Ingelheim
Rede zur Mahnwache gegen Abschiebehaft
am Tag der Menschenrechte
Am Dienstag war ich zu einer Veranstaltung der Berliner Rechtsanwaltskammer zum 50. Jahrestag der Menschenrechte in der Hauptstadt. Am Vormittag habe ich eine Art Wallfahrt gemacht von der evgl. Sühne-Christi-Kirche zur kath. Kirche Maria – Königin der Märtyrer. Beide Kirchen liegen im Bereich Plötzensee und sind der Erinnerung an die Opfer des Nazi-Regimes verpflichtet. Dann stand ich im Hinrichtungsraum der Gedenkstätte Plötzensee. Dort war am 1. März 1945 der Bruder meines Vaters, Franz Leuninger, der zum Widerstand des 20. Juli 1944 gehörte, enthauptet worden.
Jetzt stehe ich hier und demonstriere mit Euch gegen den von der rheinland-pfälzischen Landesregierung geplanten Abschiebungskomplex. Gibt es einen Zusammenhang? Ja, zuallererst den der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands gegenüber den Menschenrechten, und dabei vor allem gegenüber dem Menschenrecht auf Asyl.
Die Menschenrechtsdeklaration enthält in Art. 14 den Passus über das Asylrecht: „Jeder Mensch hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen“. Aus dieser an sich klaren Formulierung läßt sich aber keine Rechtspflicht des Staates zur Asylgewährung ableiten.
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland bringt 1949 den entscheidenden Fortschritt. Es räumt dem staatlichen Schutz des Flüchtlings Verfassungsrang ein, und zwar im Sinne eines individuellen, gerichtlich einklagbaren Grundrechts. Der politisch Verfolgte hat ein Recht auf Asyl.
Die Einschränkung dieses Grundrechts durch den neuen Artikel 16a ist gegen den Flüchtling als Rechtssubjekt gerichtet. Flüchtlinge sollen künftig wieder stärker Objekte des Staates werden. Diesem Ziel und gleichzeitig auch weiterer Entrechtung dient vor allem auch das Asylbewerberleistungsgesetz. Seine Kürzungen und die Gewährung von Sachleistungen sind eine drastische Entrechtung und Entmündigung von Menschen.
Eine nicht abzuschätzende Bedrohung des Schutzes der Menschenrechte ist aber der weithin fehlende Abschiebungsschutz und die harsche Abschiebungspolitik. Sie gipfelt in den Abschiebungsgefängnissen. Menschen, die sich nichts anderes zu schulde kommen ließen, als Asyl zu beantragen, werden der vornehmsten Rechte des Menschen, dem der Freiheit und Selbstbestimmung, beraubt. Das Amtsdeutsch ist verhüllend und enthüllend zugleich, wenn von einer Gewahrsamseinrichtung für Abschiebehäftlinge, einer Landesunterkunft für Ausreisepflichtige und dann sogar in diesem Zusammenhang noch von einem Modellprojekt die Rede ist.
Wir befinden uns in einer Phase, in der die Relativierung der Menschenrechte und damit ihre Aushöhlung global vorangetrieben werden. Es kommt dem über alle Ufer getretenen Kapitalismus nur zupass, dass die Menschenrechte in ihrer überzeitlichen, überkulturellen und absolut universalen Gültigkeit angegriffen werden. Sein Siegeszug nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus, der nie einer war, schien alle Hemmungen weggefegt zu haben, die schwierige Balance zwischen den Spielregeln des Marktes und den Erfordernissen menschenwürdiger Lebensgestaltung zu halten. Immer wieder wurden wir in den letzten Jahren verwiesen auf die vorzüglich und ohne die Belastungen unserer „Sozialromantik“ funktionierende Wirtschaft Japans und der asiatischen Tigerstaaten.
Dennoch beinhaltet die jetzige Wirtschaftskrise eine für die Menschenrechtslage überraschende und wichtige Botschaft. Das pazifische Vorzeigemodell ist plötzlich stark ramponiert. Wir befinden uns vielleicht in einer der größten ökonomischen Krisen seit der Weltwirtschaftskrise Ende der 20er Jahre. Die verarmten Massen von Russland über Indonesien bis nach Buenos Aires werden diesen Crash mit unvorstellbaren Teuerungen bezahlen. Neue Verteilungskämpfe stehen bevor, die uns nicht nur in einen Strudel künftiger politischer Krisen reißen, sondern gleichzeitig auch neue Fluchtbewegungen auslösen. Der globale Kapitalismus hat sich damit wahrscheinlich bereits als Gestaltungskraft zur Schaffung einer neuen Weltordnung verabschiedet. Andere Strukturen zeichnen sich noch nicht ab. Eines lässt sich aber schon sagen, ohne die weltweite Beachtung der Menschenrechte wird es nicht gehen.
„Pro Asyl“ erwartet in seiner gestrigen Erklärung zum 50. Jahrestag der Menschenrechte, daß die neue Regierung die deutsche Präsidentschaft nutzt, um vom Bremser zum Motor einer humanen Asylpolitik in Europa zu werden. Die uneingeschränkte Geltung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention muß beim Flüchtlingsschutz in Deutschland und Europa wieder oberste Priorität haben. Das Ziel muß sein, daß Schutzbedürftige in Europa tatsächlich Schutz vor Verfolgung finden. Dann werden Einrichtungen, wie die hier geplante, noch überflüssiger, als sie jetzt schon sind.
Wer meint, wie die neue Regierung im Koalitionsvertrag zu Protokoll gab, „sich mit Nachdruck für eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik“ einsetzen zu wollen, „die die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention beachtet“, der muss alle Tendenzen, am internationalen Flüchtlingsschutz zu rütteln und die Schutz- und Menschenrechtsstandards internationaler Abkommen weiter aufzuweichen, entschieden abwehren.
Statt in der Kontinuität von Restriktionen fortzufahren, fordern wir eine Besinnung auf die Tradition der Menschenrechte in Europa, das seine Verpflichtung gegenüber Flüchtlingen wieder ernst nimmt!
Heute appelliert „Pro Asyl“ an Bundesaußenminister Fischer, am Beispiel Algeriens eine Neuorientierung in der Flüchtlings- und Menschenrechtspolitik einzuleiten. Eine Kontinuität könne es hier nicht geben. Die Algerien-Politik seines Vorgängers Kinkel und insbesondere des Staatsministers im Auswärtigen Amt, Werner Hoyer, sei von erschreckender Einseitigkeit gewesen.
„Pro Asyl“ fordert Bundesaußenminister Fischer auf, sich im Kabinett dafür einzusetzen, dass eine unkritische Kooperation mit Regierungsstellen und Sicherheitsbehörden Algeriens nicht stattfindet. Dazu gehöre auch, dass das Rückübernahmeprotokoll annulliert wird und algerische Flüchtlinge an deutschen Flughäfen nicht algerischen Sicherheitskräften übergeben werden.
Vor zehn Jahren hat Ralf Dahrendorf vom Ende des Jahrhunderts der Sozialdemokratie gesprochen. Erstaunlicherweise bekommt die Sozialdemokratie in der EU aber mit dem ausgehenden Säkulum nochmals eine außergewöhnliche politische Gestaltungschance. Dass sie sie nutzt und den Menschenrechten den ihnen gebührenden Rang gegenüber wirtschaftlichen Erfordernissen einräumt, das hoffen wir, dafür setzen wir uns ein und deswegen stehen wir heute hier!
FOTOSERIE