiratete und unverheiratete, beschäftigt.
Bei Löhnen von 45 bis 50 Pfennig pro Stunde, wie sie beispielsweise die Textilarbeiter von Neustadt haben, darf von Hungerlöhnen geredet werden. Aber auch unsere Bauarbeiter haben ein Einkommen, mit dem es nicht möglich ist, die bescheidensten kulturellen Bedürfnisse zu befriedigen. Besonders schwierig ist die Lage für unsere Kollegen, die nicht jeden Abend zu ihren Familien zurück können und deshalb gezwungen sind, auswärts zu wohnen. Was diesen Arbeitern an Lohn bleibt für den Unterhalt ihrer Familien, sei an nachfolgendem Beispiel gezeigt: Am Staubeckenbau Ottmachau werden die höchsten Tiefbaulöhne Oberschlesiens gezahlt, und zwar 67 Pfennige pro Stunde. Bei 48stündiger Arbeitszeit beträgt das Nettoeinkommen rund 27 Mark pro Woche. Für Logis und ein bescheidenes Essen – ohne Fleisch natürlich -werden pro Woche wenigstens 8 Mark verlangt. Für Fahrgeld und Verbandsbeitrag werden 2,50 Mark gebraucht, so daß, – wenn der Mann keine Pfeife Tabak raucht und kein Glas Bier trinkt, ihm für seine Familie nur noch 16,50 Mark verbleiben. Das traurigste Kapitel in den schlesischen Grenzlanden ist die Wohnungsnot. Während in Großstädten wie Bremen und Bochum auf 100 Wohnungen nur 2,8 bzw. 2,6 Wohnungen mit einem Zimmer kommen, entfallen auf 100 Wohnungen im Waldenburger Gebiet 45 Einzimmerwohnungen. Was für Waldenburg und Umgebung gilt, trifft für weite Teile des Grenzgebietes zu. Wer sich von diesen Verhältnissen nicht selbst durch Augenschein überzeugt, hält sie für unmöglich.“ In Breslau pflegte Franz Leuninger besonders gute Beziehungen zum katholischen Gesellenverein. Dort begegnete er auch Leuten vom Bau. Daraus entwickelte sich ein Freundeskreis. Dessen Mitglied, Johannes Beck, Kachelofenmeister, schreibt aus jener Zeit: ,,Als Geselle lernte ich Franz kennen. Es war damals die große Arbeitslosigkeit. Wir erlebten ihn oft in Versammlungen, wobei in bemerkenswerter Weise seine positive katholische Einstellung zum Ausdruck kam. Nach Versammlungsschluß versuchten wir meistens, ihn noch persönlich zu sprechen. Das war nicht so leicht, denn von vielen Seiten wurden Anliegen an ihn herangetragen. Und er hatte für alle Verständnis.“
Die Gründe für die Verbundenheit mit dem katholischen Gesellenverein, dem Werk des Schuhmachergesellen und späteren Priesters Adolf Kolping, waren verschiedenartig. Rein äußerlich galt zunächst die Mitgliedschaft und die Tatsache daß er als lediger junger Mann in katholischen Gesellenhäusern gewohnt hat. Letztlich entscheidend mag aber die Achtung gewesen sein, die er den Ideen Adolf Kolpings entgegenbrachte. Er war zwar nicht der wandernde Geselle, dessen leiblicher und seelischer Not Kolping entgegenzuwirken brauchte. Aber als Arbeiter im Baugewerbe erlebte er das karge Dasein in der Fremde, das vergleichbar war mit der Unbill der wandernden Handwerksgesellen jener Zeit. Für ihn war Kolping das, was ein anderer später folgendermaßen formulierte: ,,Ein praktischer, im Religiösen verankerter Volkserzieher, dem es um sittliche Erneuerung der Jugend und um die Rettung des christlichen Familienideals ging.“
In diesem Zusammenhang ist auch auf das Verhältnis von Franz Leuninger zur katholischen Arbeiterbewegung hinzuweisen. Besonders in der Zeit, da er als Gewerkschaftssekretär in Krefeld tätig war, stand er zu dieser in einem guten Kontakt. Er gehörte dem katholischen Arbeiterverein seiner Pfarrgemeinde an und war aktiv für die Bewegung tätig. Auch hier zeigte sich seine feste religiöse Überzeugung, so wie sie nach Beck später im katholischen Gesellenverein in Breslau zutage trat. Franz Leuninger wußte sich auch eins im Widerstand mit den Männern aus der katholischen Arbeiterbewegung, wie Nikolaus Groß, Bernhard Letterhaus und vielen anderen.
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Der politische Weg
Im Elternhaus wurde seit jeher das politische Gespräch geführt. Zwar erlebte man das Tagesgeschehen in dem abseits gelegenen Westerwalddorf größtenteils am Rande. Die Tageszeitungen erreichten bis in die Zeit des ersten Weltkrieges hinein nur in wenigen Exemplaren Mengerskirchen. Das religiöse Schrifttum war etwas stärker verbreitet, ebenso die Heimatkalender.
Unmittelbare politische Vorgänge waren allerdings die jeweiligen Gemeindewahlen, die nach dem sogenannten Dreiklassenwahlrecht durchgeführt wurden. Diese gesetzliche Regelung, im Jahre 1849 für Preußen getroffen und 1918 aufgehoben, teilte die Wahlberechtigten in 3 Klassen – je nach Steuerleistung – ein. Vor dem ersten Weltkrieg gehörten in Preußen 3,80/o der Wahlberechtigten der ersten, 13,90/0 der zweiten und 82,30/o der dritten Klasse an. Diese Zahlen auf Mengerskirchen angewandt bedeutete bei 300 angenommenen Wahlberechtigten, daß von diesen rund 11 der ersten, rund 42 der zweiten und der Rest von 257 der dritten Klasse angehört hätten. Bei der Gemeindewahl, bei der 12 Gemeindevertreter zu wählen waren, fielen den Wahlberechtigten einer jeden Klasse, unabhängig von der jeweiligen Zahl der Wahlberechtigten, vier Gemeindevertreter zu. Bei diesen Wahlen ging es in erster Linie um den Bürgermeisterposten. Interessant war nun dabei, daß die Vertreter der dritten Klasse bei der Wahl des Bürgermeisters den Ausschlag gaben, und zwar insofern, daß die Klasse den Bürgermeister stellte, dem die Drittkläßler ihre Stimmen gaben, und das war entweder die erste oder zweite Klasse. Auf den Gedanken, daß auch einmal ein Mann aus der dritten Klasse Bürgermeister werden könne, ist man zur damaligen Zeit erst gar nicht gekommen. Allerdings hat das ,,Volk“ einmal die Einsetzung eines Bürgermeisters erzwungen, und zwar in der 1848er Revolution. Nur kurze Zeit hat aber dieser Mann das Amt bekleidet, denn mit der Einführung des Dreiklassenwahlrechts im Jahre 1849 machten die begüterten Bürger ihren Anspruch, den Bürgermeister zu bestimmen, wieder mit Erfolg geltend. Dieses Wahlrecht war auch für andere politische Wahlen in Preußen gültig.
Es ist nur zu verständlich, wenn die Familie, zu der Franz Leuninger gehörte und deren Vater auch Drittkläßler war, diese Ordnung ablehnte. Das entsprach ihrem Selbstbewußtsein und der Erkenntnis, daß nicht Reichtum und Besitz die bestimmenden Kräfte im politischen Leben eines Volkes sein können.
Indessen stand man in äußerster Konsequenz all jenen Bestrebungen entgegen, die unter Mißachtung christlicher Grundsätze eine neue Ordnung, sei es mit Gewalt oder auch auf legalem Wege, herbeizuführen suchten. Die Grundlage hierfür lag in der religiösen Atmosphäre und den Erkenntnissen, die katholische Einrichtungen vermittelten. Hier ist vor allem der im Jahre 1890 gegründete Volksverein für das katholische Deutschland zu nennen, der sich die politische, soziale und kulturelle Belehrung und Erziehung seiner Mitglieder zur Aufgabe gemacht hatte. Sein Ziel war es, ,,Irrtümer und Umsturzbestrebungen auf sozialem Gebiet zu bekämpfen“. Der Verfasser erinnert sich noch gut an die belehrenden Schriften des Vereins, die durch einen Vertrauensmann in das Elternhaus gebracht wurden und deren Inhalt allseits großes Interesse fand.
Im übergemeindlichen Raum zählte sich die Familie zum Zentrum, jener Partei, die bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegründet wurde und durch Fraktionen im preußischen Abgeordnetenhaus und im Reichstag vertreten war. Die Wähler des Zentrums rekrutierten sich vorwiegend aus dem katholischen Volksteil, und zwar aus allen Bevölkerungsschichten. Große Teile der in den christlichen Gewerkschaften organisierten Arbeitnehmer waren Zentrumsanhänger. Führende Gewerkschaftler gehörten als Zentrumsabgeordnete verschiedenen Parlamenten und nach 1918 vielen Regierungen an. Das weitgehend übereinstimmende christlich-soziale Gedankengut beider Institutionen war das Bindeglied.
In dem rein katholischen Mengerskirchen war die Zentrumspartei immer dominierend. Bei der Wahl zur Nationalversammlung im Jahre 1919 wurden dort für sie über 900/<> der Stimmen abgegeben. Gewiß war dabei der katholische Charakter der Partei mitbestimmend, zumal der Kulturkampf in Preußen in der Zeit nach dem Krieg 1870/71 noch nicht vergessen war, in dessen Rahmen man den Bischof von Limburg, zu dessen Diözese Mengerskirchen gehörte, abgesetzt hatte und der dann viele Jahre in der Verbannung leben mußte. Auf der anderen Seite hielten es die Katholiken mit ihrer religiösen Haltung nicht für vereinbar, liberale oder sogar atheistisch-marxistische Parteien zu wählen.
Hinter dieser Haltung verbarg sich alles andere als ein enger Horizont, sondern ein großes politisches Verantwortungsgefühl. Das bezieht sich vor allem auch auf die Arbeiter in Mengerskirchen, die auf den Arbeitsplätzen in den Großstädten und Industriegebieten mit den Nöten der Zeit und auch mit den sozialistischen Anschauungen konfrontiert wurden. In Versammlungen und durch die Lektüre ihrer Gewerkschaftszeitungen hatten sie sich ein beachtliches politisches Urteilsvermögen angeeignet.
Das war die politische Atmosphäre, in der Franz Leuninger heranwuchs und sich entfaltete. Dazu kamen noch die persönlichen Erlebnisse in jungen Jahren. Es entwickelte sich bei ihm ein gesundes nationales Denken, wenn auch in seiner Heimat bei der damaligen älteren Generation die Abneigung gegen den militanten preußischen Geist spürbar war, was nicht nur auf der Auflösung des Herzogtums Nassau und seine Umwandlung in eine preußische Provinz beruhte. Die letzten Spuren dieser Haltung wurden jedoch durch den Ausbruch des ersten Weltkrieges verwischt. Noch nicht 16 Jahre alt, wollte sich Franz Leuninger damals als Kriegsfreiwilliger melden, was die Eltern
allerdings verhinderten. Aber zwei Jahre später mußte er Soldat werden und kam nach kurzer Ausbildung an die Westfront. Frühzeitig erhielt er eine Kriegsauszeichnung und wurde bald zum Unteroffizier befördert. Nach dem Zusammenbruch der Front kehrte er zu Ende des Jahres 1918 in sein Elternhaus zurück. Dort traf er zu mitternächtlicher Stunde ein. Unter Tränen meinte er, das deutsche Heer hätte wenigstens an den Grenzen halten und den Feind abwehren müssen.
Indessen fühlte er sich mit der monarchistischen Staatsform nicht kritiklos verbunden und fand bald ein Verhältnis zur neuen Ordnung. Der Raum für sein politisches Denken und Handeln wurde die Zentrumspartei, deren Mitglied er war. Noch einmal stand er im aktiven Einsatz für sein Volk, und zwar im Rahmen des sogenannten Ruhrkampfes im Jahre 1923. Damals besetzte Frankreich ohne Rechtsgrundlage das Ruhrgebiet als Sanktionsmaßnahme im Zusammenhang mit den von Deutschland auf Grund des Versailler Vertrages zu leistenden Reparationen. Diese Maßnahme stieß auf passiven und aktiven Widerstand des gesamten Volkes. Als junger Gewerkschaftssekretär in Euskirchen beteiligte sich Franz Leuninger an diesem Widerstand und mußte sich deshalb einer Verhaftung durch die französischen Militärbehörden durch Flucht aus dem besetzten Gebiet entziehen.
Es ist schon früher erwähnt worden, daß die christlichen Gewerkschaften ein gesundes nationales Denken pflegten. Hierzu sagte Elfriede Nebgen: ,,Zur Tradition der christlichen Gewerkschaften gehörte (nun einmal) das Bekenntnis zur natürlichen Verbundenheit mit dem eigenen Volk.“ So und nicht anders war die nationale Gedankenwelt Franz Leuningers, die er in persönlichen Gesprächen und auch in der Öffentlichkeit bekundete, wobei es ihm vor allem auf eine würdige Eingliederung der Arbeiterschaft in unser Volk ankam.
Zur vollen politischen Wirksamkeit kam er im Rahmen seiner Tätigkeit als Bezirksleiter des christlichen Bauarbeiterverbandes in Schlesien. In Breslau war er Mitglied der Stadtverordnetenversammlung, Deputierter in der Baudeputation beim Magistrat und Angehöriger sonstiger kommunaler Institutionen. August Weimer sagt über diese Tätigkeit: , überall war er der erfolgreiche und in gewissen Kreisen auch gefürchtete Vertreter der Menschen, die immer um den Platz an der Sonne kämpfen müssen. Er fühlte sich als Anwalt des ,Kleinen Mannes‘.“ Bei den letzten Reichtstagswahlen im Jahre 1932 kandidierte er für die Zentrumspartei Schlesiens.
Seine politische Haltung war nicht eng von der eigenen Partei bestimmt. Im Mittelpunkt stand immer das ganze Volk. Schwer belastete ihn dessen Schicksal in den Notjahren vor 1933. Im Neujahrsartikel seiner Verbandszeitschrift vom 3.1.1931 bringt er zunächst ein Zitat: ,,Die Zukunft noch ein festverschlossenes Buch, von ahnungsvollem Grauen bang umwittert“ und setzt sich dann mit den Reparationslasten und ihren wirtschaftlichen Auswirkungen auf unser Volk auseinander, wobei er der Arbeitslosigkeit und dem Kampf um das Tarifvertragsrecht besondere Beachtung schenkt. Scharf wies er die Äußerung eines Landgutführers in einer Bauernversammlung zurück, die lautete: ,,Die Arbeiterschaft ist der einzige Stand, welcher von den Folgen des Krieges noch nichts gespürt hat.“ Diesen Worten setzt er folgendes entgegen:
,,Die Arbeiterschaft will, das muß auch am Anfang dieses Jahres klar und deutlich gesagt werden, keine Sonderstellung innerhalb des Staats- und Volkslebens. Was sie will, ist Arbeit und durch ihre Arbeit den angemessenen Lebensunterhalt für ihre Familien. Dazu Gleichberechtigung und Gleichachtung in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft.“
Zur innenpolitischen Lage äußert er sich so:
,,Möge vor allem in unserem tiefgeprüften Land der unselige Bruderkampf, wie er leider im Jahre 1930 geführt wurde, im Jahre 1931 aufhören. Die jüngste Vergangenheit hat doch schlagend bewiesen, daß wir nur als Gesamtvolk aufsteigen oder als Gesamtvolk untergehen können. Hoffentlich führt die Not, von der gesagt wird, daß sie zusammenführt, auch das deutsche Volk endlich zusammen. Wir als christliche Arbeiter wollen auch hier helfen, soweit wir dazu in der Lage sind. Mit dem Glauben an das deutsche Volk verbinden wir die Hoffnung an eine bessere Zukunft. Wir glauben an unser
39 Volk und hoffen auf die Zukunft, weil wir Volk und Vater land lieben.“
In einem weiteren Aufsatz des gleichen Jahres geißelt er scharf die Auswüchse des politischen Kampfes, die er für ein Unglück hielt, und sagte dazu:
,,Eine radikale Abkehr von dem bisherigen Weg ist notwendig. Der Revolver, der Dolch und der Schlagring müssen aus dem politischen Kampf verschwinden. Es sind doch schließlich alles deutsche Volksgenossen, welche tagtäglich verbluten. Mögen sie von der Schutzpolizei, von der Linken oder Rechten oder aus unpolitischen Kreisen stammen. Das Menschenleben, das fast wertlos geworden ist bei uns, muß wieder höher in Kurs kommen. Der Arbeiterschaft sollte ganz besonders die Tatsache zu denken geben, daß in der Regel sowohl auf der Linken als auch auf der Rechten ihre Standesgenossen es sind, welche von den politischen Drahtziehern in den Tod gehetzt werden.“
Indessen ging das deutsche Schicksal seinen Weg. Franz Leuninger hat bis zur letzten Stunde vor dem Nationalsozialismus gewarnt. Vor allem als Reichstagskandidat im Wahlkampf zur Wahl im November des Jahres 1932. Es mutet fast seherisch an, daß er in einer Wahlversammlung im Glatzer Bergland, wie von einem Versammlungsteilnehmer bekundet wurde, sagte, in diesem Bereich würden alle ihre Heimat verlieren, wenn Adolf Hitler zur Macht komme. Seine Ahnung wurde von den späteren Ereignissen noch weit übertroffen.
buch5.htm
IM WIDERSTAND
Die Machtübernahme durch Hitler im Januar 1933 entfesselte das Unrecht und die rohe Gewalt in Deutschland. Besonders machten sich die gewaltsamen Methoden in den Gebieten bemerkbar, in denen die Bevölkerung noch nicht von den Ideen des Nationalismus infiziert war. In Mengerskirchen, dem Geburtsort von Franz Leuninger, wo auch die meisten seiner Angehörigen lebten, trat dieser Umstand sehr zutage. Dort war den Nationalsozialisten bislang bei keiner Wahl ein Einbruch in die Reihen der freiheitlich gesinnten Bevölkerung gelungen. Nur eine Handvoll Parteigänger zahlten sich zu der ,,neuen“ Bewegung. Diese entfalteten jedoch im Rausche der Macht eine erhebliche Aktivität. Dabei bedienten sie sich der Unterstützung Gleichgesinnter aus benachbarten Orten. Jeder ihnen Mißliebige wurde als Kommunist bezeichnet und mußte damit rechnen, auch aus unbegründetem Anlaß ihr Opfer zu werden. Als Domäne der Zentrumspartei über Generationen hinaus genoß Mengerskirchen in den Augen der neuen Machthaber einen ,,üblen“ politischen Ruf. Das führte zu den bösartigsten Exzessen. Der Bürgermeister wurde z. B. verhaftet und einige Tage in der Kreisstadt festgehalten. In der Nacht zum 13. Juli 1933 kamen Angehörige der SA und SS aus Nachbarorten und führten in vielen Häusern Haussuchungen durch, verhafteten ca. 30 Männer, mißhandelten sie und brachten sie nach Weilburg. Dort wurden sie oberflächlich vernommen und wieder nach Hause geschickt. Bei den Betroffenen handelte es sich durchweg um unbescholtene Personen. Die Denunzianten fanden sich in den Reihen der einheimischen Nationalsozialisten. Auch das Eltern haus von Franz Leuninger mußte eine Haussuchung im Rahmen der geschilderten Vorgänge über sich ergehen lassen. Angeblich sollte in dem Anwesen ein Maschinengewehr versteckt sein. Als die Suche im Haus ergebnislos verlief, brachen die Horden ein großes Loch in die alte Stadtmauer, die die Rückwand der
Scheune bildete und suchten dort weiter. Geradezu grotesk war dabei, daß der Vater, als Eigentümer des Grundstückes, in seinem Leben weder eine Schußwaffe besessen, noch benutzt und wahrscheinlich auch nie in der Hand gehabt hatte.
In jenen Tagen herrschte in Mengerskirchen zeitweilig ein besatzungsmäßiger Zustand: SA und 55 hatten alles umstellt und beschränkten die Bürger in ihrer Bewegungsfreiheit. Eine jüngere Tochter der Familie Leuninger wurde, nachdem sie beim Metzger Fleisch eingekauft hatte, von zwei SA-Männern mit aufgepflanztem Bajonett nach Hause begleitet. Schwerste Drohungen gegen die Bevölkerung ob ihrer politischen Gesinnung sprachen der Landrat und andere Personen aus. Daneben liefen auch viele Einzelaktionen. So verhaftete man eines Tages ein rechtschaffenes junges Ehepaar, führte es durch den Ort, während ihre kleinen Kinder weinend hinterherliefen. Der älteste Bruder von Franz Leuninger mußte sich, um einer Verhaftung zu entgehen, mehrere Tage in einem Kloster verstecken und ein jüngerer Bruder, der auf seiner Arbeitsstelle eine unbedachte Äußerung getan hatte, entging nur mit knapper Not den Händen der Schergen. Der Vater verlor, da ,,politisch unzuverlässig“, das Amt des Gemeinderechners. Der Bürgermeister und ein weiterer Mann holten mit Pferd und Wagen die Gemeindekasse und was dazu gehörte ab. In seiner Empörung zeigte der Vater mit der Hand zum Himmel und sagte: ,,Da oben ist einer der richtet und schlichtet“.
Was man auch anstellte – die Gestapo war zweimal in Mengerskirchen zu Verhören des Pfarrers und des Schulleiters, auf Grund von auswärtigen Anzeigen – nichts konnte die Gesinnung der Bevölkerung ändern. Im Hörterhaus lebte bis 1945 eine Jüdin versteckt. Noch im Jahre 1937 gab es nur 6 eingeschriebene Mitglieder der Nazipartei. Die letzte großangelegte Schulung im Herbst 1938 war ein Mißerfolg. Obwohl das Erscheinen der gesamten Bevölkerung angeordnet war, erschienen außer zwei Rednern nur der Ortsgruppenleiter, zwei SA-Leute, 2 Lehrer, der Förster und ein Neugieriger.
Die Vorgänge in Mengerskirchen, die sich anderwärts in ähnlicher und mitunter noch in grausigerer Form abspielten, waren der erste Nährboden für den Widerstand gegen den Unrechtsstaat Hitlers. Seine Machthaber bezeichnete einmal ein katholischer Professor als eine Räuberbande und nicht als Staatsgewalt. Indessen festigte sich diese Diktatur zum Teil mit Unterstützung in- und ausländischer Kräfte und Gruppen in unerhört kurzer Zeit, und zwar in einer Art, die jeden offenen Widerstand unmöglich machte. Schnell wurde das gültig, was Wilhelm Leuschner, der ehemalige Führer der Freien Gewerkschaften, im Jahre 1939 an einen englischen Gewerkschaftler übermitteln ließ: ,,Wir sind Gefangene in einem großen Zuchthaus. Zu rebellieren wäre genauso Selbstmord, als wenn Gefangene sich gegen ihre schwerbewaffneten Aufseher erheben würden.“
Diejenigen, die sich ein anständiges Denken bewahrt hatten, standen stärkstens gegen diesen Staat und seine Machthaber. Ein organisierter Zusammenschluß dieses Personenkreises war kaum möglich und selten von Dauer. So war meist der Einzelne auf sich selbst gestellt und konnte nur im Freundes- und Bekanntenkreis politisch wirken. Das geschah denn auch auf vielfältige Art. In diesem Zusammenhang kann die politische Tätigkeit der Emigranten unberücksichtigt bleiben. Es scheint, daß diese keine ins Gewicht fallende Bedeutung hatte, es sei denn, daß durch sie in mehr oder minder großem Umfange eine Verbindung zu politischen Gruppen im Ausland hergestellt wurde. Echter politischer Widerstand begann mit der Haltung einzelner Persönlichkeiten, die dem Regime die Mitarbeit versagten. Dies geschah im öffentlichen Dienst oder auch in anderen Institutionen, die der neue Staat für seine Zwecke umformen wollte. Hier ist vor allem Jakob Kaiser zu nennen, der eine führende Position in den christlichen Gewerkschaften einnahm. Er war denn auch schon frühzeitig der politischen Verfolgung ausgesetzt. Ein Bruder von Franz Leuninger, auch Funktionär der christlichen Gewerkschaften, erkannte ebenfalls die verhängnisvolle politische Entwicklung und löste sein Dienstverhältnis, noch ehe diese Organisation zerschlagen wurde. Ein solches Verhalten war vielfach nicht nur mit Existenznöten, sondern auch mit Gefahren für Leib und Leben des Betreffenden verbunden. Selten fand sich für solche Leute ein geeigneter Arbeitsplatz. Manche mußten sich mit einer kümmerlichen Vertretertätigkeit begnügen. Andere wiederum schafften sich mit der Übernahme eines kleinen Einzelhandelsgeschäftes eine bescheidene Lebensgrundlage. Sie resignierten aber nicht gegenüber der politischen Entwicklung, die sie kritisch beobachteten. Ihre Ansichten zu den politischen Ereignissen, getragen von der Ablehnung des Unrechtsstaates, tauschten sie in Freundes- und Bekanntenkreisen aus. Sie hielten Kontakt mit Menschen, die durch die Ereignisse unsicher und verwirrt wurden. So diente ihr Bemühen der Erhaltung einer moralischen Substanz unter den Mitbürgern im politischen Bereich. Dem Verfasser ist ein Mann bekannt, der in einer rheinischen Großstadt einen Lebensmittelladen betrieb und seine Ware zeitweilig auch in die Häuser seiner Kunden – es handelte sich dabei vielfach um Freunde aus den christlichen Gewerkschaften – brachte. Bei fast allen Besuchen wurden politische Gespräche geführt und Informationen ausgetauscht. In diesem Zusammenhang sei auch auf die Unterstützung hingewiesen, die man dem unter den politischen Verhältnissen Notleidenden zuteil werden ließ. Ein solches Verhalten barg nicht selten Gefahren in sich. Diese waren besonders groß, wenn es um die Unterstützung jüdischer Mitbürger ging. Den vorgenannten Lebensmittelhändler besuchte bis gegen Ende der dreißiger Jahre ein jüdisches Ehepaar, und zwar auch noch, als dieses schon im Getto lebte und nur noch zu bestimmten Zeiten und in eigens für Juden bestimmten Geschäften kaufen durfte. Trotz des Boykotts belieferte er es mit Waren aus seinem Laden. An seinem Schaufenster fehlte das Transparent ,,Deutsches Geschäft“, das sonst fast überall zu sehen war.
