Hessischer Rundfunk Frankfurt
Woche vom 7. – 12. Oktober 1968
RADIO KURZPREDIGTEN
Wohlstand für Alle?
„Wohlstand für Alle“ ist die Parole, die seit Jahren in unsere Ohren tönt und im Grunde unser Gefallen erregt. Zwar sind einige Kritiker aufgetreten, die versucht haben, diese Parole als hohl und oberflächlich abzutun. Sie haben aber bei uns keinen Erfolg gehabt. Das wirtschaftliche Ziel eines allgemeinen Wohlstandes bleibt unerschütterlich bestehen. Selbst eine Flaute kann nichts daran ändern. Sie erhöht sogar die Bereitschaft, noch mehr Kraft für die Erreichung des einmal gesteckten Zieles einzusetzen. Und wer wollte leugnen, daß Beachtliches erreicht worden ist?
„Wohlstand für Alle“? Wer ist mit Allen gemeint? Nur die Bundesrepublik und die Länder, die zur europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gehören? Das wäre ein primitiver Gruppenegoismus, der sich der notwendigen Verantwortung für die Gesamtmenschheit entzieht; d.h., wenn die Parole „Wohlstand für Alle“ ausgegeben wird, dann müssen wir, wollen wir uns selbst nicht widersprechen, auch wirklich Alle meinen.
Nach Papst Paul VI. geht es darum – so wörtlich -, „eine Welt zu bauen, wo jeder Mensch (…) ein volles menschliches Leben führen kann (…), eine Welt, wo der arme Lazarus an derselben Tafel mit dem Reichen sitzen kann“. Richtig verstanden ist also von Papst Paul die Parole „Wohlstand für Alle“ aufgenommen und sogar als christlich ausgegeben worden, wenn anerkannt wird, daß sie für die ganze Menschheit gilt.
Wirkt eine solche Zielsetzung angesichts der weltweiten Notlage nicht geradezu lächerlich? Die Experten, die die Situation kennen und die Entwicklung voraussehen, sind äußerst pessimistisch. Wenn nicht ganz einschneidende Maßnahmen getroffen werden, ist eine Katastrophe, in die auch die kultivierten Länder hineingezogen werden, unvermeidlich.
Paul VI. weiß das und beharrt dennoch auf dem Ziel. Das erfordert von uns ein hohes Maß an Großzügigkeit. Machen wir uns ruhig bereit auf Verzichte, die alles Bisherige in den Schatten stellen werden. Sind wir bereit, was uns das Rundschreiben des Papstes dringend nahelegt, mehr Steuern zu zahlen, damit der Staat mehr für die Entwicklungshilfe geben kann, höhere Preise für Importe zu zahlen, damit die Erzeuger in anderen Ländern einen gerechteren Lohn bekommen können, notfalls von daheim wegzugehen, um als Entwicklungshelfer zu wirken.
Vielleicht aber wird durch das bisher Gesagte noch immer nicht deutlich, was von uns verlangt wird. In einem Buch über die Zukunft der Kirche ist das hart formuliert. Danach werden wir mit einem allgemeinen Wohlstand in absehbarer Zeit nicht rechnen dürfen. Ein Zitat: „Die Welt von morgen wird nur eine arme sein können.“ Mag also das Ziel „Wohlstand für Alle“ aufrecht erhalten bleiben. Unsere christliche Solidarität mit allen könnte dann fordern, daß wir hoffentlich nur vorübergehend eine andere Parole verwirklichen: „Existenzminimum für alle“ Es wird noch offen sein, ob es wirtschaftlich sinnvoll ist, alle auf ein gleich tiefes Niveau herunterzudrücken. Sollte es sich herausstellen, daß es für die Gesamtentwicklung notwendig ist, dann sind wir als Christen die Ersten, die sich für die fälligen Einschränkungen bereithalten müssen.