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HERBERT LEUNINGER ::: ARCHIV KIRCHE-MIGRATION 1987 :::

VON DER NEBENKIRCHE
ZUR MULTIKULTURELLEN KIRCHE

1. Vorstellungen der Ortskirche

Nach diesem Versuch einer Zustandsbeschreibung erhebt sich nun die Frage, was zur Veränderung getan werden kann. Alois Müller weiß schon vor Jahren von Forderungen in der Schweiz zu berichten, „eine eigene Ausländerpastoral abzubauen, die finanzielle Unterstützung zu reduzieren, die Ausländer einfach in die heimische Pastoral zu integrieren“ (Alois Müller, a.a.0.). Abgesehen davon, daß dies bei dem jetzigen Entwicklungsstand überhaupt nicht mehr möglich ist, wäre es ein menschliches Unrecht gegenüber jenen, die seit Jahr und Tag eine intensive pastorale Arbeit für ihre Landsleute leisten und dabei den allerdings wenig erfolgreichen Versuch machen, eigenständige Gemeinden zu ermöglichen. Schließlich wäre es aber überhaupt nicht statthaft, da es einen Anspruch auf eine besondere, muttersprachliche Pastoral gibt, über deren Dauer eine begründete Diskussion erforderlich wäre. Ähnliche Tendenzen gab und gibt es auch in der Bundesrepublik. Es besteht aber keine andere Möglichkeit, als einen Weg zu suchen zwischen der Skylla totaler Assimilierung und Vereinnahmung von der Ortskirche und der Charybdis einer Nebenkirche. Letzteres stellt die größere Gefahr dar, zumal vermutlich bereits irreversible Prozesse der Abdrängung und Absonderung in Kirche und Gesellschaft abgelaufen sind. Das Gefährliche dieser Prozesse ist darin zu sehen, daß die vorhandenen kirchlichen Strukturen für die zweite und dritte Generation der Einwanderer noch unangemessener sind, als sie es für die erste vielleicht schon waren.

a. Die Gemeinsame Synode

Erklärtes Ziel der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik war seinerzeit, einerseits die bisherige Ausländerseelsorge auszubauen, indem organisatorische Voraussetzungen und eine finanzielle Ausstattung der Missionen angeordnet wurden, die unter vergleichbaren Verhältnissen den deutschen Gemeinden zugestanden werden; andererseits ist aber auch von der Eingliederung der Ausländer in die örtliche Gemeinde und ihrer Repräsentanz in den kirchlichen Gremien die Rede (vgl. Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, Die ausländischen Arbeitnehmer ‑ eine Frage an die Kirche und die Gesellschaft, a.a.0., 375ff.). Wie dies miteinander verbunden werden soll, ist im Grunde nicht näher erläutert. Der Wille, solche Verbindungen zu finden, läßt sich aber daraus erschließen, daß die Synode es als Aufgabe der Kirche betrachtet, im eigenen Bereich Modelle der Kooperation, Partnerschaft und Eingliederung zu entwickeln. Damit will die Kirche einen besonderen Beitrag für das harmonische und partnerschaftliche Zusammenleben verschiedener Nationalitäten in unserem Land leisten.

Die Gemeinsame Synode hat auch versucht, Integration zu definieren, und zwar allgemein. So bedeute Integration nicht eine Absorption der Minderheit und Verzicht auf die eigene kulturelle Substanz, sondern ‑ und hier wird im Grunde ein theologischer Begriff verwendet – einen gegenseitigen Kommunikationsprozeß, der für beide Seiten ein Geben und eine gegenseitige Bereicherung bedeutet.