Die Ablehnung des Gewaltregimes äußerte sich auch vielfältig auf andere Weise: Es wurden die Teilnahme an Beflaggungen bei sogenannten nationalen Ereignissen verweigert und politische Veranstaltungen gemieden. Den Straßensammlungen der Nazi-Organisationen suchte man zu entgehen und die unvermeidbare Spende bei Haussammlungen war kärglich und wurde nur widerwillig gegeben. Das Elternhaus von Franz Leuninger in Mengerskirchen suchten die Sammler nur ungern auf, weil die geringfügige Spende gar oft von dem beißenden Spott des Vaters begleitet war. Große Teile der gläubigen Bevölkerung wandten sich einer verstärkten religiösen Betätigung zu. Ihre Aktivität steigerte sich insbesondere bei Veranstaltungen außerhalb des Kirchenraumes und wurde beispielsweise im katholischen Bereich an der starken Beteiligung der Fronleichnamsprozessionen deutlich. Alle diese Vorgänge wird man nicht als unmittelbaren Widerstand bezeichnen können. Aber sie standen in dem Raum, den man im weitesten Sinne als Widerstand bezeichnen kann. Die stummen Proteste waren von ungeheurem Wert, weil sie wenigstens einem Teil der Bevölkerung einen geistigen Zusammenhalt gegen das Aufgehen im Unrechtswesen des Hitlerstaates gaben. Wer so handelte, setzte sich öffentlich in Gegensatz zu diesem Staat und schloß sich nach der Anschauung der Herrschenden aus dem Staat aus. Einen Teil dieser Menschen wird man in allerbestem Sinne als ,,die Stillen im Lande“ bezeichnen können. Ohne sie wäre es nicht denkbar gewesen, den Unrechtsstaat zu beseitigen und eine Änderung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse herbeizuführen. Ohne ihren Rückhalt wäre ein aktiver Widerstand nicht möglich gewesen.
Als die Freiheit in Deutschland durch Hitler unterging, war Franz Leuninger Gewerkschaftssekretär in Breslau. Er teilte damals das Los derjenigen, die durch die Zerstörung der christlichen Gewerkschaften ihre Existenz verloren. Das war für den Familienvater mit drei kleinen Kindern eine schwere Belastung. Bei dem jüngeren Bruder in Köln, der unter gleichen Umständen in die ,,neue“ Zeit hineingerissen wurde, aber sich alsbald eine bescheidene Existenz aufgebaut hatte, suchte er nach Möglichkeiten, das gleiche zu tun. Diese Absicht ließ sich allerdings nicht verwirklichen. Indessen ergab sich für ihn in Breslau eine neue Lage.
Bereits vor 1933 war Franz Leuninger ehrenamtlicher Geschäftsführer der Gemeinnützigen Siedlungsgesellschaft ,,Deutsches Heim“, einer Tochtergesellschaft der ,,Schlesischen Heimstätte“. Dieses Unternehmen wurde vorwiegend von der christlich-sozialen Bewegung getragen. Die Verantwortlichen rekrutierten sich aus den christlichen Gewerkschaften, über die konfessionellen Standesvereine bis hin zu dem politisch orientierten christlich-sozialen Volksbund, dessen Anhänger vorwiegend evangelische Christen waren. Mit der Änderung der politischen Verhältnisse bestand die Gefahr, daß das Unternehmen in die Hände der Nationalsozialisten geraten werde. Mit allen Mitteln versuchte man, dies zu verhindern und scheute dabei auch Manipulationen hinsichtlich der Verteilung der Geschäftsanteile der Gesellschaft nicht. Vor allem ging es um die hauptberufliche Besetzung des Geschäftsführerpostens, den Franz Leuninger seither ehrenamtlich verwaltet hatte. Hierbei war nicht ausgeschlossen, daß ein ,,Parteibeauftragter“ diese Position einnehmen würde, womit zwangsläufig der Einfluß der Kräfte ausgeschaltet worden wäre, die das ,,Deutsche Heim“ aufgebaut und getragen hatten. Dieser Umstand veranlaßte die Verantwortlichen zu dem Versuch, ihn, der ja diese Aufgabe seither offensichtlich mit Erfolg wahrgenommen hatte, für den Posten des hauptberuflichen Geschäftsführers zu gewinnen. Dabei war man, wie August Weimer ausdrücklich feststellt, bestrebt zu verhindern, daß die Gesellschaft in den direkten Einflußbereich der Nationalsozialisten komme und daß andererseits der eigene Einfluß gesichert bliebe. Darüber hinaus versprach man sich auch von dieser Regelung die Möglichkeit der Unterstützung von gewerkschaftlichen und politischen Freunden, die durch die politische Entwicklung zu Schaden gekommen waren oder noch kommen konnten.
Der Umstand, daß Franz Leuninger die Geschäftsführung übernahm, wirkte sich gerade auf den letztgenannten Gesichtspunkt positiv aus. In der Tat war es ihm möglich, manchen Freunden bei dem Aufbau und der Erhaltung einer Existenz zu helfen. Da ist zunächst August Weimer, langjähriges Mitglied des Bundestages und Mitglied des Hauptvorstandes der Industriegewerkschaft Bau-Steine-Erden, zu nennen, der bis zum Jahre 1933 Gewerkschaftssekretär und ein enger Mitarbeiter von Franz Leuninger war. Dieser, aus einem baugewerblichen Beruf kommend, machte sich, nachdem er unter schwersten persönlichen Opfern im Jahre 1936 die Meisterprüfung im Malerhandwerk abgelegt hatte, selbständig und wurde seitdem in erheblichem Umfange mit Aufträgen seitens des ,,Deutschen Heimes“ unter der entscheidenden Mitwirkung von Franz Leuninger bedacht. Das war damals für einen jungen Unternehmer, der ,,parteipolitisch“ nicht mehr aufzuweisen hatte als eine ,,schwarze Vergangenheit“, insbesondere für seine wirtschaftliche Existenz von entscheidender Bedeutung. Hierbei ist hervorzuheben, daß die Aufträge an Weimer teilweise aus öffentlichen Mitteln finanziert wurden.
Auf der gleichen Ebene lagen die Beziehungen des ehemaligen sozialdemokratischen Polizeipräsidenten von Breslau, Fritz Voigt, zu der Siedlungsgesellschaft ,,Deutsches Heim“. Auf Anregung von Franz Leuninger betätigte sich dieser als Grundstücksmakler. Es ist anzunehmen, daß Voigt mit seinem Unternehmen vorwiegend der Geschäftspartner der Siedlungsgesellschaft war und durch Franz Leuninger eine entsprechende Förderung und Unterstützung erfuhr. Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf den Ofensetzermeister Beck von Breslau, der durch den katholischen Gesellenverein mit Franz Leuninger bekannt war und durch dessen Vermittlung viele Aufträge für das ,,Deutsche Heim“ ausführte. Das Motiv für diese Haltung Franz Leuningers lag ausschließlich in der Verbundenheit mit allen Gegnern des nationalsozialistischen Unrechtsstaates.
Jeder, der auch nur annähernd mit den Verhältnissen im Hitlerstaat vertraut war, wußte, daß die vorstehend dargelegte Haltung Gefahren in sich barg. Zumindest konnte sie zu seiner Abberufung als Geschäftsführer der Siedlungsgesellschaft führen. Die Situation schildert Kurt Henke, ein Schlesier, der nach 1945 eine neue Heimat in Rohnstadt (Oberlahnkreis) fand, so:
,,Als aktiver Gewerkschaftler, dem freigewerkschaftlichen Baugewerksbund angehörend, wurde ich 1933 vier Monate in ,Schutzhaft‘ genommen. Auf Grund meiner fachlichen Qualifikation als Polier im Baugewerbe und meiner Erfahrung im schlesischen Siedlungswesen fand ich im Jahre 1938 in Breslau eine Anstellung als Bauleiter bei der ,Schlesischen Heimstätte‘. Hier begegnete ich Franz Leuninger. Schnell entwickelte sich zwischen ihm und mir eine gute Zusammenarbeit, die zu einer gegenseitigen fachlichen und menschlichen Respektierung führte. Für die Annäherung hat das Gefühl der Verbundenheit aus unserer gewerkschaftlichen und politischen Vergangenheit sicherlich eine große Rolle gespielt. Franz Leuninger war mir einer der liebsten Menschen, denen ich damals im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit begegnet bin.
Mir war auch zu jener Zeit das Verhältnis zwischen ihm und dem ehemaligen Polizeipräsidenten Voigt bekannt. Ganz offensichtlich versuchte Franz Leuninger Voigt zu helfen und zu decken. Ich weiß, daß die beiden sich oft in den Geschäftsräumen des ,Deutschen Heims‘ getroffen haben. Mein Empfinden damals war, daß sich aus diesem Verhältnis für Franz Leuninger schwerwiegende politische Schwierigkeiten ergeben konnten.“
Allerdings führte seine berufliche Tätigkeit zwangsläufig zu Kontakten mit Behörden und Parteiorganisationen. Durch Geschicklichkeit und Erfahrung, verbunden mit großen persönlichen Opfern, gelang ihm die Tarnung, obwohl er den damaligen Machthabern, wie August Weimer berichtet, immer als verdächtig galt. Im übrigen hatten seine Freunde, die die Zusammenhänge kannten, für alle seine Schritte Verständnis, um den Verdacht der ,,Unzuverlässigkeit“ von sich abzulenken, wozu auch die nominelle Parteimitgliedschaft gehörte. Seine wahre politische Überzeugung wurde von ihnen nie in Zweifel gezogen. Immerhin war jene Zeit für ihn, den freiheitlichen Arbeiterführer und Politiker eine schwere nervliche und seelische Belastung. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß Franz Leuninger zu einem Dr. Helbig, der als Finanzwissenschaftler für das ostdeutsche Siedlungswesen tätig war und wegen seiner jüdischen Ehefrau von dieser Aufgabe entbunden wurde, enge persönliche Kontakte pflegte und diesen oft in seine Wohnung einlud.
Mit seinen Freunden lebte Franz Leuninger in engen persönlichen Beziehungen und führte ständig vertrauliche politische Gespräche mit ihnen. August Weimer wurde beispielsweise von ihm über alle wichtigen Begebenheiten und Vorgänge im politischen Bereich unterrichtet, die normalerweise nur durch die ausländischen Sender zu hören waren, allerdings mit dem Unterschied, daß es Franz Leuninger vielfach früher wußte, als es die Radionachrichten brachten. Über familiäre und freundschaftliche Verhältnisse hinaus kam es auch zu politischen Gesprächen mit anderen Gleichgesinnten. Bereits in den Jahren 1937/38 fanden wiederholt in seinem Büro solche Gespräche statt, an denen neben Weimer und Voigt auch andere Persönlichkeiten teilnahmen.
Mit diesen Feststellungen ist aber auch dargetan, daß der Widerstand sich nicht erst formierte, als die militärische Niederlage Deutschlands im zweiten Weltkrieg offenkundig wurde. Auch Franz Leuninger stand schon sehr zeitig in den Reihen derjenigen, denen es auf die Beseitigung des Unrechtstaates ankam, und die an dessen Stelle eine bessere und gerechtere Ordnung in allen Lebensbereichen setzen wollten. Jakob Kaiser, der Franz Leuninger schon aus dessen gewerkschaftlicher Tätigkeit in Schlesien kannte und schätzte, sagte: ,,Es entsprach einer Selbstverständlichkeit, daß ich nach 1933 mit Franz Leuninger in steter Verbindung geblieben bin. Leuninger gehörte bis zum Schluß, neben dem früheren Polizeipräsidenten Voigt, in Breslau zu den schlesischen Vertrauensleuten der Widerstandsgruppe die sich um Karl Friedrich Goerdeler und Generaloberst Ludwig Beck geschlossen hatte.“ Elfriede Kaiser-Nebgen bekräftigte dies mit den Worten: ,,in Breslau wirkte der ehemalige Gewerkschaftsführer Franz Leuninger schon früh mit dem aus den freien Gewerkschaften stammenden sozialdemokratischen Polizeipräsidenten Voigt und dem freien Gewerkschaftler Wirsisch im Widerstand zusammen.“
Die Motive für das Handeln von Franz Leuninger im Widerstand decken sich mit denjenigen der anderen Widerstandskämpfer, ,,die durchweg religiös und sozial gebunden waren Er litt mit ihnen unter den Nöten der Unfreiheit und der Ungerechtigkeiten des totalitären Systems, die mit dem Krieg ihren Höhepunkt erreichten. An dem Feldzug gegen Polen nahm er als Vierzigjähriger aktiv teil. Unberührt von den militärischen Erfolgen des deutschen Heeres bewegte ihn die Not und das Elend der Menschen, die unmittelbar in das Kriegsgeschehen verwickelt waren. In dieser Situation legte er in einem Brief an einen seiner Brüder seinen Standpunkt zum Krieg dar mit den Worten: ,,Es gibt nichts, was einen Krieg rechtfertigt, und es ist jedes Mittel erlaubt, das einen Krieg verhindert.“ Er war sich zu jeder Zeit darüber klar, daß Hitler den Krieg nicht gewinnen konnte und auch nicht gewinnen durfte. Mit August Weimer teilte er die Meinung, daß im Falle eines Sieges, sie und alle Gleichgesinnten aller Rechte – auch das auf Leben – verlustig gehen würden.
Seinen Familienangehörigen und seinen Freunden stand Franz Leuninger rein menschlich immer sehr nahe und auch in ihrer politischen Gesinnung wußte er sich mit ihnen verbunden. Aber selbst in diesen Kreisen ist über seine Tätigkeit im Widerstand wenig bekannt, so daß eine umfangreichere Darstellung derselben nicht möglich ist. August Weimer und andere ihm nahestehende Menschen, die sein Vertrauen hatten, hat er lediglich dahingehend unterrichtet, daß es Widerstandsgruppen gibt, sie jedoch nicht darüber aufgeklärt, daß er einer solchen angehört. So hat man schon gar nichts über irgendwelche Funktionen, die er im Rahmen des Widerstandes ausgeübt hat, in Erfahrung bringen können. Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang vielleicht die Tatsache, daß er, als die Bombenangriffe vor allem auf die westdeutschen Großstädte erfolgten, des öfteren Reisen nach Westdeutschland unternahm, um sich als Fachmann im Wohnungsbau über die Auswirkungen der Bombenangriffe zu informieren. Es ist wohl die begründete Vermutung geäußert worden, daß der genannte Zweck dieser Reisen eine Tarnung war für die Ausführung irgendwelcher Aufträge der Widerstandsbewegung. Es ist zu bedenken, daß die Widerstandsgruppen und ihre Angehörigen untereinander Informationen nur im persönlichen Gespräch austauschen und Kontakte pflegen konnten und weder schriftlich noch fernmündlich tätig werden durften.
Indessen besagen einige bekannte Fakten, daß Franz Leuninger eine nicht unerhebliche Aktivität in der Widerstandsbewegung entwickelt haben muß. So reiste er des öfteren nach Berlin, wo er mit Jakob Kaiser Gespräche führte. Hieran nahm auch einmal Fritz Voigt teil. Hermann von Lüninck erinnert sich an eine Besprechung im Herbst 1943 in Berlin, deren Teilnehmer u. a. Goerdeler, Jakob Kaiser und Franz Leuninger waren. Es ging dabei um sozialpolitische und Ernährungsfragen nach einem erfolgreichen Umsturz.
Die Unruhe über die Entwicklung in Deutschland, insbesondere hervorgerufen durch das Kriegsgeschehen, die sich unter seinen Freunden und Familienangehörigen immer mehr steigerte, veranlaßte Franz Leuninger hin und wieder zu Äußerungen, die beruhigend und tröstend wirken sollten. In vorsichtiger Form wies er auf Kräfte hin, die bestrebt seien, das Chaos zu beseitigen und die Ordnung wiederherzustellen. Diese Haltung
erreichte einen dramatischen Höhepunkt bei seinem letzten Besuch in Mengerskirchen im Frühjahr 1944, gelegentlich einer Reise nach Westdeutschland. An einem Abend war er mit seinen nächsten Angehörigen im Elternhaus versammelt. Bedrückend war die Atmosphäre, die durch die Nöte und die Sorgen der anwesenden Frauen und Mütter hervorgerufen wurde. Die Väter und erwachsenen Söhne standen im Kriegsgeschehen. Er aber sprach von der Hoffnung auf ein Ende der Schrecken, das nicht mehr ferne sei. Männer wären bereit, ihr Leben dafür einzusetzen, weil sie das ihrem Volke schuldig zu sein glaubten. Die Soldaten an der Front stünden immer in Lebensgefahr. Aber es muß ihn doch eine bange Ahnung erfüllt haben, denn ehe man auseinanderging, hakten sich alle auf sein Geheiß in die Arme, wobei er sagte: ,,Es werden aber doch noch schwere Zeiten kommen und dann müßt ihr alle so zusammenstehen, wie in diesem Augenblick.“ Noch deutlicher wurde die Ahnung an ihm sichtbar, als er Abschied nahm, um die Rückreise nach Breslau anzutreten. Seinen alten Vater umarmte er dreimal und sein lautes Schluchzen, das er zu unterdrücken suchte, schüttelte seinen ganzen Körper. Zu seinen Schwestern sagte er, daß er seinen Vater wohl nicht mehr sehen werde und zu ihnen würde er sicher lange Zeit nicht mehr kommen können. Der Krieg sei verloren, Deutschland werde in Zonen eingeteilt und dann sei das Reisen unmöglich. Seine älteste Schwester fragte er noch, ob ihre Söhne auch keine Nazis seien; es wäre furchtbar, wenn sie mit diesen Verbrechern etwas zu tun hätten.
Und dann kam der 20. Juli. Einige Tage vorher sprach er noch in engstem Familienkreis über die Konzentrationslager und die Gewaltherrschaft. ,,Die Verbrechen sind so furchtbar, daß sie nur mit dem Blut der Besten gesühnt werden können.“ So seine Worte! Die Nachricht von dem Attentat und seinem Mißlingen erreichte ihn in seinem Büro in Breslau. Es trieb ihn nach Hause, wo er seine Frau und seine Schwägerin antraf. In tiefer Bestürzung sprach er über die Geschehnisse, die ihn auffällig nachdenklich stimmten. Es war, ohne daß er es kundtat, die Sorge um das Schicksal der eigenen Person und das der Schicksalsgefährten. Schon am 22. Juli benachrichtigte man ihn von der Verhaftung Voigts durch die Gestapo. Sofort setzte er sich mit einem Rechtsanwalt und anderen Persönlichkeiten in Verbindung, um über dessen Schicksal Näheres zu erfahren, wodurch er sich selbst in Gefahr begab. Weitere Verhaftungen von Bekannten erfolgten. Bei den Informationen hierüber verwendete man Decknamen und verschlüsselte Wortlaute. Wenige Wochen später erreichte auch ihn sein Schicksal. Die Gestapo holte ihn von seinem Büro ab. Die Vorwürfe, die man gegen ihn erhob, vermittelt ein Auszug aus dem Haftbefehl gegen Franz Leuninger, in dem folgendes zu lesen ist:
,,Leuninger hat bereits in den Jahren 1941/42 von dem ihm von früher gut bekannten ehemaligen sozialdemokratischen Gewerkschaftssekretär Fritz Voigt erfahren, daß gewisse Kreise des Adels und der Wirtschaft zur Herbeiführung eines Sonderfriedens mit den Westmächten eine Änderung der Regierung anstrebten. Dies wurde ihm später von dem früheren Landesgeschäftsführer der Christlichen Gewerkschaften, Jakob Kaiser, in Berlin bestätigt, der ihm auch nähere Mitteilungen über die geplante Überführung der DAF in eine deutsche Einheitsgewerkschaft machte. Wenn Leuninger auch über die Kräftegruppe, die hinter der neuen Bewegung stand, und über ihren Weg nicht näher unterrichtet gewesen sein will, so nahm er doch an, daß sich diese Gruppe unter der Beseitigung der gegenwärtigen Regierung auf irgendeine Art der Gewalt im Staate bemächtigen würde. Obwohl er also über den hochverräterischen Charakter dieser Bestrebungen nicht im Zweifel sein konnte, unterließ er nicht nur eine Anzeige, sondern beteiligte sich im Spätherbst 1943 in der Wohnung Voigts in Breslau, zusammen mit Voigt, dem früheren sozialdemokratischen Gewerkschaftssekretär Wirsisch und dem früheren sozialdemokratischen Landrat Winzer an der Erörterung der Frage, wer bei der Regierungsänderung für den leitenden politischen Posten in Niederschlesien in Frage käme. Auch Leuninger erklärte sich zur Mitarbeit für die neue Regierung durch Überwachung der wirtschaftlichen Organisation bereit.“
Dieser Auszug umfaßt nur einen Abschnitt aus der Tätigkeit Franz Leuningers im Widerstand, wie die Darlegungen im vorstehenden Kapitel zeigen. Für die Machthaber reichte aber das in dem Haftbefehl Gesagte aus, um ihn ins Gefängnis zu bringen.
Gefängnis und Tod
Schau die Gefängnisse, ganz angefüllt mit Menschen, die zum Tode verurteilt sind: Man sollte glauben, nur Verbrecher zu sehen, und man sieht nichts als Helden.
Nachtgedanken des Heiligen Augustinus.
Ursprünglich waren die verhafteten Angehörigen der Widerstandsbewegung ,,20. Juli 1944″ in verschiedenen Gefängnissen des Reichsgebietes untergebracht. Johannes Albers, ehemals Kartellsekretär der christlichen Gewerkschaften in Köln und Vorgänger eines Bruders von Franz Leuninger, wurde, nachdem ihn die Gestapo schon Monate vorher gesucht hatte, am 24. Oktober 1944 verhaftet. Gemeinsam mit Heinrich Körner, ebenfalls ein Funktionär der christlichen Gewerkschaften in Köln, war er zunächst im Zuchthaus Rheinbach inhaftiert. Über das Untersuchungsgefängnis in Fürstenberg/Mecklenburg kam Franz Leuninger im Januar 1945 nach Berlin Moabit. Diese Situation ergab sich wohl aus der Tatsache, daß die Widerstandsgruppe ,,20. Juli“ sich trotz der verhältnismäßig geringen Zahl ihrer Angehörigen, über das ganze Reichsgebiet erstreckte. Hermann Freiherr von Lüninck, der auch dazugehörte, glaubt ernsthaft, daß zum Zeitpunkt des 20. Juli nicht mehr als 200 Personen beteiligt waren. Erst im Laufe der auf das Attentat folgenden Monate erfolgte die Zusammenführung der inhaftierten Widerstandskämpfer ins Gefängnis Berlin-Moabit. Bis dahin kannten sie sich vielfach nicht untereinander, was auf die streng geheime Tätigkeit des Einzelnen im Widerstand zurückzuführen ist. Johannes Albers hörte von der Zugehörigkeit Franz Leuningers zur Widerstandsgruppe erstmalig in der Haftzeit am 9. Dezember 1944. Die erste Begegnung zwischen beiden, die sich von ihrer gewerkschaftlichen Tätigkeit her kannten, war am 18. Januar 1945 im Moabiter Gefängnis beim ,,Spaziergang“.
In Moabit waren sie alle – soweit noch nicht tot oder noch in Freiheit – versammelt; Angehörige jeglicher Gesellschaftsschichten und politischer Gesinnungen. Vom Adligen über den Offizier und Beamten bis zum Gewerkschaftssekretär, vom liberalen Demokraten bis zum Sozialdemokraten ,,und selbst Verbindungsleute bis hin an die Grenze des Kommunismus~. Nach der Auffassung von Lüninck stellten das Hauptkontingent Männer christlich-konservativer und christlich-sozialer Prägung. Alle aber hatte der Wille geeint, den Unrechtsstaat zu beseitigen und an seine Stelle Ordnung und Recht zu setzen. Schwer trugen die Gefangenen an ihrem Schicksal. Die Haft war ausgefüllt mit seelischen Qualen und körperlicher Not. Bis etwa Mitte Januar bestand in Moabit strenge Einzelhaft. Neben der ungewissen persönlichen Zukunft und bei manchen die Vorahnung des sicheren Todes mag vor allem die Sorge um Heimat und Volk und die Familie die größte Rolle gespielt haben. Man wird davon ausgehen dürfen, daß Franz Leuninger um seine Frau und seine drei Söhne große Not ausgestanden hat. Seine Frau hielt sich in den ersten Monaten der Haft allein in Breslau auf und die Söhne im Alter von 16 bis 20 Jahren standen an der Front. Zeitweilig war ihm deren Schicksal völlig unbekannt. Seine Sorge ist auch in Gesprächen mit seinen Mitgefangenen zum Ausdruck gekommen, wie von Lüninck und Albers bestätigten. Sie ist aber auch durch einen Brief belegt, den er bereits am 13. Oktober 1944 aus dem Gefängnis Fürstenberg an drei seiner Brüder schrieb, der folgenden Wortlaut hatte:
Fürstenberg, den 13.10.44
Meine lieben Brüder Aloys und Schorsch!
Über mein Schicksal werdet Ihr wohl von meiner Frau unterrichtet sein. Ich bin nicht in der Lage, Euch öfter zu schreiben; daß ich das heute kann, verdanke ich dem Entgegenkommen des Beamten, der meine Sache bearbeitet. Während ich Euch nicht schreiben kann, dürft Ihr mir aber schreiben und ich bitte Euch herzlich darum.
