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HERBERT LEUNINGER ::: ARCHIV KIRCHE-MIGRATION 1989 ::: ARCHIV KIRCHE 1989 :::

4. August 1989

Frankfurter Allgemeine Zeitung
Rhein-Main-Zeitungs

Sonntags wird der Kantinensaal
der Gemeinschaftsunterkunft in Schwalbach zur Kirche

siehe auch Bericht: „Ökumenische Gottesdienste mit Flüchtlingen“ (1986/87)


Schwalbach: Ein weiß gedeckter Tisch steht zwischen der kunststoffbeschichteten Schiebetür und dem Stahlregal für den Fernseher in der Kantine der Hessischen Gemeinschaftsunterkunft für ausländische Flüchtlinge (HGU). Ein blauer Ständer mit vier brennenden Kerzen, einige Bücher. „Die Bibel“ und „The Holy Bible“, ein Steinkrug mit gelben Blumen, die Irmela Roth im eigenen Garten gepflückt hat. Ihr Mann, der evangelische Pfarrer der Limes-Gemeinde, Hans-Jürgen Roth, trägt ein rotes Band auf seinem schwarzen Talar, gewebt und bestickt von guatemaltekischen Flüchtlingsfrauen. Ein Mitbringsel eines Besuchs in New Mexico, wo sich Roth über „Sanctuary Movement“, ein Hilfsprogramm für Flüchtlinge in nordamerikanischen Gemeinden, informiert hat. Die farbenfrohe Stola, die der katholische Amtsbruder, Pfarrer Herbert Leuninger, umgelegt hat, kommt aus Chile. Die Stickerei zeigt den Auszug des Volkes Israel aus Ägypten. „Das paßt in die Situation“, sagt Leuninger, der als Sprecher von „Pro Asyl“ zu einem bekannten Kritiker der Ausländerpolitik geworden ist.

An jedem 2. Sonntag laden umliegende Kirchengemeinden die Bewohner des Lagers zum ökumenischen Gottesdienst ein. Vor drei Jahren hat man damit begonnen. Bei der Vorbereitung und beim „Service“ wechseln sich die Gemeinden ab. Nach dem Gottesdienst in der heimischen Kirche fahren ein gutes Dutzend freiwillige Helfer mit ihrem Pfarrer ins Lager. Musiker zum Beispiel, die die Gläubigen beim Singen der Kirchenlieder begleiten, und Frauen, die beim anschließenden Kaffeetrinken den selbstgebackenen Kuchen austeilen. Viele der freiwilligen Helfer sind älter als die Menschen, die zum Gottesdienst kommen.

Noch lange nach dem ersten Lied füllt sich der große Kantinensaal. Das geht ruhig und ohne Störung vonstatten. Die ersten 70 Menschen finden an den aufgestellten Tischen Platz. Die Nachzügler auf den Stuhlreihen sehen schon eher wie Zuschauer aus. Der weißhaarige türkische Großvater, der mit Kindern und Enkeln gekommen ist, ist eine Ausnahme. Die meisten sind zwischen 20 und 40 Jahren alt, viele haben Kinder. Die Fluktuation im Lager ist groß. Zum Wochenende muß ein Großteil der Flüchtlinge den erwartenden Neuankömmlingen Platz machen, die am Rhein-Main-Flughafen ankommen. „Wir wissen vorher nie, wer kommt“, sagt Hans-Jürgen Roth. Willkommen sind alle, egal ob sie Muslime, Christen sind oder keiner Religion anhängen.

Die Pfarrer begrüßen die Besucher, Irmela Roth übersetzt Grüße, Gebete und Predigt ins Englische. „Wir gehören miteinander zu einer großen Menschenfamilie“, sagt Roth. „Da kann es nur ein Gott sein, zu dem wir beten.“ Ein durchsichtiger aufgeblasener Wasserball, auf dem die Staaten der Erde geklebt sind, wird herumgezeigt. Irmela fragt nach den Herkunftsländern der bunten Gemeinde. Irak, Afghanistan, Nigeria, Ghana, Somalia, Sudan werden genannt, die Tschechoslowakei, Türkei und Kurdistan. Jede Nation wird mit Applaus begrüßt. „Welcome“, rufen die Pfarrer.

„Wir bitten Sie, daß Sie uns aufnehmen als Brüder und Schwestern in einer großen Familie“, sagt Hans-Jürgen Roth zu den Ankommenden. Pfarrer Leuninger betet Psalm 146. „Gott, der Schutz der Schwachen“. Statt „er beschützt die Gäste und Fremden im Land“ sagt er „Gäste und Asylbewerber“. Mit Gesten und Symbolen versucht er, seine kleine Predigt über die Heilung des Blinden in Betsaida (Mk 8.22-26) denen verständlich zu machen, die die Sprache nicht verstehen können. Er nimmt die Brille ab, hält sich abwechselnd die Augen zu. Ein Türke nickt und murmelt die Vokabel in seiner Sprache. Am besten klappt die Verständigung mit Musik. Ein Blatt mit sechs kurzen Liedern und dem Vaterunser liegt an jedem Platz. Bei „Halleluja“ zu einer Melodie aus Zimbabwe, bei „Kyrie Eleison“ und Schalom, Salam, Frieden, bewegen viele vorsichtig die Lippen. Beim Händeklatschen machen zuerst die Kinder mit, dann die Schwalbacher, die Afrikaner und schließlich auch der alte Türke. „Es kommt etwas zurück“, versuchen Roth und Leuninger die Atmosphäre zu beschreiben. „Wir wollen diesen Menschen zeigen, daß sie bei uns willkommen sind.“


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