Wie die Minderheitskirche mit der Mehrheitskirche verbunden werden kann, hängt von dem maßgeblichen kirchenorganisatorischen Grundmuster ab. Kirchlich hat nach wie vor das Territorialprinzip vor dem Personalprinzip, das universale Prinzip vor dem nationalen, das pfingstliche Prinzip vor dem sprachhomogenen Vorrang.

b. Ein Kooperationsmodell

Einen Versuch der Kooperation und Partnerschaft hat das Bistum Limburg im Rahmen seiner synodalen Struktur mit der Synode von 1977 gemacht. Damals wurde eine endgültige Verfassung für alle synodalen Gremien vom Diözesansynodalrat bis zum Pfarrgemeinderat erarbeitet und vom Bischof in Kraft gesetzt (vgl. Bistum Limburg, Synodalordnung, Limburg 1978). Auf Grund von Anträgen, die von italienischen und kroatischen Mitgliedern der Synode kamen und eine heftige Diskussion auslösten, wurde beschlossen, das Wort „Ausländer“ für den kirchlichen Sprachgebrauch im Bistum zu eliminieren und durch die Bezeichnung „Katholiken bzw. Mitbürger anderer Muttersprache“ zu ersetzen. Die an sich umständliche Sprachregelung entspricht dem kirchenamtlichen Ausdruck „fideles diversi sermonis“ und unterstreicht die theologische Vorstellung, daß Nationalität und Paß in der Kirche keine unterscheidenden Merkmale sind, geschweige denn unterschiedliche Rechte begründen. Mit einer weiteren Sprachregelung wurde der Ausdruck „Missionen“ durch die Bezeichnung „Gemeinden von Katholiken anderer Muttersprache“ ersetzt. Mit veränderter Sprache sollte auch Bewußtsein verändert werden.

In den Gemeinden von Katholiken anderer Muttersprache sind in Analogie zu den Pfarreien Gemeinderäte zu bilden. Der Katholik anderer Muttersprache besitzt demnach ein aktives und passives Doppelwahlrecht.

Auf Bistumsebene bilden diese Gemeinderäte den Rat von Katholiken anderer Muttersprache. Ihm gehören je zwei Vertreter jeder anderssprachigen Gemeinde an. Der Rat vertritt die im Bistum lebenden Katholiken anderer ethnischer Herkunft. Vor allem entsendet er zwei Vertreter in das oberste synodale Gremium des Bistums, in den Diözesansynodalrat. Eine ähnliche Regelung ist auch für die Synodalräte auf der regionalen Ebene vorgesehen. Hierbei hat der Rat der Gemeinden von Katholiken anderer Muttersprache ein Vorschlagsrecht.

In den Pfarreien mit großem Anteil anderssprachiger Gemeindemitglieder ist einer von ihnen, falls ein solcher nicht bereits gewählt wurde, zu den Sitzungen des Pfarrgemeinderates einzuladen. Außerdem ist der von der Gemeinsamen Synode angeordnete Ausschuß für Ausländerfragen zu bilden, in dem die Betroffenen angemessen vertreten sein sollen.

Die Anwesenheit ethnischer Minderheiten erfordert einen besonderen Minderheitenschutz, der ihnen genuine Rechte gegenüber gesellschaftlicher Übermacht, die ja auch immer durch Mehrheiten legitimiert wird, garantiert.

Die Regelungen sind eine Art Minderheitenrecht. Sie schaffen oder respektieren Nebenstrukturen. Diese sollen aber so angelegt sein, daß ein völliges Nebeneinander oder auch eine Deklassierung gegenüber den Hauptstrukturen verhindert wird, und zwar vor allem dadurch, daß die Nebenstrukturen mit den Hauptstrukturen verknüpft sind. Damit ist Minderheiten nicht nur das Recht auf die eigenständige Gestaltung und Ausformung der Gruppenidentität ermöglicht, sondern auch eine wirksame Form kollektiver Selbstvertretung. Wenn die Kirche sich im Unterschied etwa zu den Gewerkschaften entschieden hat, Para‑Strukturen zuzulassen und sogar zu fördern, kommt sie an spezifischen Formen der Interaktion und Kommunikation zwischen Mehrheit und Minderheiten nicht vorbei.