Meine Zukunft ist ja nun recht unklar, und ich möchte doch alles, soweit mir das möglich ist, in Ordnung bringen. Mit gleicher Post geht ein Brief gleichen Inhalts an Bruder Josef ab. Ich weiß nicht, ob und wann es mir möglich ist, für meine Familie zu sorgen. Deshalb, meine lieben Brüder, habe ich an Euch die große Frage und herzliche Bitte: Werdet Ihr, Josef, Alois und Schorsch für meine drei Jungen sorgen, wollt Ihr jeder je ein Vater sein, wenn ich es nicht mehr kann? Josef für Franz, Du Alois für Walter und Du Schorsch für Herbert? Wollt Ihr für sie sorgen, als ob es Eure eigenen wären? Für die ersten 1-2 Jahre ist für Paula und auch die drei geldmäßig gesorgt. Am besten wird ja sein, wenn Paula nach dem Krieg das Häuschen in Breslau verkauft und zu Euch nach dem Westen zieht. Helft ihr bitte dabei, daß sie wieder Boden unter die Füße bekommt. Einige tausend Mark werden ja bei dem Verkauf des Hauses bleiben. Franz hat das erste Semester auf der Staatsbauschule fast beendet, Walter hat noch 1 1/2 Jahre bis zum Abitur, während Herbert noch 2/12 Jahre braucht. Je ein Testament lege ich bei, welches Du, Schorsch, und Du, Josef, aufbewahren willst. Ich kann Euch nicht zwingen, meinen Wunsch zu erfüllen und es wird auch für Euch nicht leicht sein, ihn zu erfüllen. Ich bitte Euch aber unter Berufung auf das Wort: ,,Was Ihr dem geringsten meiner Brüder getan, das habt Ihr mir getan“ und ich bin doch jetzt der geringste meiner Brüder.
Es wäre für mich eine unendliche Beruhigung, von Euch recht, recht bald eine Nachricht zu erhalten, in der Ihr mir bei unserer guten Mutter versprecht, meinen Wunsch zu erfüllen. Gebt mir also, bitte, bald Bescheid. Seid auch so gut und schreibt meiner armen Frau, die ja alleine in Breslau sitzt und sich um ihre drei Jungen und den Mann sorgt, ab und zu ein paar Zeilen und unterstützt sie, falls noch Schwereres über sie kommen sollte. Falls ich es Euch nicht lohnen und vergelten kann, wird es sicher der Herrgott tun. Ihr wollt aber von diesem Brief niemand auch nur andeutungsweise Kenntnis geben.
Und nun, meine lieben Kerle, lebt wohl. Tragt mir nicht nach, wenn ich Euch jemals Schmerz bereitet habe, und vergeßt mich nicht.
Möge es Euch allezeit so gut gehen, wie Ihr es Euch wünscht.
Der Brief richtete sich an die Brüder, welche jeweils die Taufpaten der Söhne waren. Damit entsprach Franz einem alten Brauch, nach welchem die Taufpaten über den religiösen Bereich hinaus für ihre Patenkinder neben den Eltern in besonderem Maße die Verantwortung tragen. Nachstehend der Auszug aus der Antwort eines der in dem Brief vom 13. Oktober aus Fürstenberg angesprochenen Brüder: ,,Du bist der brave Sohn unseres guten Vaters und das liebe Kind unserer heimgegangenen Mutter. Du bist mein Bruder. Mein höchster Wunsch ist – und das sind meine Gedanken und darum flehe ich -, daß Du stark sein mögest. Es wird uns zeitlebens – ganz gleich, was kommt – eine Beruhigung sein, von Dir zu wissen, daß Du seelisch ungebrochen den Weg gehst, wozu Du durch die Verhältnisse gezwungen wirst. Ich weiß von Dir, daß es so sein wird.
Ich will Deinem Sohn, soweit es von mir abhängt und wenn es einmal nötig sein sollte, so Vater sein, wie meinen eigenen Kindern. Das verspreche ich Dir bei dem Andenken unserer Mutter. Unsere Familiengemeinschaft ist groß und besitzt Werte, die jedem von uns Halt und Stütze sein können. Wenn die Bitterkeit und Einsamkeit Dich überkommen wird, dann denke daran, daß wir alle Deiner in Liebe und Sorge gedenken.
Du bist nicht der Geringste, mein Bruder. Du bist der Beste, Du bist uns der Liebste.“
Zu persönlichen Begegnungen zwischen Franz Leuninger und seinen Angehörigen ist es während der Haftzeit mit einer Ausnahme nicht gekommen. Das hatte verschiedene Gründe. Vor allem mag es daran gelegen haben, daß die nächsten männlichen Verwandten alle unmittelbar in das Kriegsgeschehen verwickelt und gehindert waren, direkte Beziehungen zu ihm herzustellen. Ein Versuch, einen guten Bekannten in Berlin dafür zu gewinnen, scheiterte. Hinzu kommt, daß die Angehörigen keinerlei Kenntnis über den Personenkreis der Widerstandsgruppe hatten und daher auch keine Informationen über Angehörige anderer Inhaftierter erhalten konnten. Zu berücksichtigen sind bei alledem die damaligen Schwierigkeiten einer Reise nach Berlin vom Westerwald aus, wo die Verwandten einschließlich seiner inzwischen aus Breslau geflüchteten Frau lebten. Umso Alois Leuninger Franz Leuninger zum Gedenken 20.Juli 1944 Mengerskirchen 1970 (vollständiger Text ohne Bilder) Die Männer des Widerstandes „20. Juli 1944″ kamen aus den verschiedensten gesellschaftlichen Schichten und Berufsständen. Die Zahl derjenigen, die der Arbeiterschaft angehörten oder durch ihre Herkunft mit dieser verbunden waren, ist beachtlich. Einer von ihnen war Franz Leuninger. Die vorliegende Schrift ist in der Absicht verfaßt, ein Bild von den Lebensbereichen zu zeichnen, denen er entstammt und die ihn geprägt haben. Dazu gehört vor allem das Elternhaus im Westerwald, das ihm die Grundlagen für das Leben vermittelte. Sein Weg führte über den Wanderarbeiter im Baugewerbe hin zum Gewerkschaftssekretär. Er liebte die Freiheit und das Recht, die er auch im politischen Raum zu verwirklichen suchte! Nur in einem kurzen Lebensabschnitt war er infolge seiner beruflichen Tätigkeit in einer sozial gehobeneren Position. Aber auch in dieser Zeit blieb er jener Volksschicht verbunden, der er entstammte und deren Los er so lange trug. Der Inhalt der Schrift stützt sich, soweit nicht anders erkennbar, auf persönliche Kenntnisse des Verfassers und auf Informationen von Personen, die Franz Leuninger begegnet sind. An dieser Stelle sei allen gedankt, die in liebevoller Weise die Arbeit unterstützten. Nur wenige Namen sind genannt, die aber für alle stehen. Mengerskirchen, im März 1970. Der Verfasser DIE HEIMAT Land und Leute Mengerskirchen liegt im Südteil des Westerwaldes. Es gehört nicht mehr zu jener Landschaft, die als hoher Westerwald bezeichnet wird, wenn auch seine Gemarkung in nördlicher Richtung zum Teil in sie hineinreicht. Eingebettet in einer Talmulde südlich des Knoten (604 m) ist es Grenzgebiet des Westerwaldes. Weniger als 10 Kilometer Luftlinie trennen es von der Lahn, der natürlichen Grenze zwischen Westerwald und Taunus. Indessen entspricht der Gemarkungsteil am Südhang des Knoten weitgehend dem Landschaftscharakter des hohen Westerwaldes; eine ausgedehnte Viehweide, dicht besät mit Basaltblöcken und Grauwacken, gekrönt durch den ,,Galgenkopf“, einer hohen Klippe aus mächtigen Steinquadern. Ein Drittel der 1078 ha großen Gemarkung ist Wald, der andere Teil, von einigen kleineren Flächen abgesehen, wird landwirtschaftlich genutzt. Der Boden ist allerdings von sehr unterschiedlicher und oft minderer Qualität. Die Gemarkung gab deshalb nicht her, was die 1041 Einwohner, die Mengerskirchen im Jahre 1905 hatte, zum Leben benötigten; zu Ende des Dreißigjährigen Krieges betrug die Einwohnerzahl vielleicht noch zweihundert. Ehedem muß die wirtschaftliche und soziale Situation in dem großen Marktflecken recht gut gewesen sein, was daraus hervorgeht, daß dort bereits im 18. Jahrhundert ein Arzt ansässig war. Allerdings bekam Mengerskirchen keinen Anschluß an die moderne Industriewirtschaft. Dies hat seine Gründe in der ungünstigen geographischen Lage des Ortes abseits größerer Verkehrswege und dem Fehlen hochwertiger Bodenschätze wie Kohle und Erz. Der Bau der Kerkerbachbahn im Jahre 1908 hatte nur vorübergehend eine geringfügige Änderung der Verhältnisse zur Folge. Nur eine kleine Anzahl Männer fand in der damaligen Zeit Arbeit beim Abbau von Basalt- und Tonvorkommen. Den Abtransport besorgte die Kerkerbachbahn, die auch einen Personenverkehr zur Lahnbahnstrecke durchführte. Bis dahin verkehrte die Postkutsche zwischen Mengerskirchen Weilburg Rennerod, die Personen und Postgut beförderte. Den übrigen Transport besorgten Fuhrleute mit Pferdegespannen. Mit der starken Bevölkerungsvermehrung, die zu Ende des 17. Jahrhunderts einsetzte, wuchsen auch Armut und Not. Ganz sicher hat man in Mengerskirchen schon sehr frühzeitig versucht, diesen Fakten durch die Schaffung von Verdienstmöglichkeiten entgegenzuwirken. Beweis hierfür ist eine öffentliche Spinnerei, die aber nicht lange bestand, und das Gewerbe der Nagelschmiede, das bereits um die Mitte des 18. Jahrhunderts von einer größeren Zahl von Handwerkern ausgeübt worden sein dürfte. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts waren zeitweilig bis zu 150 Nagelschmiede in Mengerskirchen tätig. Das Einkommen aus dieser Arbeit war gering. Deshalb gaben mit dem steigenden Bedarf an Arbeitskräften im rheinisch-westfälischen Industriegebiet viele Nagelschmiede ihre ganzjährige Tätigkeit als solche auf und suchten Arbeit vorwiegend im Baugewerbe. Das führte vielfach zur Trennung von der Familie über Monate hinaus. Nur im Winter waren die Männer zu Hause und arbeiteten in dieser Zeit als Nagelschmiede, ebenso wie die Kleinbauern während der arbeitsarmen Zeit in der Landwirtschaft zusätzliches Einkommen durch die Fertigung von Nägeln suchten. Hin und wieder gab es auch noch andere Verdienstmöglichkeiten, wie beispielsweise beim Straßenbau, die jedoch nur kurzfristig waren. In diesem Zusammenhang ist auch noch auf die Konsolidierung der Gemarkung, den Bau der Wasserleitung und Kanalisation in dem letzten Jahrzehnt vor dem ersten Weltkrieg hinzuweisen. In den Wintermonaten waren Kleinbauern als Holzfäller im Gemeindewald beschäftigt. Aber die Existenzgrundlage des überwiegenden Teils der Bevölkerung waren die Landwirtschaft, die Tätigkeit der Männer als Bauarbeiter in der Fremde und das Nagelschmiedegewerbe. Gewiß war der Verdienst gerade der Nagelschmiede gemessen an der Leistung gering, aber die Arbeit brachte Bargeld, an dem es meistens mangelte. Es hat Zeiten gegeben, in denen in einer Winterarbeitswoche in Mengerskirchen 1,2 Millionen Schuhnägel geschmiedet wurden. Das dürfte einen Gesamtwochenverdienst der Nagelschmiede von etwa 1500 Mark ergeben haben. Wenig genug, denn es entfielen auf den einzelnen Nagler im Durchschnitt etwa 10 Mark. Wesentlicher war das, was die Bauarbeiter in der Fremde von ihrem Lohn für die Familie erübrigten. Die Kleinbauern hatten mitunter auch dadurch einen kleinen Nebenverdienst, daß sie für Familien, die kein eigenes Fuhrwerk besaßen, einige Äcker mitbestellten. Man nannte sie ,,Äckermänner“. Eine kleine Begebenheit möge auch zeigen, wie man Bargeld schätzte: Der Vater des Verfassers übernahm von einem befreundeten jüdischen Viehhändler den Auftrag, mit seinem eigenen Kuhgespann einen Bauemwagen von Mengerskirchen nach dem etwa 12 km entfernten Steinbach zu bringen. Hierfür bekam er 3 Mark. Franz damals etwa 12 Jahre alt machte die Fahrt mit, zu der man mehr als 6 Stunden benötigte. In Steinbach nahmen der Vater und er einen kleinen Imbiß für 25 Pfennige zu sich, der aus einem Glas Bier und zwei Portionen trockenen Brotes bestand. So verblieben als Entgelt für den aufwendigen und strapaziösen Auftrag 2,75 Mark, wobei noch zu berücksichtigen ist, daß die Kühe, wegen des langen Weges, am Abend weniger Milch gaben als sonst. Das Bild der Landschaft wurde durch den bäuerlichen Kleinbetrieb geprägt. Mehr als 150 Kleinbauern mühten sich auf der Scholle um Nahrung für ihre meist großen Familien. Von einigen Ausnahmen abgesehen, erfolgten Bestellung und Ernte mit einem Gespann von 2 Kühen. Bauemwagen, Ackerpflug und Nebengeräte wurden von den ortsansässigen Handwerkern hergestellt. Als Nahrungsmittel spielte die Kartoffel eine große Rolle. Ihr Anbau war weniger risikoreich als der anderer Erzeugnisse, und der Ertrag sicherte weitgehend die Ernährung der Familie. Anbau, Bearbeitung und Ernte der Kartoffel waren mühsam und erforderten viel menschliche Arbeitskraft. So erfolgten Jäten, Ausgraben, Auflesen und Versacken von Hand. Wesentlich war dabei die Möglichkeit des Einsatzes von Frauen und Kindern. Größere Familien mit eigener Landwirtschaft kellerten – je nach Ernteertrag – 50 bis 100 Sack Kartoffeln ein, wovon ein geringer Teil als Viehfutter verwertet wurde. Die Kartoffel hatte gegenüber anderen Produkten den Vorteil, daß sie im Haushalt auf vielseitige Weise verwendbar war. Nicht unerheblich war auch der Getreideanbau. Roggen und Gerste dienten als Brotgetreide und Hafer als Viehfutter. Das Abernten erfolgte von Hand mit einfachen Geräten. Vereinzelt gab es noch die ,,Schnitterin“ im wörtlichen Sinne, welche mit der Sichel das Getreide schnitt. Dies ist wohl die älteste Art des Erntens mit einem Gerät und war sehr mühsam, schützte aber vor Verlusten an Körnern. In selteneren Fällen wurde die Gerste gerupft, wenn wegen des niedrigen Wuchses die Wurzel am Halm bleiben mußte. Der Getreideausdrusch erfolgte meistens mit dem Dreschflegel. Die oft geringen Ernteerträge beruhten nicht nur auf der Bodenbeschaffenheit, sondern auch auf ungenügender Düngung und unzureichender Bearbeitung. Der letztere Umstand war nicht selten auf das schwache Kuhgespann zurückzuführen, das in seiner Leistung beschränkt war. Vielfach ließ aber auch die geringe Höhe der Ackerkrume eine ausreichende Bearbeitung nicht zu. Die vielen Wiesen in der Gemarkung mit unterschiedlichen Erträgen lieferten Heu und Grünfutter. Das Gras wurde mit der Sense und später vereinzelt mit der Mähmaschine gemäht, während die Bearbeitung des Heues und das Einbringen mit den althergebrachten Geräten wie seit urdenklichen Zeiten erfolgte. Hierbei spielte die Frauen- und Kinderarbeit wiederum eine große Rolle. Die Schulferien fielen in die Heuernte. Während der heißen Sommertage mußten alle viel Arbeit leisten. Die Mäher und Mäherinnen begannen ihr Tagewerk vielfach schon vor Sonnenaufgang. Mit dem Vormarsch der Technik – auch in der Landwirtschaft – nach dem ersten Weltkrieg, fanden -wenn auch wegen der vielen Kleinbetriebe zunächst nur vereinzelt – Maschinen Verwendung. Für die Viehhaltung war die Viehweide auf dem Knotengelände entscheidend. Die zwar nicht sehr ergiebige Grasnarbe gab in den Sommermonaten doch mehr als 300 Kühen, Rindern und Ziegen Nahrung. Der geringe Hütelohn für den Kubhirten mit einem Hütejungen und zwei Hunden, der teilweise in Naturalien bestand, wurde von den Viehbesitzern aufgebracht. Bis über das Jahr 1920 hinaus waren die Haushaltungen in Mengerskirchen – soweit man eine Landwirtschaft betrieb – in größtem Maße Selbstversorger. Das Brot kam nicht vom Bäcker, sondern man stellte es selbst her von dem Mehl des eigenen Getreides, das von einer der Mühlen unterhalb des Seeweihers gemahlen worden war. Der Fettversorgung diente die Hausschlachtung. Hierfür standen der Familie ein oder auch zwei Schweine zur Verfügung. Frischfleisch und Wurst aus der Metzgerei gab es in vielen Familien nur, wenn die Hausschlachtung aufgebraucht war, und dann auch nur an Sonn- oder Feiertagen. Milch, Butter und Eier entstammten ebenfalls der Eigen-erzeugung. Doch gestatteten die Verhältnisse in der Regel nicht einen Verbrauch, der dem echten Bedarf der Familie entsprochen hätte. Vielmehr mußte von den vorgenannten Erzeugnissen für den Verkauf manches abgespart werden. Zwar brachte ein halbes Dutzend Eier vielleicht nur einen Erlös von 30 Pfennigen, und die Butterfrau, welche die Butter in einem Korb zu ihren Kunden nach dem 16 km entfernten Weilburg trug, zahlte der Bäuerin nur 80 bis 90 Pfennig für das Pfund, aber es war Bargeld, das die Hausfrau in die Hand bekam und wenn es auch nur nach Pfennigen zählte. Aber auch in anderen Bereichen warfen die kleinbäuerlichen Betriebe kaum Bargeld ab. Was waren schon die 20 Mark, die der Verkauf eines Kalbes brachte, oder die hundert Mark für ein fettes Schwein? Dabei handelte es sich ohnedies um seltene Vorgänge im Laufe eines Jahres, ganz zu schweigen von dem noch selteneren Absatz eines Stück Großviehes. Mit solchen Bareinkünften waren die Ausgaben für Kleidung und Schuhwerk nur ungenügend zu decken. Für anderes blieb kaum etwas übrig. Zucker kaufte man in Mengen von einem halben Pfund und das Leuchtpetroleum halbliterweise. Nicht selten waren kinderreiche Kleinbauern verschuldet und ihre Anwesen mit Hypotheken belastet. Solche Verschuldungen entstanden meist durch Krankheit in der Familie oder ein Unglück im Viehstall. Durch derartige Umstände gerieten sie mitunter in die Hände gewissenloser Viehhändler und Kreditgeber. Dieser Zustand änderte sich erst mit der Verbreitung öffentlicher Spar- und Kreditkassen. Mengerskirchen war in früherer Zeit ein befestigter Ort mit einer mit sieben Türmen und drei Toren versehenen Ringmauer. Hiervon war weitgehend das Ortsbild bestimmt, denn der Raum für die Errichtung von Wohnhäusern und Wirtschaftsgebäuden war durch die Mauer äußerst begrenzt. Als die Befestigung noch militärische Bedeutung hatte, und das dürfte noch über die Zeit des Dreißigjährigen Krieges hinaus gewesen sein, war innerhalb der Ringmauer wohl ausreichend Platz für die Wohnhäuser der damaligen Bevölkerung. Dagegen reichte es nicht für die etwa 40 Scheunen, die außerhalb errichtet werden mußten. Diese Scheunen sind sehr alt, denn auf dem Querbalken einer solchen (am Friedhof) ist die Jahreszahl 1608 angebracht. Mengerskirchen war nämlich im Mittelalter zeitweilig eine Umspannstation an der Straße Frankfurt-Köln, die über den Knoten führte. Das bedingte einen verhältnismäßig großen Pferdebestand und entsprechende Vorräte an Heu und Futtergetreide, die vorwiegend in diesen Scheunen untergebracht wurden. In den nachfolgenden Zeiten teilten sich mitunter vier Kleinbauern in eine solche Scheune. Noch lange war aber der Raum innerhalb der Ringmauern trotz der Bevölkerungsvermehrung das Wohngebiet von Mengerskirchen. In engen Straßen und Gassen mit Ausnahme der Hauptstraße und dem Gelände um Schloß und Kirche standen die Häuser in Reihen eng aneinandergeschmiegt, vereinzelt unterbrochen durch einen „Alen“ Durchlaß. Die meisten glichen sich in der Architektur, der Größe und Raumeinteilung; sie waren zweistöckig. Im Erdgeschoß lag der lange, schmale Hausflur, „Ern“ genannt, der sich nach hinten verbreiterte und meistens als Küche diente, mitunter aber auch noch die Nagelschmiede beherbergte. Neben dem ,,Ern“ lag die große Stube, die Wohnzwecken diente und in der Regel auch Elternschlafzimmer war. Im oberen Stockwerk befanden sich noch ein oder zwei Kammern. Im Keller brachten viele Kleinbauern, wegen des Platzmangels bei den Wohnhäusern, ihre Kühe, Schweine und Hühner unter. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war offensichtlich die Bautätigkeit in Mengerskirchen gering. Die Errichtung von Wohnhäusern außerhalb der Ringmauer erhielt offenbar Impulse durch den Bau der sogenannten ,,Freiheitshäuschen“ auf dem Damm. Diese waren einstöckig und besaßen teilweise neben dem geräumigen ,,Ern“ nur eine größere Stube. Im Zusammenhang mit dem Revolutionsgeschehen im Jahre 1848 soll der Landesfürst das Bauholz dazu geliefert haben. Durch die enge Bebauung des Ortes wohnte die Bevölkerung nahe an Kirche und Schule, und der große Brunnen in der Ortsmitte erleichterte ihr die Wasserversorgung. Im Rahmen der Konsolidierung während der letzten Jahre vor dem ersten Weltkrieg kam es zu einer entscheidenden Ausdehnung des Wohngebietes infolge von elf neuen Durchlässen durch die Bereiche, die den Ortskern umschlossen. Inwieweit eine landesherrliche Verordnung aus dem 18. Jahrhundert, die sich mit dem Wohnungsbau beschäftigte, in Mengerskirchen wirksam wurde, läßt sich nicht sagen. Sie verbot die Erbauung neuer Häuser gänzlich, „weil das Holz rar wird und die Leute nur bauen, um ihren Kindern, die kein Handwerk wissen und auch keinen Ackerbau haben, wenigstens Wohnungen zu hinterlassen, wodurch auch viele, die auswärts etwas lernen könnten, im Land bleiben“. Im Grunde genommen hat der Landesherr damals das Problem der Übervölkerung im Westerwald richtig erkannt. In einem Schulbuch – „Geographie“ genannt – das noch nach der Jahrhundertwende benutzt wurde, heißt es: „Der Westerwald ist eine durchaus arme Gegend; aber die Bewohner sind genügsam und zufrieden mit ihrer Lage.“ Dieses Zitat wird der Situation nicht gerecht. Bezeichnender noch ist für den Westerwälder nämlich Fleiß und Strebsamkeit. Trotz der beengten wirtschaftlichen Situation der Leute von Mengerskirchen war es einigen wirtschaftlich etwas besser gestellten Familien möglich, Kinder zur höheren Schule zu schicken und sie sogar vereinzelt akademischen Berufen zuzuführen. Die größere Zahl davon waren Theologen. Viele Frauen widmeten sich dem Ordensberuf. Daneben gab es eine ganze Reihe von Lehrern, Ingenieuren und Ärzten, von denen einige Spitzenpositionen erreichten. Die Fälle sind nicht vereinzelt, in denen Volksschüler später aus eigener Kraft auf Grund ihrer Zielstrebigkeit in qualifizierte Berufe aufstiegen. Hierzu gehören insbesondere die vielen Männer, die sich vom Bauhilfsarbeiter zum Polier und Oberpolier emporarbeiteten. Außerdem verdienen genannt zu werden die sieben Männer, welche in den letzten drei Jahrzehnten vor 1933 als Gewerkschaftssekretäre tätig waren. Bezeichnenderweise gehörten sie alle dem Zentralverband christlicher Bauarbeiter Deutschlands“. In den Jahren, über die hier berichtet wird, lag die Zeit der großen Not für Mengerskirchen. Sie dauerte mit kurzen Unterbrechungen über 30 Jahre. Ihr Beginn war der Ausbruch des ersten Weltkrieges im August 1914 und der Höhepunkt der Zusammenbruch Deutschlands im Jahre 1945. Etwa 180 Bürger aus Mengerskirchen mußten im ersten Weltkrieg Kriegsdienst leisten. Viele davon starben den Soldatentod, andere kehrten als Krüppel zurück, und diejenigen, die in Kriegsgefangenschaft geraten waren, sahen mitunter die Heimat erst lange nach Kriegsende wieder. Fünfundfünfzig Namen verzeichnet die Tafel an der Gedächtnisstätte auf dem Friedhof von Männern, die gefallen, vermißt oder an den Folgen des Krieges gestorben sind. Doppelt so viel Namen der Toten des zweiten Weltkrieges stehen an der gleichen Stelle, worunter auch diejenigen sind, deren Angehörige in Mengerskirchen nach ihrer Vertreibung eine neue Heimat gefunden haben. Vor soviel Leid verblaßt die materielle Not, welche die Bevölkerung in beiden Kriegen vorwiegend durch den Mangel an Nahrung und Kleidung tragen mußte. Während des zweiten Weltkrieges überflogen feindliche Bomber verschiedentlich in großer Zahl Mengerskirchen. Einzelne abgeworfene Bomben fielen außerhalb des Ortes und richteten nur geringfügige Schäden an. Doch auch während der Zeit, die zwischen den zwei großen Weltkriegen lag, herrschte zeitweilig große Not unter den Menschen von Mengerskirchen. Hier ist vor allem die Arbeitslosigkeit zu nennen, die Ende der zwanziger Jahre begann und bis in die dreißiger Jahre hinein dauerte. Davon wurden besonders die Bauarbeiter betroffen. Welche Ausmaße die Arbeitslosigkeit damals hatte, bezeugt die Tatsache, daß am 1. Mai 1931, also in der Bausaison, über 70% der Mitglieder der Verwaltungsstelle Limburg des christlichen Bauarbeiterverbandes arbeitslos waren, davon 43% ausgesteuert und somit keinen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung mehr hatten. In Mengerskirchen suchte man durch die Durchführung von Notstandsarbeiten dem Übel zu steuern. So erfolgten beispielsweise Meliorationsarbeiten auf der Knotenviehweide und der Ausbau der Straße über den Knoten nach Mademühlen – ehedem ein Teil der Straße Frankfurt-Köln. Fünfzehn Mark Lohn wöchentlich erhielt dabei ein verheirateter Arbeiter. Der Höhepunkt der Notzeit begann mit der Machtübernahme im Jahre 1933 durch Hitler. Für Mengerskirchen begann sie mit leidvollen Tagen, über die aber an anderer Stelle berichtet wird. In der Gemeinschaft „I, der Familie leben ja die Menschen zusammen. in jener engen Lebensgemeinschaft, die durch die Bande des Blutes, die Bande gemeinsamer Erziehung, gemeinsamer Sorgen und Nöte, gemeinsamer Liebe und Treue den Menschen Heim und Heimat gibt.