Hessischer Rundfunk Frankfurt
Woche vom 18. – 23. Juli 1966
RADIO KURZPREDIGTEN
Vielleicht ist es aber wahr
Wer möchte sich in seinen Anschauungen, und gerade in seinen weltanschaulichen, schon beunruhigen lassen? Dieses Geschäft – auf den ersten Blick möchte man es nicht vermuten – besorgen bisweilen die Theologen. Nehmen Sie den jovialen Pfarrer, der es liebte, sich mit seinen Bauern, die er beim morgendlichen Spaziergang traf, gelegentlich recht tiefsinnige Gespräche zu führen. So unterhielt er sich mit einem der Bauern über die verschiedenen Religionen, die es auf der Welt gibt, den Buddhismus, den Islam, den Konfuzianismus; zugegeben ein Thema, daß sich normalerweise nicht für die Predigt eignet. Am Schluß der gelehrten Auslassungen lächelte der Bauer nachdenklich und sagte: „Herr Pfarrer, Herr Pfarrer, ich würde ja lachen, wenn unsere Religion nicht die richtige wäre!“
Hat der Pfarrer seiner sonstigen Verkündigung nicht einen schlechten Dienst erwiesen, wenn er durch seine Worte Zweifel gesät hat? Der gemeinhin für zutreffend gehaltenen Auffassung nach, man dürfe niemanden in seinem Glauben beunruhigen, sicherlich. Bei dieser Bewahrungsmethode bleibt aber eine entscheidende Tatsache unberücksichtigt: Der Glaubenswahrheit ist nicht damit gedient, wenn ich weiterer Erkenntnis einen Riegel vorschiebe. Das sei gesagt auf die Unruhe hin, die sich bei vielen ernsthaften Christen zeigt, die heute stärker als je in die geistige Auseinandersetzung, nicht zuletzt der Theologie, hineingezogen sind. Ich halte es hier mit dem Philosophen und Staatsmann Radhakrishnan: „Die Wahrheit, die uns die Wissenschaft bietet, bereitet größerer Tiefe im Religiösen den Weg.“ Zweifel und Unruhe sind Wachstumsschmerzen in der Wahrheit, und die werden uns wieder und wieder befallen.
Nun wäre es einseitig, nur bei Gläubigen von Unruhe zu sprechen. Wie ein Theologe auch in anderer Hinsicht beunruhigen kann, mögen Sie der Nacherzählung einer jüdischen Geschichte von Martin Buber entnehmen: Ein sehr gelehrter und aufgeklärter Mann sucht einen bekannten Rabbi auf, um mit ihm zu disputieren und die rückständigen Beweise für den Glauben zuschanden zu machen. Den Ankömmling zuerst nur flüchtig beachtend, sagt der Rabbi in tiefer Nachdenklichkeit: „Vielleicht ist es aber wahr?!“ Erst dann wendet er sich dem Gelehrten vollends zu, der durch diesen Satz und die Art und Weise, wie er vorgebracht worden war, in Verwirrung gerät. „Die Großen der Thora“, sagt der Rabbi, „haben Dir Gott und sein Reich nicht auf den Tisch legen können, und ich kann es auch nicht; aber bedenke, mein Sohn, vielleicht ist es aber wahr?!“ Der Gelehrte versucht zu antworten; doch dieses „vielleicht“ bricht einfachhin seinen Widerstand.
Hieran wird deutlich, daß nicht nur der Gläubige seine Position befragen lassen muß, sondern auch der Nicht-Gläubige. Dabei stellt sich heraus, daß im Glauben der Unglaube und im sogenannten Unglaube oft der Glaube liegt; d.h. Glaube und sein Gegenteil verteilen sich nicht unbedingt auf verschiedene Menschen, vielmehr befinden sie sich in mir. Deswegen kann die Frage des Rabbi „vielleicht ist es aber wahr“ auch für mich von Nutzen sein.