Nach mehr als zehn Jahren läßt sich sagen, daß über die strukturelle „Vernetzung“ ein bestimmtes Maß an Gemeinsamkeit erreicht wurde und die Anwesenheit der Gemeinde von Katholiken anderer Muttersprache auf den verschiedenen kirchlichen Ebenen stärker bewußt geworden ist. Deutlich wurde aber auch die unterschiedliche Interessenlage in gesellschaftspolitischen Fragen, die die Rechtslage der Ausländer in der Bundesrepublik betrafen. Den Gemeinden von Katholiken anderer Muttersprache fiel es ihrerseits schwer, für all die vorgesehenen Gremien geeignete Vertreter zu stellen.

c. Die Deutsche Bischofskonferenz

Mit einer gewissen Spannung durfte man die lange vorbereiteten pastoralen Weisungen der Deutschen Bischofskonferenz für die Ausländerseelsorge erwarten, die dann 1986 herauskamen (vgl. Deutsche Bischofskonferenz, Pastorale und rechtliche Richtlinien für die Ausländerseelsorge, Bonn 1986). Denn hier war die Möglichkeit gegeben, den neuen Entwicklungen in der Pastoral für die Katholiken anderer Muttersprache auch vor dem Hintergrund der theologischen und konzeptionellen Entwicklung in der Weltkirche Rechnung zu tragen. Der Grundsatzteil der entsprechenden Richtlinien ist allerdings zu kurz geraten, um diesem dringenden Erfordernis genügend Rechnung zu tragen. Ein zentraler Satz der Präambel ist der Hinweis, daß es eine nationale Kirche nicht gibt, da die Katholiken aller Völker und Nationen in jeder Teilkirche Heimatrecht haben. Die Aufgabe der Ausländerseelsorge ist es nach den Richtlinien, „sowohl die Eigenart und Eigenständigkeit der Katholiken anderer Muttersprache zu achten, als auch die partnerschaftliche Zusammenarbeit zu pflegen“. Betont wird, daß der Ortspfarrer für alle Katholiken seiner Pfarrgemeinde verantwortlich ist. Die Missionen werden als in Vergangenheit und Gegenwart notwendig bezeichnet, „weil die Migration eine Verpflanzung aus einem Lebensbereich in einen anderen ist und der ausländische Katholik in einem neuen Umfeld zurechtkommen muß.“

Dann werden, und dies macht den Hauptteil des Dokumentes aus, die bisher schon geltenden Richtlinien leicht modifiziert, „erneut in Erinnerung gerufen“. Im Grunde muß man feststellen, daß die Bischofskonferenz den status quo festschreibt, ohne allerdings weiterführende Entwicklungen zu blockieren. Sie allerdings dürften zu sporadisch und zu schwach sein, um einen pastoraltheologischen Sprung nach vorn zu rechtfertigen. Die Pastoraltheologie selbst weiß mit dem Thema einer multikulturellen Kirche bis auf den heutigen Tag wenig anzufangen und schied als Artikulationshilfe für die Bischofskonferenz aus. Ein Kairos konnte nicht genutzt werden.

d. Ein pastoraltheologischer Vorschlag

Einen umfassenden Lösungsvorschlag, der theologisch korrekt ist, der geltenden Verfassung der Kirche entspricht und dem Minderheitenrecht in der Kirche angemessen ist, machte bereits vor Jahren der oben zitierte Schweizer Pastoraltheologe Alois Müller (ebd). Er verweist auf die Ambivalenz des Territorialprinzips. Dieses entspreche nicht nur dem universalistischen Charakter der Kirche, sondern sei auch Ausdruck einer Seßhaftigkeitskultur. Von Anfang an habe es aber etwa in den Klostergemeinschaften bereits Gemeinden freier Wahl als Personalgemeinden gegeben. Heute nun wäre nicht nur ein wachsendes Unbehagen gegenüber der reinen Territorialgemeinde, sondern auch eine starke Veränderung unserer Gesellschaft von einer Seßhaftigkeitskultur weg zu einer größeren Mobilität festzustellen. Beides fördere den Drang zur Wahlgemeinde, die nicht auf dem Wohnprinzip beruhe. Dies bedeute natürlich auch die Gefahr der Partikularisierung der Kirche in Wahlchristentümer. Dennoch sieht Müller in dem Trend zur Wahlgemeinde einen guten Ansatz, um eine besondere Ausländerpastoral zu rechtfertigen, und zwar dann, wenn Ortsgemeinde und Wahlgemeinde zusammen das christliche Gemeinschaftsleben ausmachen. Die Wahlgemeinde müßte in dem Spektrum der Ortsgemeinde ihren Platz haben, aber nicht als Randerscheinung und Abkapselung, sondern als legitime Konkretisierung.