“ (Bischof Ferdinand Dirichs) In der Landschaft und unter den Leuten von Mengerskirchen lebte der Kleinbauer und Nagelschmied Weinand Leuninger mit seiner Familie. In beengten wirtschaftlichen Verhältnissen, wie die meisten anderen. Im Jahre 1894 wurde die Familie gegründet. Gering war Hab und Gut, das beide Elternteile in die Ehe einbrachten. Ursprünglich dienten als Wohnung zwei kleine gemietete Zimmer, mit einer bescheidenen Ausstattung. Aber die Eltern waren strebsam. Der Vater arbeitete als Nagelschmied und bebaute gemeinsam mit der Mutter zunächst einige Äcker. Noch in Miete wohnend, brachten sie es zu einem kleinen Viehbestand. Indessen reichte die Wohnung für die größer werdende Familie nicht mehr aus. Durch den Erwerb des recht geräumigen ehemaligen jüdischen Gemeindehauses auf dem Damm war dem abgeholfen. Als das Haus bezogen wurde – es war kurz nach Auflösung der kleinen jüdischen Gemeinde – befanden sich an den Türpfosten noch Kapseln, ,,Mezuza“ genannt, in denen von den Juden winzige Schriftrollen mit Bibelstellen und dem Namen Gottes aufbewahrt wurden. Zunächst war noch das große Zimmer im oberen Stockwerk, das ehedem der jüdischen Gemeinde als Bet- und Versammlungsraum diente, für fünf Mark im Monat an einen Schneider vermietet, der gleichzeitig Nachtwächter des Ortes war. Das Hausgrundstück, im Schatten von Schloßburg und Kirche liegend, bot räumlich gute Ausdehnungsmöglichkeiten. Der Vater konnte eine Nagelschmiede für mehrere Nagler einrichten, und es ermöglichte auch die Vergrößerung des landwirtschaftlichen Betriebes. Mittlerweile wuchs die Zahl der Kinder. Franz, das drittälteste Kind von insgesamt neun, wurde im Jahre 1898 geboren. Mit alledem wuchsen auch die Arbeitslast und die Sorgen der Eltern. Neben der Arbeit in der nun größeren Landwirtschaft übte der Vater noch immer sein Handwerk aus, und die Mutter versorgte das große Hauswesen. Es war so unumgänglich, daß die älteren Kinder, auch wenn sie noch die Schule besuchten, ihnen gemäße Arbeiten im Haushalt und in der Landwirtschaft verrichteten. An dem hierzu nötigen guten Willen und Fleiß ließen sie es nicht fehlen. Sie trugen so die Verantwortung für die Existenz der Familie mit, soweit es von ihnen zu erwarten war. Schulprobleme gab es in der Familie nicht, denn die Begabung reichte bei allen Kindern so weit, um solche nicht aufkommen zu lassen. Es fehlte aber an den materiellen Voraussetzungen, um einem der Kinder den Besuch einer höheren Schule zu ermöglichen. So unkompliziert wie das Verhältnis zur Schule war auch das Verhältnis zu Religion und Kirche. Alle fügten sich gut in die Ordnung, die vom Elternhaus her gesetzt war. Hier herrschten feste religiöse Grundsätze. Das gemeinsame Tischgebet wurde nie versäumt, und der Besuch der Gottesdienste war durch unumstößliche Regeln geordnet. Zu Kirche und Schule waren es nur wenige Schritte über eine primitive Treppe, welche über die Reste der alten Stadtmauer führte. Die sechs Buben der Familie waren alle Meßdiener und führten dieses Amt gewissenhaft aus. Über all dies hinaus respektierte man religiöses Brauchtum. Da war das gemeinsame Gebet zum Angelusläuten und in der Fastenzeit das allabendliche Beten des Rosenkranzes im Wohnzimmer – an der Bank und an den Stühlen knieend. Diese Haltung entsprach nicht nur der religiösen Einstellung, sondern auch dem Begehren, durch das Gebet Sorgen und Not von der Familie abzuwenden oder sie doch meistern zu können. Und ihrer waren gar oft nicht wenige. In späteren Jahren führte Franz einmal ein Gespräch mit einer jungen Frau, die dem Wert des Gebetes keine Bedeutung beimessen wollte. Er widersprach ihr und schilderte dabei, wie er als ganz junger Mensch am Bau Steinträger gewesen und wie schwer ihm diese Arbeit mitunter geworden sei. Wenn ihm dabei die Kräfte zu versagen drohten, habe er manchmal auf einer Sprosse der Leiter, die er mit den schweren Steinen zu ersteigen hatte, angehalten und ein kurzes Gebet verrichtet, dann sei es wieder weitergegangen. Christentum wurde indessen nicht nur im Gebet, sondern auch anders praktiziert. Vor allem an den in Not befindlichen Mitmenschen. Zwar standen hierfür nur beschränkt materielle Mittel zur Verfügung. Aber für die, welche noch weniger hatten, reichte es immer noch zu einer bescheidenen Gabe. Es waren dies nicht nur Bettler und die Menschen, die in Kriegszeiten besonderen Mangel an Nahrung litten, sondern auch viele andere. Die Autorität der Eltern galt viel in der Familie. Das beeinträchtigte jedoch nicht die tiefe Zuneigung zwischen ihnen und den Kindern. Man begegnete sich in uneingeschränktem Vertrauen zueinander. Dementsprechend war die familiäre Atmosphäre. Alle mühten sich, einander zu erfreuen. Am Weihnachtsfest sorgte der Vater für den Christbaum, der noch nicht in allen Familien selbstverständlich war. Die Mutter war darauf bedacht, für jedes Kind ein kleines Geschenk zum Fest zu haben; eine bunte Tasse, ein bebildertes Taschentuch, ein Wollschal und ähnliches. Einmal erstand der Vater ein ungewöhnlich großes Schaukelpferd in Hachenburg, das er viele Kilometer weit auf den Schultern nach Hause brachte. Indessen war das Bedürfnis, durch Geschenke Freude zu bereiten, in der Familie nicht einseitig auf die Eltern beschränkt. Eine besondere Gelegenheit hierzu bot sich den Kindern jeweils am Namenstag der Mutter. Einmal sprengten hierbei die drei ältesten, aber noch schulpflichtigen Kinder – zu denen auch Franz gehörte – den Rahmen. Sie sammelten Schwarzdornschlehen, die sie an den Apotheker verkauften. Mit dem Erlös erstanden sie für die Mutter ein Paar warme Schuhe für den Winter, zu dem damals ungewöhnlich hohen Preis von 13,50 Mark. Aber die Leistung der Kinder war auch ungewöhnlich, denn sie hatten dreieinhalb Zentner Schlehen gesammelt. Im Ablauf des Familiengeschehens ereignete sich im Grunde genommen nichts Außergewöhnliches. Aber alle Bereiche wurden sorgfältig gepflegt. Das traf auf das Bemühen der Eltern um eine ausreichende materielle Existenz der Familie zu, ebenso wie auf die Erziehung der Kinder und das Zusammenleben. Von nachhaltigem Einfluß ist dabei sicherlich das religiöse Klima gewesen. Dieses war nicht gezeichnet durch enge puritanische Strenge, sondern es bestand in einer aufgeschlossenen christlichen Lebensauffassung. Franz war ein geistig sehr aufnahmefähiger und aufnahmebereiter Junge. Aber er betrachtete seine Umwelt schon frühzeitig kritisch. Daraus entwickelte sich ein gutes Verhältnis zu seinen Eltern und Geschwistern. Er nahm inneren und äußeren Anteil an dem Leben eines jeden einzelnen Familienmitgliedes. Zahlreich sind die Sorgen und oft schwer das Leid in einer großen Familie. Er konnte gar nicht anders, als tragen helfen, ganz gleich, wen es traf und wie es traf. In unvergleichlicher Weise trug schon der Knabe auf seinen schwachen Schultern mit an den Sorgen der Eltern, denen er Stütze bis zu deren Lebensende war. Beim Heimgang der Mutter richtete er den Vater in seinem Schmerze mit folgenden Worten auf: „Nun ist unsere gute Mutter tot. Das darf Dich nicht niederdrücken. Wir wollen an die Verstorbene so lieb und gut denken, wie sie zu Lebzeiten zu uns war, aber Du mußt leben… Wir brauchen Dich, unseren Vater, noch sehr lange.“ Mit Dankbarkeit und Freude erfüllte ihn aber auch die Liebe, die seine Eltern und Geschwister ihm entgegenbrachten. Allen ist er gut gewesen, und keines hat auf seinen Rat und seine Unterstützung verzichten müssen. Ein jedes war seiner Anteilnahme gewiß, ganz gleich, ob es sich um das schwerkranke Kind des Bruders handelte oder um das Leid der Schwester um den im Krieg vermißten Sohn. Gerade der letzte Krieg brachte viel Sorgen in die Familie. Franz war der erste von sechs Söhnen, der aktiv am Kriegsgeschehen teilnehmen mußte. Hierüber schreibt er von sich: „Ich wollte gerne die schwere Last des Soldatseins auf mich nehmen, wenn ich dadurch meine Brüder vor diesem Geschick bewahren könnte.“ Er aber wurde entlassen, und andere Brüder mußten Soldat werden. Wie hat er mit diesen die Härte des Soldatenlebens empfunden! Dem während des Weihnachtsfestes 1943 in Rußland fern von Frau und Kindern weilenden Bruder schreibt er: „Ich werde an Dich denken und Dich rufen, wenn wir unter dem Weihnachtsbaum stehen.“ Und dem gleichen Bruder, der kurze Zeit später Hab und Gut bei einem Fliegerangriff verlor, gibt er die Versicherung: „Wenn wieder einmal normale Zeiten sind, wirst Du nicht weniger haben, wie Du vorher gehabt hast. Dafür stehe ich!“ Die Achtung vor der Menschenwürde zeichnete Franz aus. Sie ergab sich für ihn aus der Kindschaft Gottes und war Richtschnur seines Handelns gegenüber dem Nächsten. Ohne Unterschied in der Person versuchte er, den Bedürftigen und Notleidenden Freund und Helfer zu sein. Aus dem Polenfeldzug – den Franz aktiv mitmachte – schrieb er: „Viel Not und Elend sah ich in diesem Krieg. Ich habe überall geholfen, wo ich nur konnte und soviel ich konnte.“ Zwei Begebenheiten mögen seine soziale Haltung noch deutlicher machen. In Breslau fuhr er eines Tages mit der Straßenbahn. Da fiel ihm eine Frau auf, die offensichtlich starke körperliche Beschwerden hatte. Bei näherer Beobachtung und durch Befragen stellte er fest, daß die Frau unmittelbar vor ihrer schweren Stunde stand und in ein Krankenhaus wollte. An der nächsten Haltestelle hieß er sie aussteigen, besorgte ein Taxi, half der Frau beim Einsteigen, wies den Fahrer an, sie zum Krankenhaus zu bringen, und beglich sogleich die Fahrtkosten. Einmal erlebte er aber auch eine große Überraschung. Wie schon öfter hatte er einen bedürftigen Mann von der Straße zum Mittagessen mit in die Wohnung gebracht. Als derselbe gegangen war, mußte Franz feststellen, daß seine Brieftasche, die sich in seiner Jacke in der Garderobe befunden hatte, mit dem Gast verschwunden war. Ein solcher Vorgang konnte ihn aber nicht in seiner Haltung beeinträchtigen. Der Gewerkschaftssekretär Für Franz Leuninger waren die Gewerkschaften bereits ein Begriff, als er noch im schulpflichtigen Alter stand. Im Jahre 1910 kam es im Baugewerbe zu einem Arbeitskampf von ungewöhnlichen Ausmaßen. Über die am 31. März desselben Jahres auslaufenden Regelungen der Lohn- und Arbeitsbedingungen waren schon vorher zwischen den Tarifpartnern ergebnislose Verhandlungen geführt worden. Über 30 Streitobjekte, worunter der Lohn und die Arbeitszeit die Hauptrolle spielten, standen im Gespräch. Bei den Auseinandersetzungen entstand, hervorgerufen durch das Verhalten der Arbeitgeber, der Eindruck, es gehe diesen schlechthin um eine Schwächung der Gewerkschaften. Die Arbeitgeber stützten sich auf ihre Organisation mit 22.000 Mitgliedern, die rund 350.000 Arbeiter beschäftigten. Aus dieser Machtposition leiteten sie ihr Recht auf Ablehnung der gewerkschaftlichen Forderungen her. Die Öffentlichkeit befürchtete einen harten Arbeitskampf. Erstmalig schaltete sich in ein solches Geschehen die kaiserliche Regierung ein, die zu vermitteln versuchte. Die Arbeitgeber indessen zeigten sich unnachgiebig und beschlossen am 15. April die Aussperrung, unter die 150.000 bis 200.000 Bauarbeiter fielen. Hiervon wurde Mengerskirchen mit seinen vielen Bauarbeitern in besonderem Maße in Mitleidenschaft gezogen. Der größte Teil von ihnen kehrte aus der Fremde in die Heimat zurück und war – soweit organisiert – auf die karge Streikunterstützung angewiesen. Der älteste Bruder von Franz, gerade aus der Schule entlassen, konnte, entgegen seiner Absicht, keine Arbeit im Baugewerbe aufnehmen. Die Heimatgemeinde schaffte durch Wegebaumaßnahmen Arbeitsmöglichkeiten für die ausgesperrten Bauarbeiter, um so die Not derselben abzuschwächen. In der Hauptsache waren Steine zu klopfen. Franz half seinem älteren Bruder bei dieser Arbeit nach Ende des Schulunterrichts. Die zu zerkleinernden Steine für den Schotter mußten von den Arbeitern zusammengetragen werden. Für den Kubikmeter Schotter zahlte der Unternehmer 3,50 Mark. Das war eine äußerst geringe Bezahlung. Franz und sein Bruder brachten es bei intensiver Arbeit von fast zwei Monaten auf einen Gesamtlohn von 7 Mark. Dabei mag mitgespielt haben, daß sie 12 und 14 Jahre alt waren. Aber das konnte es nicht allein sein. Es ist nicht auszuschließen, daß die Aufmaße fehlerhaft waren. So empfand schon der Volksschüler unmittelbar, welche Wertung menschliche Arbeitskraft zu jener Zeit erfuhr, denn letztlich ging es bei der Aussperrung um dieses Problem. Lohn nach ,,Leistung“ mit der Unterscheidung des „gelernten tüchtigen Gesellen“ und „geübten tüchtigen Bauhilfsarbeiters“. Der Arbeitgeber wollte bestimmen, wann diese Voraussetzungen vorlagen und er dadurch in der Lage war, im Einzelfall den Lohn willkürlich festzusetzen. Die Arbeitszeit sollte nicht weniger als 10 Stunden werktäglich betragen. In den Tagen des Kampfes trat auch die Forderung nach Einschränkung der Koalitionsfreiheit auf. Der Kampf nahm an Härte zu. Andere Wirtschaftszweige wurden in Mitleidenschaft gezogen. Öffentlichkeit und Behörden nahmen unterschiedlich Stellung zur Aussperrung. Die Schwierigkeiten mehrten sich und führten dazu, daß sich Unternehmer an die Regierung und Arbeiterfrauen an den Kaiser wandten. Zu jener Zeit betrug der Maurerstundenlohn in Hamburg 85 Pfennig, in der Umgebung von Breslau 32 bis 33 Pfennig und der Bauhilfsarbeiterlohn in Stuttgart 40 Pfennig. Die Arbeitskampfparteien waren unnachgiebig. Gewerkschaften und Arbeiter vollbrachten große Leistungen. Gewerkschaftssekretäre verzichteten auf Teile ihrer Gehälter, arbeitende Gewerkschaftsmitglieder leisteten hohe Sonderbeiträge, und die Streikenden selbst mußten sich mit einer bescheidenen Streikunterstützung, die je nach Beitragshöhe, Familienstand und Dauer der Mitgliedschaft zwischen 6 und 18 Mark wöchentlich betrug, begnügen. Die Bemühungen der Reichsregierung führten schließlich zu einer Einigung. Am 18. Juni wurde die Aussperrung beendet. Diese Auseinandersetzung hatte die Gewerkschaften annähernd 9 Millionen Mark gekostet. Noch nicht 14 Jahre alt, wurde Franz Leuninger Bauhilfsarbeiter. Es ist verständlich, daß er sich dann auch gleich den Gewerkschaften anschloß. Dabei mag das Erlebnis des geschilderten Arbeitskampfes mitgewirkt haben. Mehr aber sicher noch das eigene Erleben in der Welt der Arbeit. Seinen Eintritt in diese Welt und das, was ihm dort in den ersten Monaten widerfuhr, schildert sein älterer Bruder: „Im Dezember 1912 wurde ich 15 Jahre alt. Franz war 2 Jahre jünger. Ich arbeitete damals als Hilfsarbeiter im Baugewerbe und schmiedete im Winter Schuhnägel. im Frühjahr nahm ich wieder die Arbeit am Bau auf, und zwar in Remscheid. Mit Franz hatte ich abgesprochen, daß er nach seiner Schulentlassung nachkommen könne. Er nahm jedoch zunächst eine Hilfsarbeit beim Feldwegebau in Mengerskirchen an. Da ihm der hierfür gezahlte Stundenlohn von 21 Pfennig zu niedrig war, gab er die Arbeit auf und meldete mir kurzfristig sein Kommen in Remscheid an. Ich geriet dadurch in Schwierigkeiten, weil es mir nicht gelingen wollte, Arbeit für ihn zu finden. Nach langem „Betteln“ fand ich dann doch einen Arbeitsplatz. Dort sollte Franz den Wasserschlauch beim Betonmischern halten, Kaffee kochen, Botengänge machen und anderes mehr. Ich brachte ihn am ersten Tag zu seiner Baustelle. Abends traf ich ihn wieder „im Logis“. Die Unterkunft bestand aus 2 schrägen durchgehenden Dachzimmern für 6 Mann. Franz saß vor dem Tisch und weinte laut, sein Gesicht war so verweint, daß ich ihn fast nicht erkannte. ,Ich mußte Zement tragen und schaufeln‘, sagte er. Aber das war sicher nicht die Ursache für seinen Kummer, sondern das Heimweh. Die folgenden Tage verliefen normal. Aber als ich am Lohntag heim kam, spielte sich die gleiche Szene ab wie am ersten Tag. Er hatte nur 20 Pfennig Stundenlohn erhalten. Ich bat am nächsten Tag den Arbeitgeber, Franz doch wenigstens 25 Pfennig die Stunde zu zahlen, und wenn er das nicht könne, solle er mir 5 Pfennige abziehen und sie ihm mehr geben. Franz war damals ein kleiner Kerl. Beim nächsten Lohntag bekam er dann doch 25 Pfennig Stundenlohn, ohne daß mir etwas abgezogen worden war. Auf mein Anraten hin wurde Franz in den späteren Wochen wiederholt bei dem Arbeitgeber wegen weiterer Lohnerhöhung vorstellig und erreichte, daß sein Lohn nach und nach auf 40 Pfennig die Stunde aufgebessert wurde. Zu diesem Zeitpunkt war er dreizehneinhalb Jahre alt. Franz wollte aber mehr verdienen. Deshalb wechselten wir im Spätsommer den Arbeitgeber. Ich bekam schon immer den vollen Hilfsarbeiterlohn von 53 Pfennigen die Stunde. Als der neue Arbeitgeber sich weigerte, Franz den gleichen Lohn zu zahlen, stellte der Polier diesen vor die Wahl, entweder Franz 53 Pfennig zu geben oder er, d.h. der Polier, werde kündigen. Beim Auslaufen der Arbeit auf der betreffenden Baustelle wurden 80% aller Beschäftigten entlassen, Franz war aber bei denjenigen, die bleiben konnten. Er war ein geschickter und arbeitswilliger Junge. Das bewog eine im Akkord arbeitende Putzerkolonne, ihn für sich als Handlanger zu gewinnen. Man sagte ihm auch für den Winter Arbeit zu. Doch bei einer Schwarzarbeit, die der Polier nach Feierabend ausführen ließ, fiel Franz mit einem Sack Zement die Kellertreppe hinunter und verletzte sich so, daß er nicht weiterarbeiten konnte. Das war Ende November 1912. Franz war damals 13 Jahre und 11 Monate alt. Wir fuhren dann nach Hause zu den Eltern und Geschwistern und schmiedeten den Winter über mit dem Vater Schuhnägel. Von unserem Verdienst in Remscheid in der Zeit, da wir jeder 53 Pfennige Stundenlohn hatten, schickten wir alle 2 Wochen 50 bis 55 Mark an die Eltern. Wir wollten ihnen damit helfen. Es sind nun fast 60 Jahre her, daß ich das Geschilderte erlebte. Es ist mir aber alles noch so in Erinnerung, als ob es gestern gewesen wäre.“ Rückhaltlos setzte sich Franz Leuninger in der folgenden Zeit als Mitglied und Vertrauensmann des christlichen Bauarbeiterverbandes für die Gewerkschaften ein. Wie die anderen Vertrauensmänner arrangierte und führte er Versammlungen durch, unterstützte den Gewerkschaftssekretär, wirkte mit bei der Planung und Durchführung von Hausagitationen, warb für den Verband auf der Baustelle, im Eisenbahnabteil, auf dem Weg zum Arbeitsplatz und in konfessionellen Standesvereinen. Die Vertrauensmänner waren das organisatorische Rückgrat des Verbandes. Ihre Tätigkeit würdigt das Verbandsorgan ,,Die Baugewerkschaft“ u. a. mit folgenden Worten: Die Kollegen, die am Sonnabend und Sonntag ohne Ausnahme mit den Verbandszeitungen, Beitragsmarken, Flugblättern und Aufnahmescheinen ausgerüstet, ihr nicht immer leichtes Amt als Vertrauensmann und Kassierer versehen und die von ihnen betreuten Mitglieder aufsuchen, Aufklärung schaffen und stets bestrebt sind, dem Verband neue Mitglieder zuzuführen… Dieses stille Wirken gewinnt vor allem deshalb an Wert, weil alle die mit dieser Tat verbundenen Opfer freiwillig und ohne Anspruch auf materiellen Lohn gebracht werden.