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HERBERT LEUNINGER ::: ARCHIV RADIO KURZPREDIGTEN 1970 ::: ARCHIV KIRCHE 1970 :::
Zuspruch am Morgen

Hessischer Rundfunk Frankfurt
Woche vom 2. – 7. Februar 1970

RADIO KURZPREDIGTEN

Weisheit ist nicht mitteilbar


Grob geschätzt nimmt bei uns ein junger Mensch im Laufe seiner Schulzeit an tausend Stunden Religionsunterricht teil. Wie viel an religiösem Wissen und entsprechender Haltung könnte in dieser Zeit vermittelt werden!

In Wirklichkeit ist das Ergebnis aber deprimierend: an abfragbarem Wissen bleibt sehr wenig, und das, was hängen geblieben ist, bereitet den meisten im späteren Leben noch erhebliche Schwierigkeiten. Was aber die christliche Haltung betrifft, so sind kaum Unterschiede feststellbar gegenüber denen, die keinen Religionsunterricht genossen haben.

Die Gründe für diese Misere werden heute eingehend untersucht. Ein Grund liegt wohl darin, daß es schwer, vielleicht sogar unmöglich ist, Glauben zu lehren. Diese Ansicht vertritt Hermann Hesse in seiner indischen Dichtung „Siddhartha“, die im letzten Jahr zwei Neuauflagen erlebt hat und gerade junge Menschen sehr anspricht. Siddhartha ist der Sohn eines frommen und hochgeistigen Brahmanenpriesters. Dennoch genügt ihm die gewohnte religiöse Atmosphäre zuhause nicht mehr. Trotz allem Respekt fehlen ihm die Priester und die Weisen, denen es gelungen ist, um das Tiefste nicht nur zu wissen, sondern es auch zu leben. Daher macht er sich mit seinem Freund Govinda auf die Suche nach dem Lebenssinn. Zu eben dieser Zeit verbreitet sich im ganzen Lande der Ruf Gotama Buddhas, auf den die buddhistische Religion zurückgeht. Siddhartha und sein Freund setzen alles daran, ihm zu begegnen. Als sie ihn finden, sind sie tief beeindruckt, weil er ihnen wahrhaftig vorkommt bis in seine Fingerspitzen. Govinda schließt sich sogleich dem Kreis seiner Jünger an, Siddhartha nicht. Hesse lässt ihn aber ein Gespräch mit Buddha führen, indem Siddhartha ehrfürchtig einräumt, Gotama habe wohl für sich die Erlösung gefunden, auf eigenem Weg, durch eigene Gedanken und Erfahrungen. Allerdings bezweifelt er, daß Buddha diese Erfahrungen einem anderen Menschen weitergeben könne: denn Erlösung werde niemandem zuteil durch eine Lehre, weil in eine Lehre das eigentliche Geheimnis persönlicher Erfahrung nicht eingehen könne. So befürchtet Siddhartha, daß er als Jünger Buddhas nur eine trügerische Ruhe fände, indem er eine Lehre an die Stelle seines Ich setzen würde. Er fühlt sich gedrängt, allein sein Ziel zu erreichen, obwohl er weiß, daß eine bessere Lehre als die des Buddha nicht zu finden ist.

Als ihm im hohen Alter sein Jugendfreund zufällig wieder begegnet, hat er sein Ziel erreicht und ist im Frieden mit sich und der Welt. Govinda kann es nicht unterlassen, ihn zu fragen, ob er ihm nicht einige seiner gewonnenen Erkenntnisse mitteilen möchte. Darauf bedeutet ihm Siddhartha: „Weisheit ist nicht mittelbar. Weisheit, welcher ein Weiser mitzuteilen versucht, klingt immer wie Narrheit.“ Wissen hält er für mitteilbar, Weisheit nicht. Man kann sie leben, man kann von ihr getragen sein, man kann mit ihr Wunder wirken, aber lehren kann man sie nicht.

Die Christen kennen dieses Problem von Anfang an. Paulus z.B. ist immer wieder ins Stammeln geraten, wenn er von seinen ureigensten Erfahrungen mit Christus gesprochen hat. Petrus wurde für betrunken gehalten, als er an Pfingsten seine Überzeugungen mitzuteilen versuchte. Dennoch blieben sie nicht allein wie Siddhartha, sondern vermochten, viele zu überzeugen. Wenn das heute nicht mehr so recht gelingen will, fehlt es wohl weniger an den Worten; fehlt es etwa an den Erfahrungen?


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