Mit Recht verwies bereits daher die Jahreskonferenz der italienischen Missionen von 1978 auf das II. Vatikanum, daß nämlich die Gesamtkirche aus Teilkirchen bestehe und daß diese Teilkirchen nach dem Bild der Gesamtkirche gebildet seien (vgl. Dokumentation der Jahrestagung 1978, Informations- und Dokumentationsstelle (UDEP), Frankfurt 1978). Die Kirche insgesamt sei nicht eine große Gemeinschaft von einzelnen, sondern eine Gemeinschaft von Gemeinden, eine „communio ecclesiarum“. In ihrem Pressekommuniqué sagt die Konferenz daher auch: „Die Missionen wollen keine Parallelkirche sein, sondern sie betrachten sich als vollwertigen Bestandteil der Ortskirche“. Mit ihr wollen sie die Kontakte vertiefen, um die gegenwärtige Randstellung zu überwinden. Integration auf der strukturellen Ebene dürfe aber die ethnische Gemeinde nicht daran hindern, ihr autonomes Glaubensleben zu entfalten, indem sie ihre eigene Kultur und ihre eigenen Gepflogenheiten auspräge. Daher werden u.a. geeignete Kommunikationsmöglichkeiten und Strukturen für den Dialog mit der Ortskirche gefordert. Die italienische Mission will eine Gemeinde von Einwanderern sein mit vollem Ausbau des liturgischen Lebens und der Organisation innerhalb der Ortskirche und unter der Leitung des Ortsbischofs (ebd.).

Mit diesen legitimen Vorstellungen ist die Spannung zwischen den Pfarreien und der Einwanderergemeinde ins Programm gehoben, selbst wenn es gelingen sollte, die Inferiorität der Missionen und der Einwanderer zu überwinden. Hier wird auf eine andere Weise ökumenischer Geist erforderlich, um aus dem Nebeneinander verschiedenster Gemeinden ein geistliches Miteinander zu machen. Vor allem ist die Frage völlig ungelöst, was solche Strukturen für die zweite und dritte Einwanderergeneration bedeuten, die weder voll in die Nationalitätengemeinde noch in die Ortspfarreien einbezogen werden können, weil sie weder hier noch dort Heimat finden. Die Missionen in ihrer bisherigen Ausprägung sind Einrichtungen für die erste Generation.

e. Eine spanische Perspektive

Die Zukunft der spanischen Gemeinden sieht der zuständige Delegat der spanischen Gemeinden in der Bundesrepublik, Felix Rodriguez, daher sehr stark in Abhängigkeit von den Bedürfnissen der verschiedenen Generationen (Felix Rodriguez, Die Zukunft von Gemeinden der Katholiken anderer Muttersprache, hektogr. Text im Archiv des spanischen Oberseelsorgeamtes, Bonn 1986)

„Solange noch Tausende von Katholiken der ersten Generation hier leben, sollten die Gemeinden der Ort sein, wo diese Menschen Aufnahme, Geborgenheit, Begegnung, Heimat und Verwurzelung finden.“ Das Leben dieser Gemeinden werde sich hauptsächlich in der eigenen Sprache und Kultur ausdrücken. Aber auch diese Gemeinden sollen immer wieder die Begegnung und die Zusammenarbeit mit den Ortsgemeinden deutscher und anderer Sprachen suchen und weiterentwickeln.