“ Aus dem Kreis der Vertrauensmänner rekrutierten sich denn auch die Gewerkschaftssekretäre im christlichen Bauarbeiterverband. Mochten bei dem Einzelnen bei der Übernahme einer solchen Funktion Lücken in bezug auf die Voraussetzungen hierfür bestanden haben, so besaßen doch alle den Opfersinn und die Einsatzbereitschaft, die ein solches Amt erforderte. Nicht selten waren Mühsal und Diffamierungen damit verbunden. Im Jahre 1922 arbeitete Franz Leuninger im Raum Aachen. Dort tat er sich wie überall in der Gewerkschaftsarbeit hervor. Es ging dabei nicht nur um die Lohn- und Arbeitsbedingungen, sondern auch um die Auseinandersetzung mit dem gewerkschaftlichen Gegner. Auf Grund seines energischen und gewandten Auftretens bestellte ihn der christliche Bauarbeiterverband zum ,,Lokalbeamten“ für den Bereich Euskirchen. Diese Berufsbezeichnung galt für Gewerkschaftssekretäre auf der lokalen Ebene. Als Gewerkschaftssekretär war er nun herausgehoben und in eine Funktion versetzt, die ihn prägte; das Leben zeigte sich ihm von einer anderen Seite. Die Aufgaben waren vielseitig und auch manchmal hart. Er stand aber nunmehr ganz im Dienst für die anderen. Mit die wichtigste Aufgabe des Lokalbeamten war der Auf- und Ausbau der Verbandsorganisation. Wesentlich dabei waren Werbung und die Betreuung der Mitglieder. In dieser Beziehung nahmen die Gewerkschaftssekretäre im christlichen Bauarbeiterverband eine besondere Stellung ein. Die Mitglieder wechselten infolge der Eigenart des Gewerbes im Gegensatz zu anderen Industriearbeitern – oft den Arbeitsplatz. Dadurch war die Gefahr einer Lockerung der Beziehungen zum Verband gegeben. Dem wirkten die Gewerkschaftssekretäre durch häufigen Besuch der Baustellen entgegen. Das war meist nur in der Mittagspause möglich. Diese Besuche erregten gar oft den Unwillen der Arbeitgeber und führten zu Spannungen und Feindseligkeiten. Gar mancher Gewerkschaftssekretär mußte unter Drohungen die Baustelle verlassen. Aber auch die unorganisierten Arbeiter sahen nicht selten eine Belästigung im Erscheinen des Gewerkschaftssekretärs auf ihrem Arbeitsplatz. Ein besonderes Problem für den christlichen Gewerkschaftssekretär war die Auseinandersetzung mit den sozialistisch organisierten Arbeitern, die mitunter rüde Formen annahm. So fuhr der Gewerkschaftssekretär mit seinem Fahrrad von Baustelle zu Baustelle, immer in dem Bewußtsein, den Angriffen seiner Gegner dort ausgesetzt zu sein. Bei diesen Besuchen bot sich die Möglichkeit einer Kontrolle und Überwachung der Unfallverhütungsvorschriften. Einen breiten Raum nahm im Aufgabenbereich dieser Männer das Versammlungswesen ein. Jede Ortsgruppe und Zahlstelle hatte in der Regel ihre monatliche Mitgliederversammlung, an welcher der Gewerkschaftssekretär teilnahm. Diese Veranstaltungen dienten in erster Linie der Information und Schulung. Darüber hinaus gab es noch Verwaltungsstellenkonferenzen, Vorstands-, Vertrauensmänner- und Baudelegiertensitzungen. Die Zusammenkünfte fanden vorwiegend am Wochenende statt, so daß der Gewerkschaftssekretär an Samstagen und Sonntagen selten bei seiner Familie sein konnte. Oft fehlte auf dem Verbandssekretariat eine Büro- oder Schreibkraft, wodurch dem Sekretär noch zusätzliche Verwaltungsarbeiten zufielen. Wesentlich für den Lokalbeamten war auch die Kontrolle darüber, ob die Bestimmungen der Tarifverträge und sonstiger Abmachungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern zum Schutze der Arbeiter beachtet wurden. War dies nicht der Fall, so hatte er geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um das Recht zu erzwingen. So standen die Gewerkschaftssekretäre vor den Schranken des Arbeitsgerichts oder den tariflichen Schlichtungsstellen, um das zu fordern, was rechtens war. Ebenso klärten sie Streitigkeiten der Gewerkschaftsmitglieder mit den Sozialversicherungsbehörden und halfen nicht selten in anderen schwierigen Lebenslagen. Ein Mann, der von 1912 bis 1933 Sekretär im christlichen Bauarbeiterverband war, sagte: ,,Der Gewerkschaftssekretär war Mädchen für alles“. Manche Unbill mußte dabei auch noch hingenommen werden, die in Einzelfällen bis zu Gefängnisstrafen reichten. So stand Josef Mergenthal aus Winkels im Westerwald als Funktionär des christlichen Bauarbeiterverbandes in den Jahren 1907/08 in Remscheid wiederholt vor dem Schöffengericht, weil man ihn für Vorgänge im Rahmen eines Streiks verantwortlich machte, die nach damaliger Anschauung ungesetzlich erschienen. Ein Verfahren brachte ihm eine Haftstrafe von 2 Wochen ein. Als er aus dem Gefängnis nach Hause kam, hatte ihm der Gerichtsvollzieher einen Teil seines Hausrates – so die Nähmaschine – wegen der nicht bezahlten Gerichtskosten gepfändet. Alljährlich in den Wintermonaten führte der christliche Bauarbeiterverband eine sogenannte Winteragitation durch. Ein großer Teil der Mitglieder stammte aus den katholischen Bereichen des Eichsfeldes, Hessens, des Sauerlandes, des Taunus und des Westerwaldes. Hier gab es Orte mit hundert und mehr Bauarbeitern, die ihre Arbeitsplätze vorwiegend in westdeutschen Industriegebieten hatten und nur in den Wintermonaten zu Hause waren. In dieser Zeit suchten die Gewerkschaftssekretäre die vorgenannten Gebiete zur Gewinnung neuer Mitglieder, der Festigung der Organisation und Unterrichtung der Bauarbeiter in sozialen und wirtschaftlichen Fragen auf. Im Verbandsbezirk Frankfurt führte man beispielsweise in den Wintermonaten des Jahres 1927 im Rahmen der vorgenannten Maßnahmen 100 Versammlungen und 5 Konferenzen durch. Für die beteiligten Gewerkschaftssekretäre war die Aktion mit erheblichen Strapazen verbunden. Als Redner mußten sie täglich in mehreren Versammlungen auftreten. Die Verkehrsmöglichkeiten waren ungünstig; die Wege mußten vielfach bei schlechter Witterung auf verschneiten Landstraßen zu Fuß zurückgelegt werden. Die gesellschaftliche Stellung des Gewerkschaftssekretärs war zwiespältig. Nicht selten sah er sich öffentlichen Angriffen ausgesetzt. Man nannte ihn einen Demagogen und Unruhestifter, ,,der von den Arbeitergroschen lebe“. Andererseits bestand Klarheit darüber, daß die Arbeiter ohne die Gewerkschaften und ihre Funktionäre relativ wehrlos den Manipulationen der Arbeitgeber ausgesetzt waren. Die Bezahlung der Gewerkschaftssekretäre stand in keinem Verhältnis zu Leistung und Aufwand. Im christlichen Bauarbeiterverband richtete sich ihre Besoldung nach dem Stundenlohn der Maurer. Das Monatsgehalt des Lokalbeamten setzte sich aus 230 Maurerstundenlöhnen und einem zehnprozentigen Zuschlag zusammen. Der Bezirksleiter erhielt bei gleicher Stundenzahl einen dreißigprozentigen und die angestellten Mitglieder des Hauptvorstandes einen fünfzigprozentigen Zuschlag. Die Reisespesen lagen niedrig. Als Beispiel hierfür diene die Tatsache, daß ein Sekretär in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre, der eine das gesamte Verbandsgebiet umfassende Tätigkeit ausübte und viel auf Reisen war, Tagesspesen von 4 bis 5 Mark hatte, wozu noch die Übernachtungskosten in einem Gasthof kamen. Versammlungsspesen wurden mitunter groschenweise geltend gemacht. Franz Leuninger war kurze Zeit Sekretär in Euskirchen und übernahm dann das Verbandssekretariat in Krefeld. Von dort erfolgte im Jahre 1927 seine Versetzung nach Breslau, wo er – noch nicht 30 Jahre alt – als Bezirksleiter für den ganzen schlesischen Raum wirkte. Hier entfaltete er eine beachtliche Aktivität. Dies soll durch einige Veröffentlichungen im Verbandsorgan „Die Baugewerkschaft“, deren Mitarbeiter er war, belegt sein. Er sah die Gleichberechtigung und Gleichachtung insbesondere des Handarbeiters in Wirtschaft und Gesellschaft auch im Jahre 1929 als noch nicht gegeben. In einem Aufsatz unter der Überschrift „Jedem das Seine“ schrieb er: „Es gibt viele Leute, welche auf Grund der Tatsache, daß einige Arbeiterführer Minister, Polizei-, Ober- und Regierungspräsidenten oder Landräte geworden sind, die Auffassung vertreten, die Arbeiterschaft habe die Gleichberechtigung und Gleichachtung erlangt, oder sie sei diesem Ziele wesentlich näher gekommen. Dieser Auffassung muß entschieden widersprochen werden. Gewiß hat der gewerkschaftliche Zusammenschluß uns im Laufe der Zeit den anderen Ständen gegenüber ein gewisses Ansehen verschafft, teilweise fürchtet man uns sogar. Aber das kann nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß der körperlichen Arbeit noch lange nicht der Wert zugemessen wird, der ihr gebührt… Die Gewinne aus der Tätigkeit des Arbeiters fließen in stärkstem Maße auch heute noch denen zu, die mit der körperlichen Arbeit wenig oder gar nichts zu tun haben. Diese Zustände erzeugen verständlicherweise bei dem Arbeiter ein gewisses Minderwertigkeitsgefühl und den Gedanken, er sei ein Mensch zweiter Klasse. Das zeigt sich denn auch auf den Arbeitsstellen. Demütig, unterwürfig, sucht man sich die Gunst des Vorgesetzten und Arbeitgebers zu erhalten. Wo klare Rechte sind, werden diese nicht gefordert, sondern man bittet, denkt nicht daran, daß der Arbeitgeber auch auf den Arbeiter angewiesen ist, nicht nur der Arbeiter auf den Arbeitgeber. Der Weg, den die Arbeiterschaft noch zu gehen hat, wird steil und steinig sein. Andere Stände sind ihn vor uns gegangen und haben es geschafft. Was sie erreichten, wird auch der vierte Stand – die Lohnarbeiterschaft – erreichen, wenn er den ernsten Willen dazu hat.“ In der ihm eigenen Art setzte er sich auch mit den sozialistischen Gewerkschaften auseinander, zumal dann, wenn diese aus parteipolitischen Gründen die gewerkschaftliche Linie verließen. Das zeigt ein Rundschreiben, das er als Bezirksleiter von Breslau an die Vorstandsmitglieder und Vertrauensleute seines Bezirks richtete. Hier ein Auszug: „Am 21. 8.1929 hat der sozialdemokratische Arbeitsminister im Sozialpolitischen Ausschuß des Reichstages seine Abänderungsvorschläge für die Arbeitslosenversicherung vorgelegt. Was Wissel verlangt, ist schlimmer als das, was wir befürchtet haben. Nach seinem Vorschlag sollen die Bauarbeiter, welche keine 50 Wochen an einem Stück gearbeitet haben – und das sind doch alle – noch niedrigere Unterstützung bekommen, als die Krisenfürsorge vorsieht. Für die Ledigen soll eine verkürzte Wartezeit Platz greifen, und als Drittes… eine verkappte Prüfung der Bedürftigkeit der Bauarbeiter. Wir werden nichts unversucht lassen, um das Schlimmste abzuwehren und unsere Mitglieder vor der Verelendung zu schützen…“ Dieses Rundschreiben, das noch einige Angriffe auf den Arbeitsminister enthielt, führte zu einer heftigen Reaktion der sozialdemokratischen Tagespresse Schlesiens und auch des Organs des Sozialdemokratischen Bauarbeiterverbandes „Der Grundstein“, auf Franz Leuninger. Darauf antwortete er wie folgt in dem Verbandsorgan ,,Die Baugewerkschaft: „Für mich kommt es nicht darauf an, welcher Partei der Arbeitsminister angehört, sondern entscheidend ist für mich, was er tut. Wollt Ihr vielleicht das decken, was Wissel während seiner Amtszeit getan hat? Ich nicht! Wohin sollte es kommen, wenn wir als gewerkschaftliche Organisation nicht mehr den Mut aufbrächten‘ gegen einzelne politische Parteien Stellung zu nehmen. Wenn der ,Grundstein‘ meint, ich sei ein verbissener Gegner der Sozialdemokratie und ein eingeschriebenes Mitglied der Zentrumspartei‘ so ist das seine Sache. Ich habe keine Ursache, ihm gegenüber ein politisches Glaubensbekenntnis abzulegen. Ich kann ihm aber sagen, daß ich in erster Linie Gewerkschaftler bin und im gegebenen Falle auch gegen die Parteien ins Feld ziehen werde, welchen ich politisch nahestehe…“ Aber auch im engeren gewerkschaftlichen Bereich, nämlich in der Auseinandersetzung mit den Arbeitgebern, zeigte er Mut und Entschlossenheit. Hiervon gibt Zeugnis ein Lohnstreik, den er mit den schlesischen Bauarbeitern im November 1932 – wahrscheinlich einer der letzten Lohnstreiks der Bauarbeiter überhaupt vor der Hitlerherrschaft – führte. Dabei ging es nicht um Lohnerhöhungen, sondern die Arbeitgeber forderten einen Abbau der Stundenlöhne in der Höhe von 15 bis 27 Prozent. Die Gewerkschaften drohten mit Streik, was die Arbeitgeber ironisch beantworteten mit der Bemerkung, daß für einen streikenden Bauarbeiter zehn andere zur Stelle seien. In der Tat herrschte damals unter den schlesischen Bauarbeitern eine große Arbeitslosigkeit. Vor den Toren Breslaus gab es Orte, in denen Hunderte von ihnen zwei Jahre und länger ohne Arbeit waren. Auf diese zählten die Arbeitgeber. In Tageszeitungen suchten sie Bauarbeiter, denen sie einen Stundenlohn von 80 Pfennig anboten, während der Tariflohn 92 Pfennig betrug. Als die Tarifverhandlungen scheiterten, forderten die Arbeitgeberverbände ihre Mitglieder auf, ab 1. November 1932 allgemein den Stundenlohn auf 80 Pfennig zu senken. Im Falle einer Nichtbefolgung wurden hohe Verbandsstrafen angedroht und in der Tat auch auferlegt. Unter diesem Umständen zahlten, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die Arbeitgeber den herabgesetzten Lohn. Trotz aller Bedenken hinsichtlich der katastrophalen Lage auf dem Arbeitsmarkt, riefen die Gewerkschaften zum Streik auf. Die Solidarität der Bauarbeiter, ihr Geschick und ihre Ausdauer zeitigten den angestrebten Erfolg. Franz Leuninger konnte berichten: ,,Wir haben den Kampf gewonnen. Alle Unternehmer, welche Arbeit haben, verpflichten sich, bis zum 31. März 1933 die vor dem 31. Oktober 1932 geltenden Löhne zu zahlen.“ Das Arbeitsgebiet des Gewerkschaftssekretärs verlangte von diesem härtesten Einsatz. Was die christlichen Gewerkschaften von ihnen erwarteten, formulierte Adam Stegerwald – ihr profiliertester Führer – in der Jubiläumsfestschrift ,,25 Jahre christliche Gewerkschaften“ 1924 folgendermaßen: ,,Die Arbeiterbewegung ist keine nur wirtschaftliche Angelegenheit. Sie hat vielmehr den religiösen Bedürfnissen der Arbeiterschaft mit großem Verständnis zu begegnen und diese weitgehend zu unterstützen. Aus diesem Grund ist insbesondere zu verlangen, daß die Angestellten der christlichen Gewerkschaften sorgfältig ausgewählt werden. Sie müssen eine gründliche Ausbildung erfahren, sich als Charaktere und Persönlichkeiten erweisen, im privaten und öffentlichen Leben sich als praktizierende Christen bestätigen, mit den Vertretern der Religionsgemeinschaften ein gutes Verhältnis aufrechterhalten und pflegen, den konfessionellen Vereinen Verständnis entgegenbringen, sie fördern usw.“ Die Sekretäre des christlichen Bauarbeiterverbandes entsprachen weitgehend den Vorstellungen Stegerwalds. Mögliche Mängel ihres Bildungsgrades kann man ihnen nicht anlasten. Diese waren in den seltensten Fällen in der Person, sondern in der Widrigkeit der Verhältnisse begründet. Als junge Männer kamen sie vielfach von einer ländlichen Volksschule in die städtischen und industriellen Bereiche. Ihre Situation ließ selten eine geordnete Berufsausbildung zu. Mühsam mußten sie sich, meist direkt vom Arbeitsplatz kommend, in die Funktionen eines Gewerkschaftssekretärs einarbeiten. Aber sie schafften es, sie wurden keine Versager, weil sie Persönlichkeiten waren. Bei den Bauarbeitern in Schlesien Hierüber schreibt sein Freund und Mitarbeiter Franz Heisig aus Neustadt in Oberschlesien: „Wenige Wochen, nachdem Franz Leuninger im christlichen Bauarbeiterverband Bezirksleiter für Schlesien geworden war, kam er auch zu uns nach Neustadt/OS., um in einer Mitgliederversammlung zu sprechen. Die Versammlung war außerordentlich gut besucht, denn jeder wollte den neuen Bezirksleiter sehen und kennenlernen. Wir wußten von ihm nur, daß er aus Westdeutschland kam. Die Erwartung war um so größer, weil mitunter Redner von dort eine gewisse Überlegenheit uns gegenüber in den Vorträgen und auch in der Unterhaltung zu demonstrieren suchten. Es mußte ein tüchtiger Kollege sein, denn sonst wäre er nicht Bezirksleiter einer so großen Provinz geworden. Auch ich sah dieser Begegnung gespannt entgegen. Ich war Schriftführer und saß mit am Vorstandstisch. Als wir uns die Hand reichten und ansahen, blickte ich in das sympathische Gesicht eines offenen, aufrechten Menschen. In seinen Ausführungen fand ich meinen Eindruck voll bestätigt. Er sprach nicht herablassend, sondern erzählte uns von seiner Heimat, seinen Eltern und den Nöten seiner Jugend. Er kannte unsere Sorgen, und wir spürten seinen Willen, uns zu helfen. Schon in dieser ersten Versammlung hatte er sich die Achtung und das Vertrauen aller Kollegen erworben, was auch auf den Baustellen in Gesprächen zum Ausdruck kam. Nach Schluß der Versammlung begleitete ich ihn auf dem Wege zur Bahn. Bei dieser Gelegenheit sprachen wir vor allem über unsere Bauproduktivgenossenschaft, die sich zu einem beachtlichen Unternehmen entwickelt hatte. Da diese u. a. auch die großen Landarbeitersiedlungen baute, wurden laufend Bauarbeiter eingestellt. Gewerkschaftlich Nichtorganisierte versuchten wir mit Erfolg für den christlichen Bauarbeiterverband zu gewinnen. Bei anders Organisierten vertrat ich – im Gegensatz zu einigen älteren Kollegen – die Auffassung, daß man diese nicht zum Übertritt drängen dürfe. Ich lehnte es nämlich entschieden ab, Menschen, die ihrer inneren Einstellung nach nicht zu uns gehörten, unter Ausnutzung ihrer Notlage in unseren Verband aufzunehmen. Mir kam es auf überzeugte Mitglieder an, wenn auch seitens der sozialistischen Bauarbeiterorganisation anders gehandelt wurde. Franz hörte sich meine Auffassung an, und ich fragte ihn um seine Meinung. Er blieb stehen und erwiderte impulsiv: ,Kollege Heisig, Du hast recht, so geht es nicht, so darf man es nicht machen. So sehr ich Eure Bestrebungen, die Verwaltungsstelle auszubauen, anerkenne und begrüße, darf auf keinen Fall bei der Werbung ein Druck ausgeübt werden. Menschenwürde und freie Gewissensentscheidung sind unantastbar. Wenn wir das nicht achten, von wem sollte man es dann noch erwarten?‘ Als ich Franz kennenlernte, war ich noch Vertrauensmann im christlichen Bauarbeiterverband. Auf seine Initiative hin wurde ich im Jahre 1929 Lokalbeamter für den Bereich Neustadt/OS. Anfänglich hatte ich Bedenken, eine solche Funktion zu übernehmen. Er räumte sie aus und verwies darauf, daß er mich nie für diese Tätigkeit zu gewinnen versucht hätte, wenn meine Eignung nicht gegeben gewesen wäre. Als Gewerkschaftssekretär kam ich nun oft mit Franz, der mein Bezirksleiter war, zusammen. Wir besuchten in meinem Arbeitsbereich gemeinsam Mitgliederversammlungen, die immer gut besucht waren. In seiner gewinnenden Art sprach er dann zu den Kollegen, die ihn sehr schätzten. In Deutsch-Rasselwitz hatten wir nur 40 Mitglieder, aber unsere Versammlung war gut besucht, denn auch die Gegner waren gekommen. In einer kleinen, aber gut vorbereiteten Rede nahm der Vorsitzende die Eröffnung und Begrüßung vor. Nach der Versammlung begleiteten uns sehr viele Kollegen zum Bahnhof; es war ein kleiner ,Festzug‘. Während der Bahnfahrt sprachen wir über unsere Eindrücke von der Versammlung. Franz war besonders von der Ansprache des Vorsitzenden angetan. Er sagte dazu: ,Hast Du gesehen, wie er nach Worten rang, als er von unseren Idealen sprach und uns etwas Liebes sagen wollte. Er ist ein prächtiger Mensch, den auch die anderen Kollegen gern haben.‘ Doch nicht nur bei ernsten Anlässen begegneten wir gemeinsam unseren Mitgliedern. Die oberschlesischen Bauarbeiter wußten auch zu feiern. Dann kamen sie mit ihren Frauen und sonstigen Angehörigen zusammen. Es wurde gesungen und getanzt. Froh begrüßten sich alle, und der Bezirksleiter versäumte nie, jedem die Hand zu drücken. So kamen wir auch einmal mit der Kleinbahn zu einem Bauarbeiterfest in einem kleinen oberschlesischen Ort. Der Saal war festlich geschmückt, die Frauen hatten ihre Trachtenkleider angelegt, die Männer waren im Sonntagsstaat. Bis tief in die Nacht hinein erklangen die alten Tanzweisen der Musikkapelle, und wir beide mußten uns bemühen, alle Kollegenfrauen einmal zum Tanz zu führen. Am Ende des Festes ertönte dann ein ernster Choral, der an die Vergänglichkeit alles Irdischen erinnern sollte, dem alle stehend und schweigend zuhörten. Dieser alte Brauch beeindruckte Franz sehr. Als Gewerkschaftsfunktionär lernte ich Franz erst richtig bei den Lohn- und Tarifverhandlungen kennen. Hier war er den anderen Beteiligten weit überlegen. Seine Darlegungen erfolgten mit Sachverstand und Herz und wirkten überzeugend. Er konnte ,aber auch hart und unerbittlich sein, wenn den berechtigten gewerkschaftlichen Forderungen kein Verständnis entgegengebracht wurde. Sehr lag ihm das Geschick der Bauarbeiter und ihrer Familien am Herzen. Ich erinnere mich an ein Rededuell in Gleiwitz mit dem Syndikus des Arbeitgeberverbandes, in welchem seine Worte einen ungewöhnlich scharfen Ton hatten. Sicher und selbstbewußt war seine Rede, Angriffe wies er schlagfertig zurück. Nie hat er in diesen Situationen seine Selbstbeherrschung verloren, nie wurden seine Worte verletzend. Hier zeigte sich seine ganze Persönlichkeit. In diesen Stunden haben wir den Freund bewundert. Auch seine Gegner akzeptierten ihn, das zeigte sich in der Wertschätzung, mit der man ihm allenthalben begegnete. Und dann kam die Zeit der politischen Wirren. Der Kampf gegen die Gewerkschaften wurde heftiger, die Hetze immer schärfer. Wir trafen uns nur noch gelegentlich, dabei sprachen wir von der ungewissen Zukunft. Als Hitler im Januar 1933 die Herrschaft übernahm, sah Franz die Zerschlagung der Gewerkschaften, die Beseitigung der Demokratie und der freien Meinungsäußerung voraus. ,Wir gehen schweren Zeiten entgegen, wer weiß, was noch wird.‘ Die Ereignisse gaben ihm recht. Kurz vor der Übernahme unseres Verbandes durch die Nazis sandte er mir noch mein Gehalt mit einem Grußwort an mich und meine Familie. Franz war uns ein lieber Freund gewesen. Ich bin ihm zu tiefem Dank verpflichtet, denn er hat mir für meine Gewerkschaftsarbeit wie für mein Leben überhaupt viel gegeben. Als mir und meinen Angehörigen die Nachricht von seinem Tode zuging, waren wir tief traurig, so, als ob ein Mitglied der Familie von uns gegangen sei. Seither haben wir immer wieder von ihm gesprochen. Er wird uns unvergessen bleiben.“ Offensichtlich hat sich Franz Leuninger mit den Bereichen Schlesiens besonders verbunden gefühlt, die als Grenzland galten und deren Arbeiterbevölkerung in besonders schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen lebte. Hiermit beschäftigte er sich in einem Aufsatz in der ,,Baugewerkschaft“ vom November 1928 eingehend. Darin stellt er folgendes fest: „Die wirtschaftliche und soziale Lage der Arbeiterschaft in Schlesien entspricht bei weitem nicht der der übrigen deutschen Arbeiterschaft. Es ist bezeichnend, daß dort Tausende von Frauen mit Schwer- und Schwerstarbeiten beschäftigt werden. Man sieht sie an den Kippwagen der Kalköfen. An den Laderampen der Fabriken laden sie mit den männlichen Arbeitern Kohle und andere Materialien ab. Selbst auf den Ziegeleien, in Sandgruben und bei Straßenbauten sind unzählige Frauen, verheiratete und unverheiratete, beschäftigt. Bei Löhnen von 45 bis 50 Pfennig pro Stunde, wie sie beispielsweise die Textilarbeiter von Neustadt haben, darf von Hungerlöhnen geredet werden. Aber auch unsere Bauarbeiter haben ein Einkommen, mit dem es nicht möglich ist, die bescheidensten kulturellen Bedürfnisse zu befriedigen. Besonders schwierig ist die Lage für unsere Kollegen, die nicht jeden Abend zu ihren Familien zurück können und deshalb gezwungen sind, auswärts zu wohnen. Was diesen Arbeitern an Lohn bleibt für den Unterhalt ihrer Familien, sei an nachfolgendem Beispiel gezeigt: Am Staubeckenbau Ottmachau werden die höchsten Tiefbaulöhne Oberschlesiens gezahlt, und zwar 67 Pfennige pro Stunde. Bei 48stündiger Arbeitszeit beträgt das Nettoeinkommen rund 27 Mark pro Woche. Für Logis und ein bescheidenes Essen – ohne Fleisch natürlich -werden pro Woche wenigstens 8 Mark verlangt. Für Fahrgeld und Verbandsbeitrag werden 2,50 Mark gebraucht, so daß, – wenn der Mann keine Pfeife Tabak raucht und kein Glas Bier trinkt, ihm für seine Familie nur noch 16,50 Mark verbleiben. Das traurigste Kapitel in den schlesischen Grenzlanden ist die Wohnungsnot. Während in Großstädten wie Bremen und Bochum auf 100 Wohnungen nur 2,8 bzw. 2,6 Wohnungen mit einem Zimmer kommen, entfallen auf 100 Wohnungen im Waldenburger Gebiet 45 Einzimmerwohnungen. Was für Waldenburg und Umgebung gilt, trifft für weite Teile des Grenzgebietes zu. Wer sich von diesen Verhältnissen nicht selbst durch Augenschein überzeugt, hält sie für unmöglich.“ In Breslau pflegte Franz Leuninger besonders gute Beziehungen zum katholischen Gesellenverein. Dort begegnete er auch Leuten vom Bau. Daraus entwickelte sich ein Freundeskreis. Dessen Mitglied, Johannes Beck, Kachelofenmeister, schreibt aus jener Zeit: ,,Als Geselle lernte ich Franz kennen. Es war damals die große Arbeitslosigkeit. Wir erlebten ihn oft in Versammlungen, wobei in bemerkenswerter Weise seine positive katholische Einstellung zum Ausdruck kam. Nach Versammlungsschluß versuchten wir meistens, ihn noch persönlich zu sprechen. Das war nicht so leicht, denn von vielen Seiten wurden Anliegen an ihn herangetragen. Und er hatte für alle Verständnis.