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Pressegespräch vom 06.03.1996

Vorstellung des Bosnien-Faltblattes
„Vom papierenen Frieden zur sicheren Rückkehr?“
„Zur Debatte um die Rückkehr bosnischer Kriegsflüchtlinge“

(Redetext für Herbert Leuninger)


Wir begrüßen Sie zu dem ersten gemeinsamen Pressegespräch vom Deutschen Gewerkschaftsbund, Deutschen Caritasverband, dem Interkulturellen Beauftragten der Evangelischen Kirche Hessen und Nassau und PRO ASYL. Zu diesem nicht alltäglichen Bündnis ist es angesichts der Situation in Bosnien und der Problematik der Rückkehr der bosnischen Flüchtlinge gekommen. Aus Sicht von PRO ASYL ist es dringend erforderlich eine stärkere Gegenöffentlichkeit zu schaffen und Initiativgruppen, Gewerkschaftsgruppen, Beratungsstellen von Wohlfahrtsverbänden, Kirchengemeinden für diese schwierige Thematik zu sensibilisieren. Es besteht die Gefahr, daß mit der innenpolitischen Dampfwalze über die humanitären Anliegen und die politischen Zielvorstellungen des Daytoner Abkommens hinweggefahren wird. Mit diesem Faltblatt wollen wir eine aktuelle Gesamteinschätzung über die Situation in Bosnien und die Frage der Rückkehr von Flüchtlingen geben. In einer Auflage von rund 60.000 Exemplaren wird es bei Kirchengemeinden, Gewerkschaftsgruppen, Beratungsstellen, Initiativgruppen verbreitet. Neben der Information ist unser weiteres Ziel diese Gruppen zum Handeln aufzufordern: Um eine Aussetzung des Beschlusses der Innenminister vom Januar zu erreichen.

Bei der Einschätzung der Situation in Bosnien gehen wir von folgenden Fakten aus:

  1. Mehr als 2.000 000 Menschen aus Bosnien sind auf der Flucht, etwa 1.000 000 davon Binnenvertriebene. In vielen Regionen ist die Hälfte der Häuser zerstört. In den Wohnungen leben Menschen, die zuvor aus anderen Orten vertrieben wurden. Tausende sind in provisorischen Behelfsunterkünften untergekommen. Die Minimalversorgung der Bevölkerung wird Bosnien auf absehbare Zeit nicht aus eigener Kraft sichern können.
  2. Aber es mangelt nicht nur an einem Dach über den Kopf. Eine Rückkehr in Sicherheit und Würde ist für viele unmöglich. Millionen Minen liegen im Land. Eine umfassende Entwaffnung der kämpfenden Parteien und der marodierenden Banden hat noch nicht stattgefunden. Da wo Menschen versucht haben, sich den Vertrag von Dayton entsprechend auf das von der anderen Partei besetzte Gebiet zu begeben, ist es zu Bedrohungen, Geiselnahmen und Attacken von Heckenschützen gekommen. Eine übereilte Rückkehr würde den brüchigen Frieden gefährden.

Für den 3. Mai ist die nächste Innenministerkonferenz vorgesehen. Die Innenminister haben sich „situationsbedingte Anpassungen“ ihrer Beschlüsse vorbehalten und eine Überprüfung zugesagt. Wir möchten heute an die Innenministerkonferenz folgende Forderungen richten:

1) Aussetzung des Beschlusses ab Juli 1996 200.000 Flüchtlinge nach Bosnien zurückzuführen. Neben einer zeitlichen Verschiebung ist aus unserer Sicht wichtig herauszustellen, daß für ganze Gruppen von Flüchtlingen eine Rückkehr in absehbarer Zeit nicht oder kaum möglich sein wird. (Siehe Seite 3 Faltblatt, Spalte 1 und 2).
Dies sind:

  • – Bosnische und kroatische Flüchtlinge, die ihren letzten Wohnsitz in der jetzigen Republik Srbska hatten.
  • – Bi-ethnische Paare und Familien
  • – Traumatisierte Menschen, Folteropfer, vergewaltigte Frauen
  • – Deserteure und Wehrdienstverweigerer, für die es bisher keine verläßliche Amnestie gibt
  • – Die Zeugen des Kriegsverbrechertribunals in Den Haag.

