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Mindestanforderungen an einen europäischen Flüchtlingsschutz
aus der Sicht von PRO ASYL

Thesen

  1. Die Union steht am Scheideweg: Offenes Europa oder Festhalten am Konzept Abschottungsgemeinschaft.
    • Die Erklärung der Staats- und Regierungschefs von Tampere ist geprägt von deutlichen Bekenntnissen zur Offenheit und Transparenz in der Europäischen Union, zu den Menschenrechten und dem Asylrecht. In der Praxis jedoch erweist sich die Europäische Union weiterhin als Abschottungsgemeinschaft gegenüber Flüchtlingen.
    • Der Anspruch, eine „offene Union“ zu realisieren, käme einer grundsätzlichen Neuorientierung gleich: Eine Abkehr von dem Konzept der Abschottung und Abschreckung, einen weitgehenden Abbau der Festungsanlage gegenüber Flucht- und Migrationsbewegungen.
  2. Flüchtlingsschutz ist nicht quotierbar: Flucht und Einwanderung müssen voneinander unterschieden werden
    • Die Union benötigt in den nächsten zwei Jahrzehnten weit über 20 Millionen neue Einwanderer aus Nicht-EU-Staaten. Eine notwendige Einwanderungsdebatte orientiert sich überwiegend an den jeweiligen demographischen und wirtschaftlichen Notwendigkeiten innerhalb der Union. Demgegenüber steht im Zentrum der Flüchtlingsrechts die Schutzgewährung für Verfolgte. Der vom Völkerrecht gebotene Schutz für Flüchtlinge kann nicht quotiert werden. Flüchtlingsschutz ist integraler Bestandteil des allgemeinen Menschenrechtsschutzes und keine beliebige Variable einer Politik der Kosten-Nutzen-Abwägung. Menschenrechte sind klar definierte und juristisch durchsetzbare Ansprüche, die dem Einzelnen ein Recht auf Leben in menschlicher Würde garantieren.
  3. Das Asylrecht muß in einer künftigen Grundrechtecharta der EU garantiert werden
    • Innerhalb der EU sind der individuelle Rechtsschutz und die parlamentarische Kontrolle in einigen Bereichen nur unzureichend ausgebildet, vor allem in der dritten Säule der polizeilichen Zusammenarbeit, aber auch z.B. in der Asyl- und Migrationspolitik. Grundrechte müssen aber in allen Säulen der Gemeinschaftsverträge gültig und einklagbar sein. Es wäre widersinnig – wie bislang – die Aspekte auszublenden, in denen Grundrechtseingriffe von besonderer Intensität stattfinden.
    • Die künftige Charta der Grundrechte muss durch die Aufnahme in den EU-Vertrag volle Rechtsverbindlichkeit erhalten. In ihr ist das Asylrecht zu garantieren. Die Frage, inwieweit innerhalb der EU ein rechtsstaatlich einklagbares Asylrecht existiert, ist für den Schutz von Flüchtlingen von existentieller Bedeutung. So hat sich der Europäische Rat in Tampere dazu bekannt, dem künftigen gemeinsamen europäischen Asylrecht die Genfer Flüchtlingskonvention „uneingeschränkt und allumfassend“ zu Grunde zu legen. Dieser Passus muss sich in einer Grundrechtecharta wiederfinden.
    • Unionsbürgerinnen und- bürger dürfen nicht aus dem Geltungsbereich des Asylrechts ausgeschlossen werden. Eine unzulässige geographische Begrenzung des Flüchtlingsschutzes hätte einen fatalen Vorbildcharakter für andere Staaten außerhalb der EU.
  4. Bei der Umsetzung des asylpolitischen Arbeitsprogramms des Amsterdamer Vertrages sind Mindestanforderungen zu realisieren, die einen effektiven Flüchtlingsschutz gewährleisten
    • Eine einheitliche Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention muss Ausgangs- und nicht Endpunkt einer Harmonisierungspolitik sein. Momentan wird einem großen Teil der de facto-Flüchtlinge in der EU der ihnen zustehende Flüchtlingsschutz nach der GFK vorenthalten. Vor dem Hintergrund unterschiedlicher Anerkennungspraktiken in den einzelnen Mitgliedsländern der Union gleicht die Entscheidung für ein europäisches Zufluchtsland der Teilnahme an einer Lotterie.
    • Die Anwendung der GFK in der Union muss allen Formen und Urhebern von Verfolgung Rechnung tragen.
    • »Ergänzender Schutz« muss Personen gewährt werden, die nicht unter die GFK fallen, aber durch internationale Abkommen, wie zum Beispiel die Europäische Menschenrechtskonvention oder das Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die Folter, vor Abschiebung geschützt sind.