“ Die Gründe für die Verbundenheit mit dem katholischen Gesellenverein, dem Werk des Schuhmachergesellen und späteren Priesters Adolf Kolping, waren verschiedenartig. Rein äußerlich galt zunächst die Mitgliedschaft und die Tatsache daß er als lediger junger Mann in katholischen Gesellenhäusern gewohnt hat. Letztlich entscheidend mag aber die Achtung gewesen sein, die er den Ideen Adolf Kolpings entgegenbrachte. Er war zwar nicht der wandernde Geselle, dessen leiblicher und seelischer Not Kolping entgegenzuwirken brauchte. Aber als Arbeiter im Baugewerbe erlebte er das karge Dasein in der Fremde, das vergleichbar war mit der Unbill der wandernden Handwerksgesellen jener Zeit. Für ihn war Kolping das, was ein anderer später folgendermaßen formulierte: „Ein praktischer, im Religiösen verankerter Volkserzieher, dem es um sittliche Erneuerung der Jugend und um die Rettung des christlichen Familienideals ging.“ In diesem Zusammenhang ist auch auf das Verhältnis von Franz Leuninger zur katholischen Arbeiterbewegung hinzuweisen. Besonders in der Zeit, da er als Gewerkschaftssekretär in Krefeld tätig war, stand er zu dieser in einem guten Kontakt. Er gehörte dem katholischen Arbeiterverein seiner Pfarrgemeinde an und war aktiv für die Bewegung tätig. Auch hier zeigte sich seine feste religiöse Überzeugung, so wie sie nach Beck später im katholischen Gesellenverein in Breslau zutage trat. Franz Leuninger wußte sich auch eins im Widerstand mit den Männern aus der katholischen Arbeiterbewegung, wie Nikolaus Groß, Bernhard Letterhaus und vielen anderen. buch4.htm Der politische Weg Im Elternhaus wurde seit jeher das politische Gespräch geführt. Zwar erlebte man das Tagesgeschehen in dem abseits gelegenen Westerwalddorf größtenteils am Rande. Die Tageszeitungen erreichten bis in die Zeit des ersten Weltkrieges hinein nur in wenigen Exemplaren Mengerskirchen. Das religiöse Schrifttum war etwas stärker verbreitet, ebenso die Heimatkalender. Unmittelbare politische Vorgänge waren allerdings die jeweiligen Gemeindewahlen, die nach dem sogenannten Dreiklassenwahlrecht durchgeführt wurden. Diese gesetzliche Regelung, im Jahre 1849 für Preußen getroffen und 1918 aufgehoben, teilte die Wahlberechtigten in 3 Klassen – je nach Steuerleistung – ein. Vor dem ersten Weltkrieg gehörten in Preußen 3,8% der Wahlberechtigten der ersten, 13,9% der zweiten und 82,3% der dritten Klasse an. Diese Zahlen auf Mengerskirchen angewandt bedeutete bei 300 angenommenen Wahlberechtigten, daß von diesen rund 11 der ersten, rund 42 der zweiten und der Rest von 257 der dritten Klasse angehört hätten. Bei der Gemeindewahl, bei der 12 Gemeindevertreter zu wählen waren, fielen den Wahlberechtigten einer jeden Klasse, unabhängig von der jeweiligen Zahl der Wahlberechtigten, vier Gemeindevertreter zu. Bei diesen Wahlen ging es in erster Linie um den Bürgermeisterposten. Interessant war nun dabei, daß die Vertreter der dritten Klasse bei der Wahl des Bürgermeisters den Ausschlag gaben, und zwar insofern, daß die Klasse den Bürgermeister stellte, dem die Drittkläßler ihre Stimmen gaben, und das war entweder die erste oder zweite Klasse. Auf den Gedanken, daß auch einmal ein Mann aus der dritten Klasse Bürgermeister werden könne, ist man zur damaligen Zeit erst gar nicht gekommen. Allerdings hat das „Volk“ einmal die Einsetzung eines Bürgermeisters erzwungen, und zwar in der 1848er Revolution. Nur kurze Zeit hat aber dieser Mann das Amt bekleidet, denn mit der Einführung des Dreiklassenwahlrechts im Jahre 1849 machten die begüterten Bürger ihren Anspruch, den Bürgermeister zu bestimmen, wieder mit Erfolg geltend. Dieses Wahlrecht war auch für andere politische Wahlen in Preußen gültig. Es ist nur zu verständlich, wenn die Familie, zu der Franz Leuninger gehörte und deren Vater auch Drittkläßler war, diese Ordnung ablehnte. Das entsprach ihrem Selbstbewußtsein und der Erkenntnis, daß nicht Reichtum und Besitz die bestimmenden Kräfte im politischen Leben eines Volkes sein können. Indessen stand man in äußerster Konsequenz all jenen Bestrebungen entgegen, die unter Mißachtung christlicher Grundsätze eine neue Ordnung, sei es mit Gewalt oder auch auf legalem Wege, herbeizuführen suchten. Die Grundlage hierfür lag in der religiösen Atmosphäre und den Erkenntnissen, die katholische Einrichtungen vermittelten. Hier ist vor allem der im Jahre 1890 gegründete Volksverein für das katholische Deutschland zu nennen, der sich die politische, soziale und kulturelle Belehrung und Erziehung seiner Mitglieder zur Aufgabe gemacht hatte. Sein Ziel war es, „Irrtümer und Umsturzbestrebungen auf sozialem Gebiet zu bekämpfen“. Der Verfasser erinnert sich noch gut an die belehrenden Schriften des Vereins, die durch einen Vertrauensmann in das Elternhaus gebracht wurden und deren Inhalt allseits großes Interesse fand. Im übergemeindlichen Raum zählte sich die Familie zum Zentrum, jener Partei, die bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegründet wurde und durch Fraktionen im preußischen Abgeordnetenhaus und im Reichstag vertreten war. Die Wähler des Zentrums rekrutierten sich vorwiegend aus dem katholischen Volksteil, und zwar aus allen Bevölkerungsschichten. Große Teile der in den christlichen Gewerkschaften organisierten Arbeitnehmer waren Zentrumsanhänger. Führende Gewerkschaftler gehörten als Zentrumsabgeordnete verschiedenen Parlamenten und nach 1918 vielen Regierungen an. Das weitgehend übereinstimmende christlich-soziale Gedankengut beider Institutionen war das Bindeglied. In dem rein katholischen Mengerskirchen war die Zentrumspartei immer dominierend. Bei der Wahl zur Nationalversammlung im Jahre 1919 wurden dort für sie über 90% der Stimmen abgegeben. Gewiß war dabei der katholische Charakter der Partei mitbestimmend, zumal der Kulturkampf in Preußen in der Zeit nach dem Krieg 1870/71 noch nicht vergessen war, in dessen Rahmen man den Bischof von Limburg, zu dessen Diözese Mengerskirchen gehörte, abgesetzt hatte und der dann viele Jahre in der Verbannung leben mußte. Auf der anderen Seite hielten es die Katholiken mit ihrer religiösen Haltung nicht für vereinbar, liberale oder sogar atheistisch-marxistische Parteien zu wählen. Hinter dieser Haltung verbarg sich alles andere als ein enger Horizont, sondern ein großes politisches Verantwortungsgefühl. Das bezieht sich vor allem auch auf die Arbeiter in Mengerskirchen, die auf den Arbeitsplätzen in den Großstädten und Industriegebieten mit den Nöten der Zeit und auch mit den sozialistischen Anschauungen konfrontiert wurden. In Versammlungen und durch die Lektüre ihrer Gewerkschaftszeitungen hatten sie sich ein beachtliches politisches Urteilsvermögen angeeignet. Das war die politische Atmosphäre, in der Franz Leuninger heranwuchs und sich entfaltete. Dazu kamen noch die persönlichen Erlebnisse in jungen Jahren. Es entwickelte sich bei ihm ein gesundes nationales Denken, wenn auch in seiner Heimat bei der damaligen älteren Generation die Abneigung gegen den militanten preußischen Geist spürbar war, was nicht nur auf der Auflösung des Herzogtums Nassau und seine Umwandlung in eine preußische Provinz beruhte. Die letzten Spuren dieser Haltung wurden jedoch durch den Ausbruch des ersten Weltkrieges verwischt. Noch nicht 16 Jahre alt, wollte sich Franz Leuninger damals als Kriegsfreiwilliger melden, was die Eltern allerdings verhinderten. Aber zwei Jahre später mußte er Soldat werden und kam nach kurzer Ausbildung an die Westfront. Frühzeitig erhielt er eine Kriegsauszeichnung und wurde bald zum Unteroffizier befördert. Nach dem Zusammenbruch der Front kehrte er zu Ende des Jahres 1918 in sein Elternhaus zurück. Dort traf er zu mitternächtlicher Stunde ein. Unter Tränen meinte er, das deutsche Heer hätte wenigstens an den Grenzen halten und den Feind abwehren müssen. Indessen fühlte er sich mit der monarchistischen Staatsform nicht kritiklos verbunden und fand bald ein Verhältnis zur neuen Ordnung. Der Raum für sein politisches Denken und Handeln wurde die Zentrumspartei, deren Mitglied er war. Noch einmal stand er im aktiven Einsatz für sein Volk, und zwar im Rahmen des sogenannten Ruhrkampfes im Jahre 1923. Damals besetzte Frankreich ohne Rechtsgrundlage das Ruhrgebiet als Sanktionsmaßnahme im Zusammenhang mit den von Deutschland auf Grund des Versailler Vertrages zu leistenden Reparationen. Diese Maßnahme stieß auf passiven und aktiven Widerstand des gesamten Volkes. Als junger Gewerkschaftssekretär in Euskirchen beteiligte sich Franz Leuninger an diesem Widerstand und mußte sich deshalb einer Verhaftung durch die französischen Militärbehörden durch Flucht aus dem besetzten Gebiet entziehen. Es ist schon früher erwähnt worden, daß die christlichen Gewerkschaften ein gesundes nationales Denken pflegten. Hierzu sagte Elfriede Nebgen: ,,Zur Tradition der christlichen Gewerkschaften gehörte (nun einmal) das Bekenntnis zur natürlichen Verbundenheit mit dem eigenen Volk.“ So und nicht anders war die nationale Gedankenwelt Franz Leuningers, die er in persönlichen Gesprächen und auch in der Öffentlichkeit bekundete, wobei es ihm vor allem auf eine würdige Eingliederung der Arbeiterschaft in unser Volk ankam. Zur vollen politischen Wirksamkeit kam er im Rahmen seiner Tätigkeit als Bezirksleiter des christlichen Bauarbeiterverbandes in Schlesien. In Breslau war er Mitglied der Stadtverordnetenversammlung, Deputierter in der Baudeputation beim Magistrat und Angehöriger sonstiger kommunaler Institutionen. August Weimer sagt über diese Tätigkeit: , überall war er der erfolgreiche und in gewissen Kreisen auch gefürchtete Vertreter der Menschen, die immer um den Platz an der Sonne kämpfen müssen. Er fühlte sich als Anwalt des „Kleinen Mannes“. Bei den letzten Reichtstagswahlen im Jahre 1932 kandidierte er für die Zentrumspartei Schlesiens. Seine politische Haltung war nicht eng von der eigenen Partei bestimmt. Im Mittelpunkt stand immer das ganze Volk. Schwer belastete ihn dessen Schicksal in den Notjahren vor 1933. Im Neujahrsartikel seiner Verbandszeitschrift vom 3.1.1931 bringt er zunächst ein Zitat: „Die Zukunft noch ein festverschlossenes Buch, von ahnungsvollem Grauen bang umwittert“ und setzt sich dann mit den Reparationslasten und ihren wirtschaftlichen Auswirkungen auf unser Volk auseinander, wobei er der Arbeitslosigkeit und dem Kampf um das Tarifvertragsrecht besondere Beachtung schenkt. Scharf wies er die Äußerung eines Landgutführers in einer Bauernversammlung zurück, die lautete: „Die Arbeiterschaft ist der einzige Stand, welcher von den Folgen des Krieges noch nichts gespürt hat.“ Diesen Worten setzt er folgendes entgegen: „Die Arbeiterschaft will, das muß auch am Anfang dieses Jahres klar und deutlich gesagt werden, keine Sonderstellung innerhalb des Staats- und Volkslebens. Was sie will, ist Arbeit und durch ihre Arbeit den angemessenen Lebensunterhalt für ihre Familien. Dazu Gleichberechtigung und Gleichachtung in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft.“ Zur innenpolitischen Lage äußert er sich so: „Möge vor allem in unserem tiefgeprüften Land der unselige Bruderkampf, wie er leider im Jahre 1930 geführt wurde, im Jahre 1931 aufhören. Die jüngste Vergangenheit hat doch schlagend bewiesen, daß wir nur als Gesamtvolk aufsteigen oder als Gesamtvolk untergehen können. Hoffentlich führt die Not, von der gesagt wird, daß sie zusammenführt, auch das deutsche Volk endlich zusammen. Wir als christliche Arbeiter wollen auch hier helfen, soweit wir dazu in der Lage sind. Mit dem Glauben an das deutsche Volk verbinden wir die Hoffnung an eine bessere Zukunft. Wir glauben an unser Volk und hoffen auf die Zukunft, weil wir Volk und Vaterland lieben.“ In einem weiteren Aufsatz des gleichen Jahres geißelt er scharf die Auswüchse des politischen Kampfes, die er für ein Unglück hielt, und sagte dazu: „Eine radikale Abkehr von dem bisherigen Weg ist notwendig. Der Revolver, der Dolch und der Schlagring müssen aus dem politischen Kampf verschwinden. Es sind doch schließlich alles deutsche Volksgenossen, welche tagtäglich verbluten. Mögen sie von der Schutzpolizei, von der Linken oder Rechten oder aus unpolitischen Kreisen stammen. Das Menschenleben, das fast wertlos geworden ist bei uns, muß wieder höher in Kurs kommen. Der Arbeiterschaft sollte ganz besonders die Tatsache zu denken geben, daß in der Regel sowohl auf der Linken als auch auf der Rechten ihre Standesgenossen es sind, welche von den politischen Drahtziehern in den Tod gehetzt werden.“ Indessen ging das deutsche Schicksal seinen Weg. Franz Leuninger hat bis zur letzten Stunde vor dem Nationalsozialismus gewarnt. Vor allem als Reichstagskandidat im Wahlkampf zur Wahl im November des Jahres 1932. Es mutet fast seherisch an, daß er in einer Wahlversammlung im Glatzer Bergland, wie von einem Versammlungsteilnehmer bekundet wurde, sagte, in diesem Bereich würden alle ihre Heimat verlieren, wenn Adolf Hitler zur Macht komme. Seine Ahnung wurde von den späteren Ereignissen noch weit übertroffen. IM WIDERSTAND Die Machtübernahme durch Hitler im Januar 1933 entfesselte das Unrecht und die rohe Gewalt in Deutschland. Besonders machten sich die gewaltsamen Methoden in den Gebieten bemerkbar, in denen die Bevölkerung noch nicht von den Ideen des Nationalismus infiziert war. In Mengerskirchen, dem Geburtsort von Franz Leuninger, wo auch die meisten seiner Angehörigen lebten, trat dieser Umstand sehr zutage. Dort war den Nationalsozialisten bislang bei keiner Wahl ein Einbruch in die Reihen der freiheitlich gesinnten Bevölkerung gelungen. Nur eine Handvoll Parteigänger zahlten sich zu der „neuen“ Bewegung. Diese entfalteten jedoch im Rausche der Macht eine erhebliche Aktivität. Dabei bedienten sie sich der Unterstützung Gleichgesinnter aus benachbarten Orten. Jeder ihnen Mißliebige wurde als Kommunist bezeichnet und mußte damit rechnen, auch aus unbegründetem Anlaß ihr Opfer zu werden. Als Domäne der Zentrumspartei über Generationen hinaus genoß Mengerskirchen in den Augen der neuen Machthaber einen ,,üblen“ politischen Ruf. Das führte zu den bösartigsten Exzessen. Der Bürgermeister wurde z. B. verhaftet und einige Tage in der Kreisstadt festgehalten. In der Nacht zum 13. Juli 1933 kamen Angehörige der SA und SS aus Nachbarorten und führten in vielen Häusern Haussuchungen durch, verhafteten ca. 30 Männer, mißhandelten sie und brachten sie nach Weilburg. Dort wurden sie oberflächlich vernommen und wieder nach Hause geschickt. Bei den Betroffenen handelte es sich durchweg um unbescholtene Personen. Die Denunzianten fanden sich in den Reihen der einheimischen Nationalsozialisten. Auch das Eltern haus von Franz Leuninger mußte eine Haussuchung im Rahmen der geschilderten Vorgänge über sich ergehen lassen. Angeblich sollte in dem Anwesen ein Maschinengewehr versteckt sein. Als die Suche im Haus ergebnislos verlief, brachen die Horden ein großes Loch in die alte Stadtmauer, die die Rückwand der Scheune bildete und suchten dort weiter. Geradezu grotesk war dabei, daß der Vater, als Eigentümer des Grundstückes, in seinem Leben weder eine Schußwaffe besessen, noch benutzt und wahrscheinlich auch nie in der Hand gehabt hatte. In jenen Tagen herrschte in Mengerskirchen zeitweilig ein besatzungsmäßiger Zustand; SA und 55 hatten alles umstellt und beschränkten die Bürger in ihrer Bewegungsfreiheit. Eine jüngere Tochter der Familie Leuninger wurde, nachdem sie beim Metzger Fleisch eingekauft hatte, von zwei SA-Männern mit aufgepflanztem Bajonett nach Hause begleitet. Schwerste Drohungen gegen die Bevölkerung ob ihrer politischen Gesinnung sprachen der Landrat und andere Personen aus. Daneben liefen auch viele Einzelaktionen. So verhaftete man eines Tages ein rechtschaffenes junges Ehepaar, führte es durch den Ort, während ihre kleinen Kinder weinend hinterherliefen. Der älteste Bruder von Franz Leuninger mußte sich, um einer Verhaftung zu entgehen, mehrere Tage in einem Kloster verstecken und ein jüngerer Bruder, der auf seiner Arbeitsstelle eine unbedachte Äußerung getan hatte, entging nur mit knapper Not den Händen der Schergen. Der Vater verlor, da ,,politisch unzuverlässig“, das Amt des Gemeinderechners. Der Bürgermeister und ein weiterer Mann holten mit Pferd und Wagen die Gemeindekasse und was dazu gehörte ab. In seiner Empörung zeigte der Vater mit der Hand zum Himmel und sagte: ,,Da oben ist einer der richtet und schlichtet“. Was man auch anstellte – die Gestapo war zweimal in Mengerskirchen zu Verhören des Pfarrers und des Schulleiters, auf Grund von auswärtigen Anzeigen – nichts konnte die Gesinnung der Bevölkerung ändern. Im Hörterhaus lebte bis 1945 eine Jüdin versteckt. Noch im Jahre 1937 gab es nur 6 eingeschriebene Mitglieder der Nazipartei. Die letzte großangelegte Schulung im Herbst 1938 war ein Mißerfolg. Obwohl das Erscheinen der gesamten Bevölkerung angeordnet war, erschienen außer zwei Rednern nur der Ortsgruppenleiter, zwei SA-Leute, 2 Lehrer, der Förster und ein Neugieriger. Die Vorgänge in Mengerskirchen, die sich anderwärts in ähnlicher und mitunter noch in grausigerer Form abspielten, waren der erste Nährboden für den Widerstand gegen den Unrechtsstaat Hitlers. Seine Machthaber bezeichnete einmal ein katholischer Professor als eine Räuberbande und nicht als Staatsgewalt. Indessen festigte sich diese Diktatur zum Teil mit Unterstützung in- und ausländischer Kräfte und Gruppen in unerhört kurzer Zeit, und zwar in einer Art, die jeden offenen Widerstand unmöglich machte. Schnell wurde das gültig, was Wilhelm Leuschner, der ehemalige Führer der Freien Gewerkschaften, im Jahre 1939 an einen englischen Gewerkschaftler übermitteln ließ: „Wir sind Gefangene in einem großen Zuchthaus. Zu rebellieren wäre genauso Selbstmord, als wenn Gefangene sich gegen ihre schwerbewaffneten Aufseher erheben würden.“ Diejenigen, die sich ein anständiges Denken bewahrt hatten, standen stärkstens gegen diesen Staat und seine Machthaber. Ein organisierter Zusammenschluß dieses Personenkreises war kaum möglich und selten von Dauer. So war meist der Einzelne auf sich selbst gestellt und konnte nur im Freundes- und Bekanntenkreis politisch wirken. Das geschah denn auch auf vielfältige Art. In diesem Zusammenhang kann die politische Tätigkeit der Emigranten unberücksichtigt bleiben. Es scheint, daß diese keine ins Gewicht fallende Bedeutung hatte, es sei denn, daß durch sie in mehr oder minder großem Umfange eine Verbindung zu politischen Gruppen im Ausland hergestellt wurde. Echter politischer Widerstand begann mit der Haltung einzelner Persönlichkeiten, die dem Regime die Mitarbeit versagten. Dies geschah im öffentlichen Dienst oder auch in anderen Institutionen, die der neue Staat für seine Zwecke umformen wollte. Hier ist vor allem Jakob Kaiser zu nennen, der eine führende Position in den christlichen Gewerkschaften einnahm. Er war denn auch schon frühzeitig der politischen Verfolgung ausgesetzt. Ein Bruder von Franz Leuninger, auch Funktionär der christlichen Gewerkschaften, erkannte ebenfalls die verhängnisvolle politische Entwicklung und löste sein Dienstverhältnis, noch ehe diese Organisation zerschlagen wurde. Ein solches Verhalten war vielfach nicht nur mit Existenznöten, sondern auch mit Gefahren für Leib und Leben des Betreffenden verbunden. Selten fand sich für solche Leute ein geeigneter Arbeitsplatz. Manche mußten sich mit einer kümmerlichen Vertretertätigkeit begnügen. Andere wiederum schafften sich mit der Übernahme eines kleinen Einzelhandelsgeschäftes eine bescheidene Lebensgrundlage. Sie resignierten aber nicht gegenüber der politischen Entwicklung, die sie kritisch beobachteten. Ihre Ansichten zu den politischen Ereignissen, getragen von der Ablehnung des Unrechtsstaates, tauschten sie in Freundes- und Bekanntenkreisen aus. Sie hielten Kontakt mit Menschen, die durch die Ereignisse unsicher und verwirrt wurden. So diente ihr Bemühen der Erhaltung einer moralischen Substanz unter den Mitbürgern im politischen Bereich. Dem Verfasser ist ein Mann bekannt, der in einer rheinischen Großstadt einen Lebensmittelladen betrieb und seine Ware zeitweilig auch in die Häuser seiner Kunden – es handelte sich dabei vielfach um Freunde aus den christlichen Gewerkschaften – brachte. Bei fast allen Besuchen wurden politische Gespräche geführt und Informationen ausgetauscht. In diesem Zusammenhang sei auch auf die Unterstützung hingewiesen, die man dem unter den politischen Verhältnissen Notleidenden zuteil werden ließ. Ein solches Verhalten barg nicht selten Gefahren in sich. Diese waren besonders groß, wenn es um die Unterstützung jüdischer Mitbürger ging. Den vorgenannten Lebensmittelhändler besuchte bis gegen Ende der dreißiger Jahre ein jüdisches Ehepaar, und zwar auch noch, als dieses schon im Getto lebte und nur noch zu bestimmten Zeiten und in eigens für Juden bestimmten Geschäften kaufen durfte. Trotz des Boykotts belieferte er es mit Waren aus seinem Laden. An seinem Schaufenster fehlte das Transparent ,,Deutsches Geschäft“, das sonst fast überall zu sehen war. Die Ablehnung des Gewaltregimes äußerte sich auch vielfältig auf andere Weise: Es wurden die Teilnahme an Beflaggungen bei sogenannten nationalen Ereignissen verweigert und politische Veranstaltungen gemieden. Den Straßensammlungen der Nazi-Organisationen suchte man zu entgehen und die unvermeidbare Spende bei Haussammlungen war kärglich und wurde nur widerwillig gegeben. Das Elternhaus von Franz Leuninger in Mengerskirchen suchten die Sammler nur ungern auf, weil die geringfügige Spende gar oft von dem beißenden Spott des Vaters begleitet war. Große Teile der gläubigen Bevölkerung wandten sich einer verstärkten religiösen Betätigung zu. Ihre Aktivität steigerte sich insbesondere bei Veranstaltungen außerhalb des Kirchenraumes und wurde beispielsweise im katholischen Bereich an der starken Beteiligung der Fronleichnamsprozessionen deutlich. Alle diese Vorgänge wird man nicht als unmittelbaren Widerstand bezeichnen können. Aber sie standen in dem Raum, den man im weitesten Sinne als Widerstand bezeichnen kann. Die stummen Proteste waren von ungeheurem Wert, weil sie wenigstens einem Teil der Bevölkerung einen geistigen Zusammenhalt gegen das Aufgehen im Unrechtswesen des Hitlerstaates gaben. Wer so handelte, setzte sich öffentlich in Gegensatz zu diesem Staat und schloß sich nach der Anschauung der Herrschenden aus dem Staat aus. Einen Teil dieser Menschen wird man