Zur Zeit erarbeitet eine Bundesländerarbeitsgruppe einen Mustererlaß, der die Intentionen der Innenministerkonferenz umsetzen soll. Bekannt gewordene Entwurfstexte zeigen, daß bislang ein echtes Problembewußtsein wohl nicht vorhanden ist und sehr bürokratisch gedacht wird. Ein Beispiel: Viele der Kriegsflüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina sind Opfer traumatisierender Ereignisse, haben den Tod naher Verwandter miterlebt, sind selbst mißhandelt oder gefoltert worden. Als Traumatisierte sollen jedoch nach dem Verständnis der Innnenministerkonferenz – auch der Erlaß scheint dies nicht anders zu sehen – nur solche gelten, die zum 15. Dezember 1995 in ärztlicher Behandlung waren. Es liegt auf der Hand, daß eine solche bürokratische Festlegung den leidvollen Erfahrungen der Flüchtlinge nicht entspricht. Es kann passieren, daß auf dieser Basis etwa ein alleinstehender Flüchtling, der aus einem der berüchtigten Folterlager wie Omaska oder Maniadza kommt, noch in diesem Jahr unser Land verlassen muß.

Wir rufen Initiativgruppen, Kirchengemeinden, Wohlfahrtsverbände usw. zu Aktionen für den weiteren Aufenthalt von bosnischen Flüchtlingen auf: (siehe letzte Seite)

  • in der eigenen Stadt für einen weiteren Verbleib von Flüchtlingen aus Bosnien zu werben;
  • Fälle von Flüchtlingen, die nicht in ihre Heimat zurückkehren können, der Öffentlichkeit vorzustellen.
  • Einzelne Fälle dem Innenminister zu schildern. Die nächste Innenminister-konferenz findet am 3. Mai 1996 statt. Der jetzige Beschluß ist auf dem Reißbrett entstanden.
  • Sich für Bleiberechtsregelungen für Gruppen, die in absehbarer Zeit nicht zurückkehren können, einzusetzen.
  • Forderungen an den Innenminister für einzelfallbezogene Härtefallregelungen zu stellen. Keine Gruppenregelung wird alle Schutzbedürfigen umfassen. Das geltende Ausländerrecht ist – nicht nur bezogen auf die Flüchtlinge aus Bosnien – viel zu starr. Es muß eine rechtliche Möglichkeit geschaffen werden, daß humanitäre Lösungen im Einzelfall möglich werden.

2) Übermorgen findet in Oslo eine weitere internationale Konferenz zur Rückkehr der bosnischen Flüchtlinge statt. Wir kritisieren, daß die Frage der Rückkehr von bosnischen Flüchtlingen in Deutschland vorrangig unter innenpolitischen, ausländerrechtlichen Gesichtspunkten abgehandelt wird. Wir fordern, daß die Bundesregierung sich nach den Vorstellungen des UNHCR richtet und nicht umgekehrt. Denn UNHCR hat nach Artikel 3 des Daytoner Abkommens die Aufgabe, sämtliche Rückkehrvorbereitungen und die Durchführung der Rückkehr zu koordinieren. Die Frage des Friedens in Bosnien ist eine außenpolitische Frage. Wir kritisieren, daß die Zuständigkeit für Verhandlungen mit UNHCR über eine Rückkehr von Flüchtlingen nicht beim Auswärtigen Amt liegt. Wir sprechen dem Bundes- und den Länder- Innenministern die Kompetenz ab, in dieser Frage tätig zu werden.

3) Der Einsatz der Bundeswehr in Jugoslawien wird nach Schätzungen über 700.000 000 DM kosten. Wir fordern, daß der Etatansatz für eine deutsche Beteiligung an einem zivilen Wiederaufbauprogramm mindestens den Kosten des Militäransatzes angeglichen wird. Bisher gibt es hierzu keine Beschlüsse in der Bundesregierung. Solch ein Wiederaufbauprogramm sollte vom Auswärtigen Amt und vom Bundesministerium für wirtschaftlichen Zusammenarbeit koordiniert werden. Flüchtlinge sind Experten in eigener Sache. Sie sollten bei den Planungen und beim Wiederaufbau beteiligt werden.


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