Für die zweite Generation empfiehlt Rodriguez eine „zweigleisige“ Pastoral:

„D.h. sowohl die Ortsgemeinden als auch die Katholiken anderer Muttersprachen sollten Möglichkeiten finden, wodurch die volle Eingliederung der jungen Menschen in eine der beiden Gemeinden realisierbar wird. Allerdings könnte es dabei auch zu einer doppelten Eingliederung kommen. Die Jugendlichen könnten sich in der Ortsgemeinde ebenso wohl fühlen wie in der Gemeinde der Katholiken anderer Muttersprache.“

Eine besondere Aufgabe wird für die dritte und die nachfolgenden Generationen gesehen. Hier sollten die Gemeinden der Katholiken anderer Muttersprache die Möglichkeit bieten, daß die Kinder die religiöse Tradition der eigenen Familie kennen, verstehen und schätzen lernen.

Der Delegat empfiehlt der Kirche in Deutschland als oberstes Gebot, „eine breite Palette von Möglichkeiten anzubieten, die allen Katholiken deutscher und anderer Muttersprache einen Ort der Aufnahme garantiert und die Eingliederung in einer Gemeinde ermöglicht“.

1. Ein Brief an die deutschen Pfarrgemeinden

1985 haben sich die 150 Teilnehmer der 30. Nationaltagung der italienischen Katholischen Missionen in Deutschland und Skandinavien an die deutschen Pfarrgemeinden gewandt.(15) Sie betonen am Anfang, daß vielleicht niemals wie auf dieser Tagung der Wunsch und die Notwendigkeit empfunden worden sei, sich in immer konkreterer Weise der Kirche, die in Deutschland ist, zu verbinden.

„Das große Ziel, das nach unserer Meinung die Ortskirche in Deutschland verfolgen kann und muß, ist die Einheit eines neuen Volkes, das, indem es den Reichtum der Migration annimmt, das eigene besondere Bewußtsein verändert, um mit den Migranten selbst eine Erfahrung von Einheit auf einer viel umfassenderen und universelleren Ebene zu erleben.“

Dabei wird erwartet, daß die Ortskirche alle anderen religiösen und kulturellen Erfahrungen anerkennt und bewertet: „Wenn sie die Identität der Einwanderer nicht achtet, kann die Ortskirche in Deutschland auch die eigene wahrhafte Einheit nicht schaffen.“

Durch die Einwanderung von Menschen aus vielen Nationen wird nach Ansicht der italienischen Seelsorger die deutsche Gesellschaft immer plurikultureller und pluriethnischer. Daher sei die deutsche Kirche von den zahlreichen ethnischen Gruppen dringend zu einer Öffnung ihrer Strukturen für Christen aller Nationalitäten eingeladen.

In diesem Zusammenhang wird ein Unterschied gesehen „zwischen den offiziellen Positionen, die oft erleuchtet und mutig sind und dazu neigen, den Pluralismus anzunehmen und zu schätzen, und der praktischen Realisierung, vor allem auf der Ebene territorialer Strukturen, die häufig Gefahr läuft, lediglich Einförmigkeit (Uniformität) zu bewirken“ (vgl. Brief an die deutschen Pfarrgemeinden, in: Informations‑ und Dokumentationsstelle (UDEP), Frankfurt 1985).

Selbstkritisch wird eingeräumt, „daß wir Italiener in Deutschland, als Teil des Gottesvolkes, uns nicht immer bemüht haben, unseren Glauben und die Memoria unserer christlichen Tradition in der neuen sozialen, kulturellen und religiösen Situation, in der wir uns hier befinden, zu leben; zuweilen haben wir uns auf unserem Weg isoliert und damit riskiert, eine Nebenkirche neben der Ortskirche zu schaffen“.

Man könnte sagen, daß bei den Vertretern der muttersprachlichen Pastoral die erforderlichen theologischen Gedanken für eine Veränderung bedacht und artikuliert werden. Es fehlen allerdings die Konzepte, in denen von der Erfahrung gespeiste nächste Schritte vorgeschlagen und gefordert werden. Die Ortskirche ist durch gute Gedanken allein nicht in Bewegung zu setzen.