in allerbestem Sinne als ,,die Stillen im Lande“ bezeichnen können. Ohne sie wäre es nicht denkbar gewesen, den Unrechtsstaat zu beseitigen und eine Änderung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse herbeizuführen. Ohne ihren Rückhalt wäre ein aktiver Widerstand nicht möglich gewesen. Als die Freiheit in Deutschland durch Hitler unterging, war Franz Leuninger Gewerkschaftssekretär in Breslau. Er teilte damals das Los derjenigen, die durch die Zerstörung der christlichen Gewerkschaften ihre Existenz verloren. Das war für den Familienvater mit drei kleinen Kindern eine schwere Belastung. Bei dem jüngeren Bruder in Köln, der unter gleichen Umständen in die „neue“ Zeit hineingerissen wurde, aber sich alsbald eine bescheidene Existenz aufgebaut hatte, suchte er nach Möglichkeiten, das gleiche zu tun. Diese Absicht ließ sich allerdings nicht verwirklichen. Indessen ergab sich für ihn in Breslau eine neue Lage. Bereits vor 1933 war Franz Leuninger ehrenamtlicher Geschäftsführer der Gemeinnützigen Siedlungsgesellschaft „Deutsches Heim“, einer Tochtergesellschaft der „Schlesischen Heimstätte“. Dieses Unternehmen wurde vorwiegend von der christlich-sozialen Bewegung getragen. Die Verantwortlichen rekrutierten sich aus den christlichen Gewerkschaften, über die konfessionellen Standesvereine bis hin zu dem politisch orientierten christlich-sozialen Volksbund, dessen Anhänger vorwiegend evangelische Christen waren. Mit der Änderung der politischen Verhältnisse bestand die Gefahr, daß das Unternehmen in die Hände der Nationalsozialisten geraten werde. Mit allen Mitteln versuchte man, dies zu verhindern und scheute dabei auch Manipulationen hinsichtlich der Verteilung der Geschäftsanteile der Gesellschaft nicht. Vor allem ging es um die hauptberufliche Besetzung des Geschäftsführerpostens, den Franz Leuninger seither ehrenamtlich verwaltet hatte. Hierbei war nicht ausgeschlossen, daß ein „Parteibeauftragter“ diese Position einnehmen würde, womit zwangsläufig der Einfluß der Kräfte ausgeschaltet worden wäre, die das „Deutsche Heim“ aufgebaut und getragen hatten. Dieser Umstand veranlaßte die Verantwortlichen zu dem Versuch, ihn, der ja diese Aufgabe seither offensichtlich mit Erfolg wahrgenommen hatte, für den Posten des hauptberuflichen Geschäftsführers zu gewinnen. Dabei war man, wie August Weimer ausdrücklich feststellt, bestrebt zu verhindern, daß die Gesellschaft in den direkten Einflußbereich der Nationalsozialisten komme und daß andererseits der eigene Einfluß gesichert bliebe. Darüber hinaus versprach man sich auch von dieser Regelung die Möglichkeit der Unterstützung von gewerkschaftlichen und politischen Freunden, die durch die politische Entwicklung zu Schaden gekommen waren oder noch kommen konnten. Der Umstand, daß Franz Leuninger die Geschäftsführung übernahm, wirkte sich gerade auf den letztgenannten Gesichtspunkt positiv aus. In der Tat war es ihm möglich, manchen Freunden bei dem Aufbau und der Erhaltung einer Existenz zu helfen. Da ist zunächst August Weimer, langjähriges Mitglied des Bundestages und Mitglied des Hauptvorstandes der Industriegewerkschaft Bau-Steine-Erden, zu nennen, der bis zum Jahre 1933 Gewerkschaftssekretär und ein enger Mitarbeiter von Franz Leuninger war. Dieser, aus einem baugewerblichen Beruf kommend, machte sich, nachdem er unter schwersten persönlichen Opfern im Jahre 1936 die Meisterprüfung im Malerhandwerk abgelegt hatte, selbständig und wurde seitdem in erheblichem Umfange mit Aufträgen seitens des „Deutschen Heimes“ unter der entscheidenden Mitwirkung von Franz Leuninger bedacht. Das war damals für einen jungen Unternehmer, der „parteipolitisch“ nicht mehr aufzuweisen hatte als eine „schwarze Vergangenheit“, insbesondere für seine wirtschaftliche Existenz von entscheidender Bedeutung. Hierbei ist hervorzuheben, daß die Aufträge an Weimer teilweise aus öffentlichen Mitteln finanziert wurden. Auf der gleichen Ebene lagen die Beziehungen des ehemaligen sozialdemokratischen Polizeipräsidenten von Breslau, Fritz Voigt, zu der Siedlungsgesellschaft „Deutsches Heim“. Auf Anregung von Franz Leuninger betätigte sich dieser als Grundstücksmakler. Es ist anzunehmen, daß Voigt mit seinem Unternehmen vorwiegend der Geschäftspartner der Siedlungsgesellschaft war und durch Franz Leuninger eine entsprechende Förderung und Unterstützung erfuhr. Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf den Ofensetzermeister Beck von Breslau, der durch den katholischen Gesellenverein mit Franz Leuninger bekannt war und durch dessen Vermittlung viele Aufträge für das „Deutsche Heim“ ausführte. Das Motiv für diese Haltung Franz Leuningers lag ausschließlich in der Verbundenheit mit allen Gegnern des nationalsozialistischen Unrechtsstaates. Jeder, der auch nur annähernd mit den Verhältnissen im Hitlerstaat vertraut war, wußte, daß die vorstehend dargelegte Haltung Gefahren in sich barg. Zumindest konnte sie zu seiner Abberufung als Geschäftsführer der Siedlungsgesellschaft führen. Die Situation schildert Kurt Henke, ein Schlesier, der nach 1945 eine neue Heimat in Rohnstadt (Oberlahnkreis) fand, so: „Als aktiver Gewerkschaftler, dem freigewerkschaftlichen Baugewerksbund angehörend, wurde ich 1933 vier Monate in ,Schutzhaft‘ genommen. Auf Grund meiner fachlichen Qualifikation als Polier im Baugewerbe und meiner Erfahrung im schlesischen Siedlungswesen fand ich im Jahre 1938 in Breslau eine Anstellung als Bauleiter bei der ,Schlesischen Heimstätte‘. Hier begegnete ich Franz Leuninger. Schnell entwickelte sich zwischen ihm und mir eine gute Zusammenarbeit, die zu einer gegenseitigen fachlichen und menschlichen Respektierung führte. Für die Annäherung hat das Gefühl der Verbundenheit aus unserer gewerkschaftlichen und politischen Vergangenheit sicherlich eine große Rolle gespielt. Franz Leuninger war mir einer der liebsten Menschen, denen ich damals im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit begegnet bin. Mir war auch zu jener Zeit das Verhältnis zwischen ihm und dem ehemaligen Polizeipräsidenten Voigt bekannt. Ganz offensichtlich versuchte Franz Leuninger Voigt zu helfen und zu decken. Ich weiß, daß die beiden sich oft in den Geschäftsräumen des ,Deutschen Heims‘ getroffen haben. Mein Empfinden damals war, daß sich aus diesem Verhältnis für Franz Leuninger schwerwiegende politische Schwierigkeiten ergeben konnten.“ Allerdings führte seine berufliche Tätigkeit zwangsläufig zu Kontakten mit Behörden und Parteiorganisationen. Durch Geschicklichkeit und Erfahrung, verbunden mit großen persönlichen Opfern, gelang ihm die Tarnung, obwohl er den damaligen Machthabern, wie August Weimer berichtet, immer als verdächtig galt. Im übrigen hatten seine Freunde, die die Zusammenhänge kannten, für alle seine Schritte Verständnis, um den Verdacht der „Unzuverlässigkeit“ von sich abzulenken, wozu auch die nominelle Parteimitgliedschaft gehörte. Seine wahre politische Überzeugung wurde von ihnen nie in Zweifel gezogen. Immerhin war jene Zeit für ihn, den freiheitlichen Arbeiterführer und Politiker eine schwere nervliche und seelische Belastung. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß Franz Leuninger zu einem Dr. Helbig, der als Finanzwissenschaftler für das ostdeutsche Siedlungswesen tätig war und wegen seiner jüdischen Ehefrau von dieser Aufgabe entbunden wurde, enge persönliche Kontakte pflegte und diesen oft in seine Wohnung einlud. Mit seinen Freunden lebte Franz Leuninger in engen persönlichen Beziehungen und führte ständig vertrauliche politische Gespräche mit ihnen. August Weimer wurde beispielsweise von ihm über alle wichtigen Begebenheiten und Vorgänge im politischen Bereich unterrichtet, die normalerweise nur durch die ausländischen Sender zu hören waren, allerdings mit dem Unterschied, daß es Franz Leuninger vielfach früher wußte, als es die Radionachrichten brachten. Über familiäre und freundschaftliche Verhältnisse hinaus kam es auch zu politischen Gesprächen mit anderen Gleichgesinnten. Bereits in den Jahren 1937/38 fanden wiederholt in seinem Büro solche Gespräche statt, an denen neben Weimer und Voigt auch andere Persönlichkeiten teilnahmen. Mit diesen Feststellungen ist aber auch dargetan, daß der Widerstand sich nicht erst formierte, als die militärische Niederlage Deutschlands im zweiten Weltkrieg offenkundig wurde. Auch Franz Leuninger stand schon sehr zeitig in den Reihen derjenigen, denen es auf die Beseitigung des Unrechtstaates ankam, und die an dessen Stelle eine bessere und gerechtere Ordnung in allen Lebensbereichen setzen wollten. Jakob Kaiser, der Franz Leuninger schon aus dessen gewerkschaftlicher Tätigkeit in Schlesien kannte und schätzte, sagte: ,,Es entsprach einer Selbstverständlichkeit, daß ich nach 1933 mit Franz Leuninger in steter Verbindung geblieben bin. Leuninger gehörte bis zum Schluß, neben dem früheren Polizeipräsidenten Voigt, in Breslau zu den schlesischen Vertrauensleuten der Widerstandsgruppe die sich um Karl Friedrich Goerdeler und Generaloberst Ludwig Beck geschlossen hatte.“ Elfriede Kaiser-Nebgen bekräftigte dies mit den Worten: ,,in Breslau wirkte der ehemalige Gewerkschaftsführer Franz Leuninger schon früh mit dem aus den freien Gewerkschaften stammenden sozialdemokratischen Polizeipräsidenten Voigt und dem freien Gewerkschaftler Wirsisch im Widerstand zusammen.“ Die Motive für das Handeln von Franz Leuninger im Widerstand decken sich mit denjenigen der anderen Widerstandskämpfer, „die durchweg religiös und sozial gebunden waren Er litt mit ihnen unter den Nöten der Unfreiheit und der Ungerechtigkeiten des totalitären Systems, die mit dem Krieg ihren Höhepunkt erreichten. An dem Feldzug gegen Polen nahm er als Vierzigjähriger aktiv teil. Unberührt von den militärischen Erfolgen des deutschen Heeres bewegte ihn die Not und das Elend der Menschen, die unmittelbar in das Kriegsgeschehen verwickelt waren. In dieser Situation legte er in einem Brief an einen seiner Brüder seinen Standpunkt zum Krieg dar mit den Worten: „Es gibt nichts, was einen Krieg rechtfertigt, und es ist jedes Mittel erlaubt, das einen Krieg verhindert.“ Er war sich zu jeder Zeit darüber klar, daß Hitler den Krieg nicht gewinnen konnte und auch nicht gewinnen durfte. Mit August Weimer teilte er die Meinung, daß im Falle eines Sieges, sie und alle Gleichgesinnten aller Rechte – auch das auf Leben – verlustig gehen würden. Seinen Familienangehörigen und seinen Freunden stand Franz Leuninger rein menschlich immer sehr nahe und auch in ihrer politischen Gesinnung wußte er sich mit ihnen verbunden. Aber selbst in diesen Kreisen ist über seine Tätigkeit im Widerstand wenig bekannt, so daß eine umfangreichere Darstellung derselben nicht möglich ist. August Weimer und andere ihm nahestehende Menschen, die sein Vertrauen hatten, hat er lediglich dahingehend unterrichtet, daß es Widerstandsgruppen gibt, sie jedoch nicht darüber aufgeklärt, daß er einer solchen angehört. So hat man schon gar nichts über irgendwelche Funktionen, die er im Rahmen des Widerstandes ausgeübt hat, in Erfahrung bringen können. Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang vielleicht die Tatsache, daß er, als die Bombenangriffe vor allem auf die westdeutschen Großstädte erfolgten, des öfteren Reisen nach Westdeutschland unternahm, um sich als Fachmann im Wohnungsbau über die Auswirkungen der Bombenangriffe zu informieren. Es ist wohl die begründete Vermutung geäußert worden, daß der genannte Zweck dieser Reisen eine Tarnung war für die Ausführung irgendwelcher Aufträge der Widerstandsbewegung. Es ist zu bedenken, daß die Widerstandsgruppen und ihre Angehörigen untereinander Informationen nur im persönlichen Gespräch austauschen und Kontakte pflegen konnten und weder schriftlich noch fernmündlich tätig werden durften. Indessen besagen einige bekannte Fakten, daß Franz Leuninger eine nicht unerhebliche Aktivität in der Widerstandsbewegung entwickelt haben muß. So reiste er des öfteren nach Berlin, wo er mit Jakob Kaiser Gespräche führte. Hieran nahm auch einmal Fritz Voigt teil. Hermann von Lüninck erinnert sich an eine Besprechung im Herbst 1943 in Berlin, deren Teilnehmer u. a. Goerdeler, Jakob Kaiser und Franz Leuninger waren. Es ging dabei um sozialpolitische und Ernährungsfragen nach einem erfolgreichen Umsturz. Die Unruhe über die Entwicklung in Deutschland, insbesondere hervorgerufen durch das Kriegsgeschehen, die sich unter seinen Freunden und Familienangehörigen immer mehr steigerte, veranlaßte Franz Leuninger hin und wieder zu Äußerungen, die beruhigend und tröstend wirken sollten. In vorsichtiger Form wies er auf Kräfte hin, die bestrebt seien, das Chaos zu beseitigen und die Ordnung wiederherzustellen. Diese Haltung erreichte einen dramatischen Höhepunkt bei seinem letzten Besuch in Mengerskirchen im Frühjahr 1944, gelegentlich einer Reise nach Westdeutschland. An einem Abend war er mit seinen nächsten Angehörigen im Elternhaus versammelt. Bedrückend war die Atmosphäre, die durch die Nöte und die Sorgen der anwesenden Frauen und Mütter hervorgerufen wurde. Die Väter und erwachsenen Söhne standen im Kriegsgeschehen. Er aber sprach von der Hoffnung auf ein Ende der Schrecken, das nicht mehr ferne sei. Männer wären bereit, ihr Leben dafür einzusetzen, weil sie das ihrem Volke schuldig zu sein glaubten. Die Soldaten an der Front stünden immer in Lebensgefahr. Aber es muß ihn doch eine bange Ahnung erfüllt haben, denn ehe man auseinanderging, hakten sich alle auf sein Geheiß in die Arme, wobei er sagte: „Es werden aber doch noch schwere Zeiten kommen und dann müßt ihr alle so zusammenstehen, wie in diesem Augenblick.“ Noch deutlicher wurde die Ahnung an ihm sichtbar, als er Abschied nahm, um die Rückreise nach Breslau anzutreten. Seinen alten Vater umarmte er dreimal und sein lautes Schluchzen, das er zu unterdrücken suchte, schüttelte seinen ganzen Körper. Zu seinen Schwestern sagte er, daß er seinen Vater wohl nicht mehr sehen werde und zu ihnen würde er sicher lange Zeit nicht mehr kommen können. Der Krieg sei verloren, Deutschland werde in Zonen eingeteilt und dann sei das Reisen unmöglich. Seine älteste Schwester fragte er noch, ob ihre Söhne auch keine Nazis seien; es wäre furchtbar, wenn sie mit diesen Verbrechern etwas zu tun hätten. Und dann kam der 20. Juli. Einige Tage vorher sprach er noch in engstem Familienkreis über die Konzentrationslager und die Gewaltherrschaft. „Die Verbrechen sind so furchtbar, daß sie nur mit dem Blut der Besten gesühnt werden können.“ So seine Worte! Die Nachricht von dem Attentat und seinem Mißlingen erreichte ihn in seinem Büro in Breslau. Es trieb ihn nach Hause, wo er seine Frau und seine Schwägerin antraf. In tiefer Bestürzung sprach er über die Geschehnisse, die ihn auffällig nachdenklich stimmten. Es war, ohne daß er es kundtat, die Sorge um das Schicksal der eigenen Person und das der Schicksalsgefährten. Schon am 22. Juli benachrichtigte man ihn von der Verhaftung Voigts durch die Gestapo. Sofort setzte er sich mit einem Rechtsanwalt und anderen Persönlichkeiten in Verbindung, um über dessen Schicksal Näheres zu erfahren, wodurch er sich selbst in Gefahr begab. Weitere Verhaftungen von Bekannten erfolgten. Bei den Informationen hierüber verwendete man Decknamen und verschlüsselte Wortlaute. Wenige Wochen später erreichte auch ihn sein Schicksal. Die Gestapo holte ihn von seinem Büro ab. Die Vorwürfe, die man gegen ihn erhob, vermittelt ein Auszug aus dem Haftbefehl gegen Franz Leuninger, in dem folgendes zu lesen ist: „Leuninger hat bereits in den Jahren 1941/42 von dem ihm von früher gut bekannten ehemaligen sozialdemokratischen Gewerkschaftssekretär Fritz Voigt erfahren, daß gewisse Kreise des Adels und der Wirtschaft zur Herbeiführung eines Sonderfriedens mit den Westmächten eine Änderung der Regierung anstrebten. Dies wurde ihm später von dem früheren Landesgeschäftsführer der Christlichen Gewerkschaften, Jakob Kaiser, in Berlin bestätigt, der ihm auch nähere Mitteilungen über die geplante Überführung der DAF in eine deutsche Einheitsgewerkschaft machte. Wenn Leuninger auch über die Kräftegruppe, die hinter der neuen Bewegung stand, und über ihren Weg nicht näher unterrichtet gewesen sein will, so nahm er doch an, daß sich diese Gruppe unter der Beseitigung der gegenwärtigen Regierung auf irgendeine Art der Gewalt im Staate bemächtigen würde. Obwohl er also über den hochverräterischen Charakter dieser Bestrebungen nicht im Zweifel sein konnte, unterließ er nicht nur eine Anzeige, sondern beteiligte sich im Spätherbst 1943 in der Wohnung Voigts in Breslau, zusammen mit Voigt, dem früheren sozialdemokratischen Gewerkschaftssekretär Wirsisch und dem früheren sozialdemokratischen Landrat Winzer an der Erörterung der Frage, wer bei der Regierungsänderung für den leitenden politischen Posten in Niederschlesien in Frage käme. Auch Leuninger erklärte sich zur Mitarbeit für die neue Regierung durch Überwachung der wirtschaftlichen Organisation bereit.“ Dieser Auszug umfaßt nur einen Abschnitt aus der Tätigkeit Franz Leuningers im Widerstand, wie die Darlegungen im vorstehenden Kapitel zeigen. Für die Machthaber reichte aber das in dem Haftbefehl Gesagte aus, um ihn ins Gefängnis zu bringen. Gefängnis und Tod Schau die Ge/ängnisse, ganz angefüllt mit Menschen, die zum Tode verurteilt sind: Man sollte glauben, nur Verbrecher zu sehen, und man sieht nichts als Helden. Nachtgedanken des Heiligen Augustinus. Ursprünglich waren die verhafteten Angehörigen der Widerstandsbewegung „20. Juli 1944“ in verschiedenen Gefängnissen des Reichsgebietes untergebracht. Johannes Albers, ehemals Kartellsekretär der christlichen Gewerkschaften in Köln und Vorgänger eines Bruders von Franz Leuninger, wurde, nachdem ihn die Gestapo schon Monate vorher gesucht hatte, am 24. Oktober 1944 verhaftet. Gemeinsam mit Heinrich Körner, ebenfalls ein Funktionär der christlichen Gewerkschaften in Köln, war er zunächst im Zuchthaus Rheinbach inhaftiert. Über das Untersuchungsgefängnis in Fürstenberg/Mecklenburg kam Franz Leuninger im Januar 1945 nach Berlin Moabit. Diese Situation ergab sich wohl aus der Tatsache, daß die Widerstandsgruppe „20. Juli“ sich trotz der verhältnismäßig geringen Zahl ihrer Angehörigen, über das ganze Reichsgebiet erstreckte. Hermann Freiherr von Lüninck, der auch dazugehörte, glaubt ernsthaft, daß zum Zeitpunkt des 20. Juli nicht mehr als 200 Personen beteiligt waren. Erst im Laufe der auf das Attentat folgenden Monate erfolgte die Zusammenführung der inhaftierten Widerstandskämpfer ins Gefängnis Berlin-Moabit. Bis dahin kannten sie sich vielfach nicht untereinander, was auf die streng geheime Tätigkeit des Einzelnen im Widerstand zurückzuführen ist. Johannes Albers hörte von der Zugehörigkeit Franz Leuningers zur Widerstandsgruppe erstmalig in der Haftzeit am 9. Dezember 1944. Die erste Begegnung zwischen beiden, die sich von ihrer gewerkschaftlichen Tätigkeit her kannten, war am 18. Januar 1945 im Moabiter Gefängnis beim „Spaziergang“. In Moabit waren sie alle – soweit noch nicht tot oder noch in Freiheit – versammelt; Angehörige jeglicher Gesellschaftsschichten und politischer Gesinnungen. Vom Adligen über den Offizier und Beamten bis zum Gewerkschaftssekretär, vom liberalen Demokraten bis zum Sozialdemokraten „und selbst Verbindungsleute bis hin an die Grenze des Kommunismus~. Nach der Auffassung von Lüninck stellten das Hauptkontingent Männer christlich-konservativer und christlich-sozialer Prägung. Alle aber hatte der Wille geeint, den Unrechtsstaat zu beseitigen und an seine Stelle Ordnung und Recht zu setzen. Schwer trugen die Gefangenen an ihrem Schicksal. Die Haft war ausgefüllt mit seelischen Qualen und körperlicher Not. Bis etwa Mitte Januar bestand in Moabit strenge Einzelhaft. Neben der ungewissen persönlichen Zukunft und bei manchen die Vorahnung des sicheren Todes mag vor allem die Sorge um Heimat und Volk und die Familie die größte Rolle gespielt haben. Man wird davon ausgehen dürfen, daß Franz Leuninger um seine Frau und seine drei Söhne große Not ausgestanden hat. Seine Frau hielt sich in den ersten Monaten der Haft allein in Breslau auf und die Söhne im Alter von 16 bis 20 Jahren standen an der Front. Zeitweilig war ihm deren Schicksal völlig unbekannt. Seine Sorge ist auch in Gesprächen mit seinen Mitgefangenen zum Ausdruck gekommen, wie von Lüninck und Albers bestätigten. Sie ist aber auch durch einen Brief belegt, den er bereits am 13. Oktober 1944 aus dem Gefängnis Fürstenberg an drei seiner Brüder schrieb, der folgenden Wortlaut hatte: Fürstenberg, den 13.10.44 Meine lieben Brüder Aloys und Schorsch! Über mein Schicksal werdet Ihr wohl von meiner Frau unterrichtet sein. Ich bin nicht in der Lage, Euch öfter zu schreiben; daß ich das heute kann, verdanke ich dem Entgegenkommen des Beamten, der meine Sache bearbeitet. Während ich Euch nicht schreiben kann, dürft Ihr mir aber schreiben und ich bitte Euch herzlich darum. Meine Zukunft ist ja nun recht unklar, und ich möchte doch alles, soweit mir das möglich ist, in Ordnung bringen. Mit gleicher Post geht ein Brief gleichen Inhalts an Bruder Josef ab. Ich weiß nicht, ob und wann es mir möglich ist, für meine Familie zu sorgen. Deshalb, meine lieben Brüder, habe ich an Euch die große Frage und herzliche Bitte: Werdet Ihr, Josef, Alois und Schorsch für meine drei Jungen sorgen, wollt Ihr jeder je ein Vater sein, wenn ich es nicht mehr kann? Josef für Franz, Du Alois für Walter und Du Schorsch für Herbert? Wollt Ihr für sie sorgen, als ob ~s Eure eigenen wären? Für die ersten 1-2 Jahre ist für Paula und auch die drei geldmäßig gesorgt. Am besten wird ja sein, wenn Paula nach dem Krieg das Häuschen in Breslau verkauft und zu Euch nach dem Westen zieht. Helft ihr bitte dabei, daß sie wieder Boden unter die Füße bekommt. Einige tausend Mark werden ja bei dem Verkauf des Hauses bleiben. Franz hat das erste Semester auf der Staatsbauschule fast beendet, Walter hat noch 1 1/2 Jahre bis zum Abitur, während Herbert noch 2/12 Jahre braucht. Je ein Testament lege ich bei, welches Du, Schorsch, und Du, Josef, aufbewahren willst. Ich kann Euch nicht zwingen, meinen Wunsch zu erfüllen und es wird auch für Euch nicht leicht sein, ihn zu erfüllen. Ich bitte Euch aber unter Berufung auf das Wort: „Was Ihr dem geringsten meiner Brüder getan, das habt Ihr mir getan“ und ich bin doch jetzt der geringste meiner Brüder. Es wäre für mich eine unendliche Beruhigung, von Euch recht, recht bald eine Nachricht zu erhalten, in der Ihr mir bei unserer guten Mutter versprecht, meinen Wunsch zu erfüllen. Gebt mir also, bitte, bald Bescheid. Seid auch so gut und schreibt meiner armen Frau, die ja alleine in Breslau sitzt und sich um ihre drei Jungen und den Mann sorgt, ab und zu ein paar Zeilen und unterstützt sie, falls noch Schwereres über sie kommen sollte. Falls ich es Euch nicht lohnen und vergelten kann, wird es sicher der Herrgott tun. Ihr wollt aber von diesem Brief niemand auch nur andeutungsweise Kenntnis geben. Und nun, meine lieben Kerle, lebt wohl. Tragt mir nicht nach, wenn ich Euch jemals Schmerz bereitet habe, und vergeßt mich nicht. Möge es Euch allezeit so gut gehen, wie Ihr es Euch wünscht. Der Brief richtete sich an die Brüder, welche jeweils die Taufpaten der Söhne waren. Damit entsprach Franz einem alten Brauch, nach welchem die Taufpaten über den religiösen Bereich hinaus für ihre Patenkinder neben den Eltern in besonderem Maße die Verantwortung tragen. Nachstehend der Auszug aus der Antwort eines der in dem Brief vom 13. Oktober aus Fürstenberg angesprochenen Brüder: „Du bist der brave Sohn unseres guten Vaters und das liebe Kind unserer heimgegangenen Mutter. Du bist mein Bruder. Mein höchster Wunsch ist – und das sind meine Gedanken und darum flehe ich -, daß Du stark sein mögest. Es wird uns zeitlebens – ganz gleich, was kommt – eine Beruhigung sein, von Dir zu wissen, daß Du seelisch ungebrochen den Weg gehst, wozu Du durch die Verhältnisse gezwungen wirst. Ich weiß von Dir, daß es so sein wird. Ich will Deinem Sohn, soweit es von mir abhängt und wenn es einmal nötig sein sollte, so Vater sein, wie meinen eigenen Kindern. Das verspreche ich Dir bei dem Andenken unserer Mutter. Unsere Familiengemeinschaft ist groß und besitzt Werte, die jedem von uns Halt und Stütze sein können. Wenn die Bitterkeit und Einsamkeit Dich überkommen wird, dann denke daran, daß wir alle Deiner in Liebe und Sorge gedenken. Du bist nicht der Geringste, mein Bruder. Du bist der Beste, Du bist uns der Liebste.