    • Die Feststellung, ob Asylsuchende Flüchtlinge nach der GFK oder nach den Regeln des „ergänzenden Schutzes“ sind, ist in einem einheitlichen Verfahren zu gewährleisten.
    • Das Instrument des »vorübergehenden Schutzes« – ursprünglich für Massenfluchtsituationen gedacht – wurde in der Vergangenheit zur Umgehung der GFK missbraucht. Es hat sich zu beschränken auf die Kriegs- und Notsituationen, in denen kurzfristig ein individuelles Asylprüfungsverfahren nicht möglich ist. Grundvoraussetzung ist die Durchführung von Evakuierungsmaßnahmen und – für spontan Fliehende – eine Einreise in die EU ohne Visumsbeschränkungen, Drittstaatenregelungen und Abschottungsmaßnahmen an der Grenze. Den Flüchtlingen sind Rechte in Anlehnung an die GFK zu gewähren. Der Weg in ein Asylverfahren muss Flüchtlingen jederzeit offen stehen.
    • Eine das Dubliner Übereinkommen ersetzende Vereinbarung muss so gestaltet werden, dass die Überprüfung eines Asylantrages innerhalb der Europäischen Union tatsächlich garantiert wird. Die Europäische Union sollte die Zurückweisung von Asylsuchenden in „sichere Drittstaaten“ aussetzen.
    • Eine Verantwortungsteilung zwischen den europäischen Staaten darf nicht durch eine bürokratische Zuweisung und Umverteilung erfolgen, sondern muss die individuellen Interessen und insbesondere familiären Belange der Schutzsuchenden berücksichtigen. Es ist sinnvoller, humanitärer und weniger aufwendig, einen Finanzausgleich auf EU-Ebene zu entwickeln, statt Flüchtlinge zu verteilen.
    • Ein gemeinsames europäisches Asylrecht muss die individuelle Überprüfung eines Asylbegehrens mit Rechtswegegarantie gewährleisten. Es dürfen keine Ausschlussklauseln für bestimmte Personengruppen festgelegt werden.
    • Das Grundprinzip des Zurückweisungsverbotes erfordert, dass der Zugang zu einem Asylverfahren zu garantieren ist und die tatsächliche Eignung innerstaatlicher Asylverfahren zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft.
    • Internationaler Schutz umfasst nicht nur die Sicherheit, sondern auch eine menschenwürdige soziale Ausgestaltung. Sondergesetze für Asylsuchende, die stigmatisierenden und diskriminierenden Charakter haben, verstoßen gegen die Menschenwürde und müssen bei den künftigen EU-Mindestnormen explizit ausgeschlossen werden.
  5. Der Erhalt des Grundrechts auf Asyl und die Rechtswegegarantie sind die beste Gewähr, dass die Bundesrepublik ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen gerecht wird.
    • Das Asylgrundrecht und die verfassungsrechtliche Rechtsschutzgarantie (Artikel 19 Absatz 4 Grundgesetz) haben die Funktion sicherzustellen, dass die von der Bundesrepublik Deutschland zu behandelnden Asylbegehren in einem effektiven, rechtsstaatlichen und fairen Verfahren geprüft werden. Dies steht einer europäischen Harmonisierung des Verfahrensrechts nicht im Wege.
  6. Dringender Handlungsbedarf besteht für die Bundesrepublik bezüglich der restriktiven Auslegung der GFK und der EMRK. Die bestehende Schutzlücke ist zu schließen und damit eine Rückkehr zu internationalen Schutzstandards einzuleiten.
    • Die Bundesrepublik wird mit ihrem eng gefassten Flüchtlingsbegriff den völkerrechtlichen Vorgaben und Verpflichtungen nicht gerecht. Sie steht mittlerweile im Widerspruch zur Auslegung der GFK in der Mehrzahl der EU-Staaten.
    • Auch bei der Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) isoliert sich die Bundesrepublik. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts steht in bewusstem Gegensatz zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Wie beim Asylrecht wird verlangt, dass die Gefahr von funktionstüchtigen staatlichen Organen ausgeht.

    Frankfurt, den 11. August 2000
    Karl Kopp


siehe auch: Asylpolitik in der EU – Tagung in der Evangelischen Akademie Arnoldshein 2000


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