2. Vorstellungen der Weltkirche

a. Die Dauer einer eigenen Migrantenpastoral

Die Antwort auf die Frage, wie lange es denn eigene Missionen für die Migranten geben müsse oder dürfe, ist von Rom unterschiedlich gegeben worden und zeigt eine Entwicklung auf. Das entscheidende Dokument ist das Motuproprio Paul VI. „Pastoralis migratorum cura“ von 1969 (im folgenden PMC abgekürzt) (Paul VI., Motuproprio „Pastoralis migratorum cura“ vom 15. August 1969, AAS 61 [1969], 601‑603). Es enthält die Bestimmung, „daß es zweckmäßig ist, die Auswandererseelsorge Priestern derselben Sprache zu übertragen, und zwar für die gesamte Zeit, für welche die muttersprachliche Seelsorge erforderlich und nützlich ist“ („per totum tempus, quod utilitas requirat“).

Diese Formulierung legt keinen zeitlichen Rahmen fest und unterscheidet sich damit in einem wichtigen Punkt von der Apostolischen Konstitution „Exsul Familia“ aus 1952, die von PMC abgelöst wurde. Hier gilt die Seelsorge für die „auswärts Geborenen“ („alienigenae“), die sich in einem fremden Land aufhalten und ihre Nachkommen ersten Grades gerader Linie allerdings auch dann, wenn diese die Rechte der Einbürgerung erworben haben (vgl. Pius XII., Apostolische Konstitution „Exsul Familia“ vom 1. August 1952, AAS 44 (1952), 649‑704).

Dagegen wollte und konnte PMC die zeitliche Begrenzung der Migrantenpastoral auf die erste und zweite Generation nicht aufrecht erhalten. Die Erfahrungen in den klassischen Einwanderungsländern, die wachsende internationale Mobilität, das Traditions‑ und Kulturbewußtsein der verschiedenen Einwanderergruppen und die Beharrungstendenz der einmal eingerichtete Sprachen‑ und Nationalpfarreien ließen dies offensichtlich nicht mehr zu. So entschied sich PMC für eine zeitliche und übrigens auch strukturelle Offenheit.

Damit ist aber die Frage nicht beantwortet, was es denn bedeutet, die besonderen Einrichtungen der Migrantenpastoral so lange aufrecht zu erhalten, wie es die Nützlichkeit erfordert. PMC sucht dies dadurch zu erläutern, daß es entsprechende pastorale Kriterien für eine Beurteilung anbietet. Danach müssen neben der Art und Weise und den rechtlichen Formen des religiösen Beistands für die Migranten die angemessene Dauer in jedem einzelnen Fall genauestens überlegt und den verschiedenen Verhältnissen angepaßt werden (ebd.). Im Einzelnen sollten dabei bedacht werden: Die Dauer der Einwanderung; der Prozeß der „Akkomodation“ (in der deutschen Übersetzung: „Integration“) nicht nur in der ersten, sondern in den folgenden Generationen (Plural!); die kulturellen Unterschiede, die von der Sprache und auch vom Ritus herkommen; der Charakter der Migration als entweder periodische oder zeitlich begrenzte oder auch als dauernde; eine Migration von kleinen Gruppen oder großen Massen; eine, die geographisch konzentriert oder gestreut erfolgt. Die genannten Kriterien beziehen sich ausschließlich auf die Migrantenpastoral selbst. Kriterien, die die Ortskirche und eine sinnvolle Gemeinsamkeit im Blick hätten, sind hier nicht aufgeführt. Sie spielen aber eine immer größere Rolle, wie sich etwa den Äußerungen Johannes Paul II. entnehmen läßt, die gleichermaßen freie und aktive „Mitwirkung in Parität mit den in den Ortskirchen geborenen Gläubigen“, „ohne zeitliche und milieubedingte Einschränkungen“ bilden den Weg für die kirchliche Integration der zugewanderten Gläubigen. (Johannes Paul II., Botschaft des Papstes zum Welttag der Emigranten vom 16. Juli 1985, in: L‘Osservatore Romano (deutsch) Nr. 36 v. 6.9.1985) Dies ist gleichermaßen ein Votum für Zusammenarbeit wie zeitliche Offenheit.