“ Zu persönlichen Begegnungen zwischen Franz Leuninger und seinen Angehörigen ist es während der Haftzeit mit einer Ausnahme nicht gekommen. Das hatte verschiedene Gründe. Vor allem mag es daran gelegen haben, daß die nächsten männlichen Verwandten alle unmittelbar in das Kriegsgeschehen verwickelt und gehindert waren, direkte Beziehungen zu ihm herzustellen. Ein Versuch, einen guten Bekannten in Berlin dafür zu gewinnen, scheiterte. Hinzu kommt, daß die Angehörigen keinerlei Kenntnis über den Personenkreis der Widerstandsgruppe hatten und daher auch keine Informationen über Angehörige anderer Inhaftierter erhalten konnten. Zu berücksichtigen sind bei alledem die damaligen Schwierigkeiten einer Reise nach Berlin vom Westerwald aus, wo die Verwandten einschließlich seiner inzwischen aus Breslau geflüchteten Frau lebten. Um so lebhafter war der briefliche Kontakt seiner engsten Angehörigen, den sie mit ihm pflegten, wobei vor allem seine jüngste Schwester hervortrat. Eine damals vierzehnjährige Nichte erinnert sich noch gut an die Briefe, die sie dem Onkel Franz in das Gefängnis schrieb. Und er wiederum legte in seine seltenen Briefe alle Liebe und Sorge für die Seinen, deren er fähig war. Seiner Frau ließ er zum einundzwanzigsten Hochzeitstag an Weihnachten aus der Haftanstalt Blumen übermitteln. Die mit der Haft verbundene Einsamkeit wird Franz Leuninger, den im Grunde vom Gemüt her sehr empfindsamen Menschen, hart angekommen sein. Vor allem hat er wohl sehr daran getragen, daß er, der in dieser Zeit doch zwischen Tod und Leben schwebte, nicht einmal ein Gespräch mit einem Angehörigen hatte. Deshalb war auch der Besuch seines nächstjüngeren Bruders am 18. Januar 1945 für den Gefangenen als auch für den Besucher ein erschütterndes Erlebnis. Er berichtet so darüber: „Eine Wehrmachtsdienstreise führte mich im Januar 1945 nach Berlin. Ein großer Fliegerangriff auf die Stadt ließ mich vor ihren Toren warten. Erregt dachte ich an den gefangenen Bruder, der im Gestapogefängnis schutzlos dem Bombenhagel ausgesetzt war. Nach dem Angriff bahnte ich mir den Weg durch die brennende Stadt zum Moabiter Gefängnis. Ich bat, meinen Bruder sehen zu dürfen. Auf mein wiederholtes Bitten trug man mir auf, eine Besuchsgenehmigung beim VolksgerichtshofVolksgerichtshof zu erwirken. Um eine solche Genehmigung konnte ich mich aber erst am anderen Tage, einem Sonntag, bemühen. Das Volksgerichtshoffgebäude war jedoch am Tage vorher, von Spreng- und Brandbomben getroffen, ausgebrannt. Ich ging erneut zum Gefängnis. Nach anfänglicher Weigerung wurde mir doch ein Besuch gewährt. Da stand nun der alte Obergefreite dem gefangenen Bruder gegenüber. Starrer Schmerz auf der einen, fassungsloses Schluchzen auf der anderen Seite. Doch die Worte des Besuchers ,Nun bin ich bei Dir, nun ist alles gut‘ lassen den Schmerz hinter die Freude des Wiedersehens zurücktreten. Der gefangene Bruder bettelt bei dem ,Wachhabenden‘ um einen gemeinsamen Aufenthalt mit dem Besucher in der Besucherzelle; es war nur eine kurze Begrüßung in der Wachstube vorgesehen. Wir gehen in die Besucherzelle. Alle brüderliche Liebe offenbart sich nun dort, als wir eingetreten sind. Der gefangene Bruder: ,Ich habe heute morgen zum Herrgott gebetet, er möge mir heute eine Freude bereiten. Mein Gebet ist erhört! Und daß gerade Du gekommen bist!‘ Ich packe meine ersparte Marschverpflegung aus. Etwas Butter, Brot, einige Äpfel und Zigaretten. Wieviel Dankbarkeit strahlt aus den Augen des durch körperliche und seelische Strapazen verhärmten Bruders. Wir rauchen eine Zigarette, der anwesende Posten raucht mit. Er ist rücksichtsvoll und läßt uns in der Unterhaltung ungestört. Wir sprechen die vertraute Mutter sprache. Der gefangene Bruder nimmt mein Gesicht in die Hände und sagt: ,Wie gut, daß Du gekommen bist. Grämt Ihr Euch, daß ich Euch Kummer bereitet habe? Seid mir gut, was ich tat, mußte ich tun. Ich tat es ja auch für Euch.‘ Meine Entgegnung: ,Es ist alles gut, Du bist unser liebster Bruder und bleibst es immer.‘ Der gefangene Bruder: ,Ich werde nicht wiederkommen.‘ Meine Antwort: ,Du mußt Hoffnung haben. Die Russen stehen vor Berlin; bald wirst Du frei sein.‘ Wir sprechen von seiner Familie, seinen drei Söhnen, der jüngste kaum sechzehnjährig und auch im Kriegsdienst, und von seiner Frau, die in diesen Tagen unter Zurücklassung der gesamten Habe aus Breslau flüchten mußte. Von unserem alten Vater und den Geschwistern. Um aller willen möchte der gefangene Bruder leben. Dann sagt er: ,Es ist nicht leicht, mit 46 Jahren auf dem Schafott zu sterben.‘ Ich entgegne: ,Du wirst leben.‘ Der gefangene Bruder: ,Aber wenn ich sterben muß, werdet ihr mich dann unter den alten Linden der Heimat begraben?‘ Meine Erwiderung: ,Ja, diese Gewißheit soll Dir ein Trost sein.‘ Der Aufseher mahnt zum Aufbruch; die für die Besuchszeit vorgesehenen 10 Minuten sind überschritten. Wir erheben uns. Der gefangene Bruder segnet mich mit dem Kreuzzeichen und sagt dabei: ,Das ist für Euch alle.‘ Eine letzte Umarmung. Zum Bruderkuß drücken sich seine Lippen noch einmal auf die meinen. Ein letztes ,Auf Wiedersehen‘. Sein Körper strafft sich, und in Begleitung des Aufsehers entschwindet der Bruder in den düsteren Gängen des Gefängnisses meinen Blicken für immer!“ Trotz allem, was hier über den Besuch gesagt worden ist, wird man nicht meinen dürfen, daß Franz Leuninger von der Traurigkeit über sein persönliches Leid übermannt worden sei. Hierfür bezeichnend sind die Worte in einem seiner letzten Briefe: „Ich habe mein Schicksal in die Hände des Herrgotts gelegt. Wie er es macht, so wird es schon richtig sein.“ Sein Mitgefangener, Freiherr Hermann von Lüninck, ist ihm etwa ab Anfang Februar in Arbeitsgruppen begegnet und hatte eine relativ enge Fühlung mit ihm. Sein Gesamteindruck, wie Lüninck ihn in Erinnerung hat, war, daß Franz Leuninger eine frohe, eigentlich heitere Grundhaltung, hatte. Über das, was ihm bevorstand, war er sich völlig klar. Er sprach viel von seiner Frau und seinen Kindern und zeigte Bilder von diesen. ,,Die paar Jahre, bis ich sie wiedersehe, gehen bald herum.“ Das Denken aller Häftlinge war damals auf das Jenseits gerichtet. Bei Franz Leuninger war diese Einstellung besonders ausgeprägt. Sein irdisches Geschick wußte er in Gottes Hand und dort gut aufgehoben. Besonders traurig und bedrückt war er nicht, sondern in des Wortes eigentlicher Bedeutung innerlich frei. „Er hat“, so urteilt von Lüninck „die letzten Wochen seines Lebens als Heiliger gelebt“. In der Verhandlung vor dem Volksgerichtshof am 28. Februar 1945 wurde Franz Leuninger zum Tode verurteilt. Hiervon setzte er seinen ältesten Bruder, der in einer thüringischen Stadt Soldat war, gemäß einer brieflichen Abrede in Kenntnis. Dieser bekam von einem verständnisvollen Vorgesetzten einige Tage Urlaub für eine Reise nach Berlin. Dort versuchte er, den Aufenthalt von Franz zu erfahren. Niemand wollte oder konnte ihm eine Auskunft geben. Zu guter Letzt erhielt er dann den Bescheid, daß das Urteil bereits vollstreckt sei. Man händigte ihm einige Gegenstände aus dem persönlichen Eigentum des toten Bruders aus, mit denen er dann die Rückreise antrat. Weitere Einzelheiten über die Geschehnisse jener Tage weiß Johann Albers zu berichten: „In der Zeit nach der ersten Begegnung mit Franz Leuninger hatte ich alle Tage für kurze Minuten Gelegenheit, mich mit ihm auszutauschen. So erfuhr ich auch die näheren Umstände seiner Verhaftung und wurde von ihm über die Anklagepunkt ins Bild gesetzt. Es war wahrhaftig keine Begründung für ein Todesurteil. Aber alle, die aus der christlichen Arbeiterbewegung kamen, wurden von der Gestapo besonders „bewertet“. Der Verhandlungstermin beim Volksgerichtshof war schon auf Anfang Februar festgelegt. Durch den Tod von Freisler und die Zerstörung der Gebäude des Volksgerichtshofes mußte der Termin aber immer wieder hinausgeschoben werden, so daß er erst Ende Februar stattfand. Am Tage vor der Verhandlung bat er um unser gemeinsames Gebet. Pater Provinzial Rösch SJ. hat ihm an diesem Tage die Kommunion vermittelt. Ich war der Auffassung, daß er mit 5-6 Jahren Zuchthaus rechnen konnte. Daß ein Todesurteil über ihn und seine beiden Mitangeklagten aus den freien Gewerkschaften verhängt wurde, kam uns allen unerwartet. Überhaupt waren alle Insassen des Gefängnisses von dieser Härte geschlagen. Als Franz mittags nach der Verhandlung an meiner Zelle vorbeiging, konnte ich zum letzten Mal in seine Augen schauen. Am gleichen Tage wurde er gefesselt und in die Todeszelle nach Plötzensee gebracht. In den ersten Tagen des März wurde er mit noch vielen anderen hingerichtet. Der katholische Gefängnispfarrer sagte mir, daß Franz Leuninger den Kopf unter das Fallbeil gelegt habe mit dem Gesang: „Großer Gott, ich lobe Dich.“ Die Gründe für das Todesurteil sind im einzelnen nicht bekannt. Es scheint jedoch, wie einem Gnadengesuch des Offizialverteidigers zu entnehmen ist, im wesentlichen damit begründet worden zu sein, daß Franz Leuninger in einer Besprechung von Männern des Widerstandes den ehemaligen Oberpräsidenten der Provinz Schlesien und späteren Bundesvertriebenenminister Lukascheck für den Fall einer Beseitigung des Naziregimes zum Oberpräsidenten der Provinz Schlesien vorgeschlagen hat. Von den etwa 200 Männern des Widerstandes ,,20. Juli 1944″ starben rund 150 eines gewaltsamen Todes. Die Zahl der Überlebenden soll nicht nennenswert über 50 hinausgehen. Alle setzten ihr Leben bewußt ein, denn die Chancen des Gelingens ihres Unternehmens wurde von ihnen „bei den Vorbesprechungen immer nüchtern beurteilt“. Hermann von Lüninck meint, die meisten hätten das Gelingen des Vorhabens auf 25 bis 30 Prozent geschätzt und die großen Optimisten auf 50 Prozent. Diese Ungewißheit konnte sie indessen nicht von ihrer Absicht abbringen, den Versuch zu machen, dem deutschen Volk Ordnung und Ehre wiederzugeben. Als der Versuch mißlungen war und sie in die Fänge des Hitlerregimes gerieten, herrschte natürlich Enttäuschung und Entsetzen unter ihnen. Aber sie bereuten nicht, was sie getan. Keinesfalls erschien ihnen ihr Handeln sinnlos. Sie hatten ihrem Volke und der Welt das andere Deutschland gezeigt, das lebte. Mutig stellten sie sich der Institution, die man damals Volksgerichtshof nannte und standen dort zu ihrer Sache. Fünfundachtzig von ihnen wurden zum Tode verurteilt. Aber auch der Tod erschien ihnen noch als Gabe an Deutschland und die Freiheit. Nach Hermann von Lüninck gab es unter ihnen Männer, die sich in Haft und Gefängnis und unter dem Galgen zu unvorstellbarer Seelen- und Charaktergröße erhoben. Sie kämpften nicht um ihr Leben, sondern brachten es bewußt, frei und stolz als Sühneopfer dar. Zu ihnen gehörte, was bezeugt ist, auch Franz Leuninger. lebhafter war der briefliche Kontakt seiner engsten Angehörigen, den sie mit ihm pflegten, wobei vor allem seine jüngste Schwester hervortrat. Eine damals vierzehnjährige Nichte erinnert sich noch gut an die Briefe, die sie dem Onkel Franz in das Gefängnis schrieb. Und er wiederum legte in seine seltenen Briefe alle Liebe und Sorge für die Seinen, deren er fähig war. Seiner Frau ließ er zum einundzwanzigsten Hochzeitstag an Weihnachten aus der Haftanstalt Blumen übermitteln.
Die mit der Haft verbundene Einsamkeit wird Franz Leuninger, den im Grunde vom Gemüt her sehr empfindsamen Menschen, hart angekommen sein. Vor allem hat er wohl sehr daran getragen, daß er, der in dieser Zeit doch zwischen Tod und Leben schwebte, nicht einmal ein Gespräch mit einem Angehörigen hatte. Deshalb war auch der Besuch seines nächstjüngeren Bruders am 18. Januar 1945 für den Gefangenen als auch für den Besucher ein erschütterndes Erlebnis. Er berichtet so darüber:
„Eine Wehrmachtsdienstreise führte mich im Januar 1945 nach Berlin. Ein großer Fliegerangriff auf die Stadt ließ mich vor ihren Toren warten. Erregt dachte ich an den gefangenen Bruder, der im Gestapogefängnis schutzlos dem Bombenhagel ausgesetzt war. Nach dem Angriff bahnte ich mir den Weg durch die brennende Stadt zum Moabiter Gefängnis. Ich bat, meinen Bruder sehen zu dürfen. Auf mein wiederholtes Bitten trug man mir auf, eine Besuchsgenehmigung beim Volksgerichtshof zu erwirken. Um eine solche Genehmigung konnte ich mich aber erst am anderen Tage, einem Sonntag, bemühen. Das Volksgerichtshofgebäude war jedoch am Tage vorher, von Spreng- und Brandbomben getroffen, ausgebrannt. Ich ging erneut zum Gefängnis. Nach anfänglicher Weigerung wurde mir doch ein Besuch gewährt. Da stand nun der alte Obergefreite dem gefangenen Bruder gegenüber. Starrer Schmerz auf der einen, fassungsloses Schluchzen auf der anderen Seite. Doch die Worte des Besuchers ,Nun bin ich bei Dir, nun ist alles gut‘ lassen den Schmerz hinter die Freude des Wiedersehens zurücktreten. Der gefangene Bruder bettelt bei dem ,Wachhabenden‘ um einen gemeinsamen Aufenthalt mit dem Besucher in der Besucherzelle; es war nur eine kurze Begrüßung in der Wachstube vorgesehen. Wir gehen in die Besucherzelle. Alle brüderliche Liebe offenbart sich nun dort, als wir eingetreten sind.
Der gefangene Bruder: ,Ich habe heute morgen zum Herrgott gebetet, er möge mir heute eine Freude bereiten. Mein Gebet ist erhört! Und daß gerade Du gekommen bist!‘
Ich packe meine ersparte Marschverpflegung aus. Etwas Butter, Brot, einige Äpfel und Zigaretten. Wieviel Dankbarkeit strahlt aus den Augen des durch körperliche und seelische Strapazen verhärmten Bruders. Wir rauchen eine Zigarette, der anwesende Posten raucht mit. Er ist rücksichtsvoll und läßt uns in der Unterhaltung ungestört. Wir sprechen die vertraute Muttersprache. Der gefangene Bruder nimmt mein Gesicht in die Hände und sagt: ,Wie gut, daß Du gekommen bist. Grämt Ihr Euch, daß ich Euch Kummer bereitet habe? Seid mir gut, was ich tat, mußte ich tun. Ich tat es ja auch für Euch.‘ Meine Entgegnung: ,Es ist alles gut, Du bist unser liebster Bruder und bleibst es immer.‘ Der gefangene Bruder: ,Ich werde nicht wiederkommen.‘ Meine Antwort: ,Du mußt Hoffnung haben. Die Russen stehen vor Berlin; bald wirst Du frei sein.‘
Wir sprechen von seiner Familie, seinen drei Söhnen, der jüngste kaum sechzehnjährig und auch im Kriegsdienst, und von seiner Frau, die in diesen Tagen unter Zurücklassung der gesamten Habe aus Breslau flüchten mußte. Von unserem alten Vater und den Geschwistern. Um aller willen möchte der gefangene Bruder leben.
Dann sagt er: ,Es ist nicht leicht, mit 46 Jahren auf dem Schafott zu sterben.‘ Ich entgegne: ,Du wirst leben.‘ Der gefangene Bruder: ,Aber wenn ich sterben muß, werdet ihr mich dann unter den alten Linden der Heimat begraben?‘ Meine Erwiderung: ,Ja, diese Gewißheit soll Dir ein Trost sein.‘
Der Aufseher mahnt zum Aufbruch; die für die Besuchszeit vorgesehenen 10 Minuten sind überschritten. Wir erheben uns. Der gefangene Bruder segnet mich mit dem Kreuzzeichen und sagt dabei: ,Das ist für Euch alle.‘
Eine letzte Umarmung. Zum Bruderkuß drücken sich seine Lippen noch einmal auf die meinen. Ein letztes ,Auf Wiedersehen‘. Sein Körper strafft sich, und in Begleitung des Aufsehers entschwindet der Bruder in den düsteren Gängen des Gefängnisses meinen Blicken für immer!“
Trotz allem, was hier über den Besuch gesagt worden ist, wird man nicht meinen dürfen, daß Franz Leuninger von der Traurigkeit über sein persönliches Leid übermannt worden sei. Hierfür bezeichnend sind die Worte in einem seiner letzten Briefe:
,,Ich habe mein Schicksal in die Hände des Herrgotts gelegt. Wie er es macht, so wird es schon richtig sein.“ Sein Mitgefangener, Freiherr Hermann von Lüninck, ist ihm etwa ab Anfang Februar in Arbeitsgruppen begegnet und hatte eine relativ enge Fühlung mit ihm. Sein Gesamteindruck, wie Lüninck ihn in Erinnerung hat, war, daß Franz Leuninger eine frohe, eigentlich heitere Grundhaltung, hatte. Über das, was ihm bevorstand, war er sich völlig klar. Er sprach viel von seiner Frau und seinen Kindern und zeigte Bilder von diesen. ,,Die paar Jahre, bis ich sie wiedersehe, gehen bald herum.“ Das Denken aller Häftlinge war damals auf das Jenseits gerichtet. Bei Franz Leuninger war diese Einstellung besonders ausgeprägt. Sein irdisches Geschick wußte er in Gottes Hand und dort gut aufgehoben. Besonders traurig und bedrückt war er nicht, sondern in des Wortes eigentlicher Bedeutung innerlich frei. ,,Er hat“, so urteilt von Lüninck ,,die letzten Wochen seines Lebens als Heiliger gelebt“.
In der Verhandlung vor dem VolksgerichtshofVolksgerichtshof am 28. Februar 1945 wurde Franz Leuninger zum Tode verurteilt. Hiervon setzte er seinen ältesten Bruder, der in einer thüringischen Stadt Soldat war, gemäß einer brieflichen Abrede in Kenntnis. Dieser bekam von einem verständnisvollen Vorgesetzten einige Tage Urlaub für eine Reise nach Berlin. Dort versuchte er, den Aufenthalt von Franz zu erfahren. Niemand wollte oder konnte ihm eine Auskunft geben. Zu guter Letzt erhielt er dann den Bescheid, daß das Urteil bereits vollstreckt sei. Man händigte ihm einige Gegenstände aus dem persönlichen Eigentum des toten Bruders aus, mit denen er dann die Rückreise antrat. Weitere Einzelheiten über die Geschehnisse jener Tage weiß Johann Albers zu berichten: ,,In der Zeit nach der ersten Begegnung mit Franz Leuninger hatte ich alle Tage für kurze Minuten Gelegenheit, mich mit ihm auszutauschen. So erfuhr ich auch die näheren Umstände seiner Verhaftung und wurde von ihm über die Anklagepunkt ins Bild gesetzt. Es war wahrhaftig keine Begründung für ein Todesurteil. Aber alle, die aus der christlichen Arbeiterbewegung kamen, wurden von der Gestapo besonders ,,bewertet“. Der Verhandlungstermin beim Volksgerichtshof war schon auf Anfang Februar festgelegt. Durch den Tod von Freisler und die Zerstörung der Gebäude des Volksgerichtshofes mußte der Termin aber immer wieder hinausgeschoben werden, so daß er erst Ende Februar stattfand. Am Tage vor der Verhandlung bat er um unser gemeinsames Gebet. Pater Provinzial Rösch SJ. hat ihm an diesem Tage die Kommunion vermittelt. Ich war der Auffassung, daß er mit 5-6 Jahren Zuchthaus rechnen konnte. Daß ein Todesurteil über ihn und seine beiden Mitangeklagten aus den freien Gewerkschaften verhängt wurde, kam uns allen unerwartet. Überhaupt waren alle Insassen des Gefängnisses von dieser Härte geschlagen. Als Franz mittags nach der Verhandlung an meiner Zelle vorbeiging, konnte ich zum letzten Mal in seine Augen schauen. Am gleichen Tage wurde er gefesselt und in die Todeszelle nach Plötzensee gebracht.
In den ersten Tagen des März wurde er mit noch vielen anderen hingerichtet. Der katholische Gefängnispfarrer sagte mir, daß Franz Leuninger den Kopf unter das Fallbeil gelegt habe mit dem Gesang: ,,Großer Gott, ich lobe Dich.“
Die Gründe für das Todesurteil sind im einzelnen nicht bekannt. Es scheint jedoch, wie einem Gnadengesuch des Offizialverteidigers zu entnehmen ist, im wesentlichen damit begründet worden zu sein, daß Franz Leuninger in einer Besprechung von Männern des Widerstandes den ehemaligen Oberpräsidenten der Provinz Schlesien und späteren Bundesvertriebenenminister Lukascheck für den Fall einer Beseitigung des Naziregimes zum Oberpräsidenten der Provinz Schlesien vorgeschlagen hat.
Von den etwa 200 Männern des Widerstandes „20. Juli 1944″ starben rund 150 eines gewaltsamen Todes. Die Zahl der Überlebenden soll nicht nennenswert über 50 hinausgehen. Alle setzten ihr Leben bewußt ein, denn die Chancen des Gelingens ihres Unternehmens wurde von ihnen ,,bei den Vorbesprechungen immer nüchtern beurteilt“. Hermann von Lüninck meint, die meisten hätten das Gelingen des Vorhabens auf 25 bis 30 Prozent geschätzt und die großen Optimisten auf 50 Prozent. Diese Ungewißheit konnte sie indessen nicht von ihrer Absicht abbringen, den Versuch zu machen, dem deutschen Volk Ordnung und Ehre wiederzugeben.
Als der Versuch mißlungen war und sie in die Fänge des Hitlerregimes gerieten, herrschte natürlich Enttäuschung und Entsetzen unter ihnen. Aber sie bereuten nicht, was sie getan. Keinesfalls erschien ihnen ihr Handeln sinnlos. Sie hatten ihrem Volke und der Welt das andere Deutschland gezeigt, das lebte. Mutig stellten sie sich der Institution, die man damals Volksgerichtshof nannte und standen dort zu ihrer Sache. Fünfundachtzig von ihnen wurden zum Tode verurteilt. Aber auch der Tod erschien ihnen noch als Gabe an Deutschland und die Freiheit. Nach Hermann von Lüninck gab es unter ihnen Männer, die sich in Haft und Gefängnis und unter dem Galgen zu unvorstellbarer Seelen- und Charaktergröße erhoben. Sie kämpften nicht um ihr Leben, sondern brachten es bewußt, frei und stolz als Sühneopfer dar. Zu ihnen gehörte, was bezeugt ist, auch Franz Leuninger.