Überlegungen mit dem Katalog dieser Kriterien, aber auch weiterer, die sich weltkirchlich abzeichnen, sind für die Bundesrepublik angezeigt, werden aber in der kirchlichen Öffentlichkeit kaum angestellt. Im Grunde überläßt man die Entwicklung einer pragmatischen Eigengesetzlichkeit.

b. Kultur und Identität

aa. Kirche und Kultur

Die theologische und pastorale Aufgabe der Kirche hinsichtlich der Migranten wird vor dem Hintergrund der weltweiten Migrationserfahrungen und eines sich immer mehr differenzierenden Begriffs der Bedeutung von kultureller Identität der einzelnen Person, der ethnischen Minderheiten und der Völker verstanden. Damit bekommt diese Aufgabe Dimensionen, die sie sehr bald loslösen könnte von dem Verständnis einer provisorischen Pastoral für Einwanderer.

Kultur wird vom II. Vatikanischen Konzil verstanden als alles, wodurch der Mensch seine vielfältigen geistigen und körperlichen Anlagen ausbildet und entfaltet; sich diese ganze Welt durch Erkenntnis und Arbeit zu unterwerfen trachtet; das gesellschaftliche Leben, das familiäre und politische durch den sittlichen Fortschritt und den Ausbau von Institutionen menschlicher gestaltet; wodurch er schließlich seine großen geistigen Erfahrungen und Bestrebungen im Laufe der Zeit in seinen Werken ausdrückt, mitteilt und bewahrt – zum Segen vieler, ja, des ganzen menschlichen Geschlechts. (Vgl. Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute, Nr. 53, in: Vaticanum II, vollst. Ausgabe der Konzilsbeschlüsse, Osnabrück 1966.) Wir haben es hier mit einem umfassenden Verständnis von Kultur zu tun, bei dem Kultur im landläufigen, nämlich im künstlerischen Sinn, nur ein Element ist.

Das Konzil stellt das Verhältnis der Kirche zur jeweiligen Kultur in den Zusammenhang der Inkarnation. Die Kirche müsse sich mit der gleichen Motivation, wie sich Christus selbst in der Menschwerdung von der konkreten sozialen und kulturellen Welt der Menschen einschließen ließ, unter denen er lebte, ganz und gar in die jeweilige Umwelt inkarnieren. Durch die Ausstattung mit den kulturellen Reichtümern der eigenen Heimat solle die Gemeinschaft der Gläubigen tief im Volk verwurzelt sein. Dabei darf die Kirche allerdings niemals unter die „Vormundschaft des Ethnos“ geraten, durch die völkische oder ideologische Interessen der Sendung und dem Wesen der Kirche übergeordnet werden.

In seiner Enzyklika „Slavorum apostoli“ hat Johannes Paul II. den Aspekt spezieller Kulturausprägungen als heilsgeschichtlich bedeutsam herausgestellt. Danach hat jedes Volk, jede Kultur eine eigene Aufgabe für „die volle Katholizität“ zu erfüllen. Allerdings muß jede besondere Tradition, jede Ortskirche offen und empfänglich bleiben für die anderen Kirchen und Traditionen gleichwie für die universale und katholische Gemeinschaft; „wenn sie in sich verschlossen bliebe, würde sie sich der Gefahr aussetzen, auch selber zu verarmen“. (Johannes Paul II., Enzyklika „Slavorum apostoli“ Nr. 27, zit. nach: ders., Botschaft des Papstes zum Welttag der Emigranten, a.a.0.)

Von einer in Aufwertung begriffenen Kulturtheologie her erhält also der für das II. Vatikanum wichtige Gedanke der Eigenständigkeit der Teilkirchen neue Nahrung. Die Ortskirchen „sind die Kirche mit verschiedenen Riten, mit unterschiedlichen liturgischen, kulturellen und religiösen Traditionen“. Genauer genommen gibt es neben dem inkarnatorischen Aspekt von Kultur auch den ekklesiologischen, der aus der Verschiedenheit einen höheren und reicheren Begriff der Einheit ableitet.

bb. Kultur und Migration

Der gesellschaftliche und kirchliche Wert einer eigenen Kultur, die sich von anderen unterscheidet, wird aber nicht nur einem Volk, einer Ethnie oder einer Ortskirche zuerkannt, sondern auch dem einzelnen Menschen, der seine Identität in einer bestimmten Kultur findet und sichert. Gerade bei den Fragen der Integration von Migranten wird dieser Aspekt so sehr betont, daß der Anspruch auf die Respektierung und Förderung der eigenen Herkunftskultur zu einem Menschenrecht hochstilisiert werden kann. (vgl. PMC, Zweiter Teil, I. 5., a.a.0.)

Einfügung in die neue Kultur bei Wahrung der ererbten ist die Antwort der Kirche auf die Problematik von Isolation und Aufgesogenwerden. Die neueren Dokumente der Kirche über die Migration können sich gar nicht oft genug zu diesem Komplex äußern. So müssen sich nach Johannes Paul II. die zugewanderten Gläubigen in der Ausübung ihres Rechtes und ihrer Pflichten ganz der Ortskirche und der kirchlichen Gemeinschaft zugehörig fühlen. Diese selbst muß ihnen die freie und aktive Mitwirkung in voller Gleichberechtigung gewähren, und zwar so weitgehend, daß die Einwanderer sich fühlen, „so als wären sie in ihrem Heimatland“. D.h. aber andererseits, daß sie sich „trotzdem“ der eigenen Sprache, der Kultur, der Liturgie, der Spiritualität und besonders auch ihren Traditionen treu bleiben. Nur das wird als „kirchliche Integration“ verstanden, die die Kirche bereichert und „Frucht der dynamischen Realität der Menschwerdung des Sohnes Gottes ist“; hier also wieder der Zusammenhang zwischen Kultur und Inkarnation. Natürlich benennt das Schreiben des Papstes ein Spannungs‑ und Konfliktfeld, das eher gesellschaftlich als kirchlich schwer lösbare Aufgaben mit sich bringt. Fast sieht es so aus, als könne die Spannung zwischen kultureller Eigenständigkeit und Anpassung nicht durchgehalten werden. Daher warnt die Kirche im Bereich der Migration vor dem naheliegenden Versuch, die Integration, die Eingliederung und Angleichung zu beschleunigen oder zu hemmen, besonders wenn dieser „von nationalistischen, politischen oder sozialen Gedanken an Vorherrschaft getragen ist“. Das könne jene „wünschenswerte Pluralität“ nur ersticken und beeinträchtigen. Das „Recht auf Freiheit zur Integration“ in der Ortskirche bedeutet, daß die einzelnen Gruppen, aus denen sich diese zusammensetzt, sich gegenseitig akzeptieren, weil sie die Kultur des einzelnen achten und respektieren. Der ängstliche Gedanke der Einheimischen, solcherart Pluralität, die ja die eigene Identität tangiert, könne zur Zerrüttung der Glaubenseinheit führen, läßt Rom nicht gelten. Im Gegenteil: Die „Katholizität der Kirche sieht man ja ganz konkret in der Verschiedenheit der Volksgruppen und Kulturen, und diese Katholizität verlangt eine totale Öffnung anderen gegenüber“.

Alles in allem wird aus den wenigen Zitaten deutlich, daß die Migration die Einwanderungskirchen alten (z.B. USA) und neuen (z.B. Bundesrepublik Deutschland, Schweiz, Osterreich und Frankreichs) Typs vor eine Herausforderung stellt, die weniger damit zu tun hat, wie ärmeren Einwanderern, sondern eher wie „ärmeren“ Aufnahmekirchen geholfen werden könnte, Kirche zu werden.


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