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HERBERT LEUNINGER ::: ARCHIV RADIO KURZPREDIGTEN 1971 ::: ARCHIV KIRCHE 1971 :::
Zuspruch am Morgen

Hessischer Rundfunk Frankfurt
Woche vom 24.-29. Mai 1971

RADIO KURZPREDIGTEN

Verstehen und Verzeihen


Vielen Angeklagten werden für ihre Tat mildernde Umstände zuerkannt. Dementsprechend wird das Strafmaß herabgesetzt. Nicht selten wird eine Untat überhaupt nicht bestraft. Der Täter kann nach Ansicht des Gerichtes für sein Tun nicht verantwortlich gemacht werden. Je besser unsere Kenntnisse von der Seele des Menschen werden, umso schwieriger wird es für den Richter zu verurteilen. Die Gutachten der Psychologen werden in der Rechtsprechung immer bedeutsamer. Es scheint sich das zu bewahrheiten, was im vergangenen Jahrhundert der Philosoph Nietzsche gesagt hat: „Wenn die Kenntnis, welche der Verteidiger eines Verbrechers von dem Fall und seiner Vorgeschichte hat, weit genug reicht, so müssen die sogenannten mildernden Umstände, welche er der Reihe nach vorbringt, endlich die ganze Schuld hinwegmildern.“ Soweit die Worte Nietzsches.

Man kann seinen Gedenken auf die einfache Formel bringen: Alles verstehen heißt alles verzeihen. Hinter diesem aus Frankreich stammenden Wort liegt eine reiche menschliche Erfahrung und Weisheit. Unabhängig von der Psychologie setzt es die Bereitschaft zu verzeihen an die oberste Stelle. Diese Bereitschaft wächst in dem Maße, wie ich den andern verstehen lerne.

Wenn dem so ist, gerät denn nicht unsere ganze Gerichtsbarkeit ins Wanken? Luise Rinser stellt den Konflikt in ihrem Roman „Der Sündenbock“ dar. Der Chef der Kriminalpolizei einer Stadt, ein berühmter Kommissar, ist mit einem mysteriösen Fall befasst. Eine reiche Dame stirbt auf seltsame Weise. Der kostbare Schmuck verschwindet. Die Erben verhalten sich ausgesprochen gleichgültig. Ein Antiquitätenhändler, der Stücke des Schmuckes besitzt, erhängt sich. Die Stadt ist voller Gerüchte. Zahlreiche Verdächtigungen werden flüsternd ausgesprochen. Es herrscht allgemeiner Unfriede. Man erwartet von dem Kommissar die baldige Entdeckung des Schuldigen. Dieser arbeitet sich immer tiefer in das Gewirr von Schuld und Verdächtigung hinein. Es scheint d e r Fall für einen erfahrenen Kriminalisten zu sein. Auffällig ist, daß er immer zurückhaltender und betroffener wird. Schon wird man in der Stadt unruhig. Wird der Kommissar den Fall klären? Will er vielleicht die ganze Angelegenheit vertuschen?

In dieser Situation läßt Rinser bezeichnenderweise ein Gespräch zwischen dem Pfarrer und dem Kommissar stattfinden. In dessen Verlauf bittet der Geistliche den Kommissar sehr eindringlich: „Versuchen Sie es in diesem Falle nicht, die Schuldigen zu finden. Es sind unschuldig Schuldige. Mehr darf ich nicht sagen. Seine priesterliche Schweigepflicht verbietet ihm konkretere Aussagen. Allerdings spricht er nicht von gänzlich Unschuldigen. Er setzt als Theologe voraus, daß der Mensch schuldig werden kann. Dies geschieht in einer Verquickung von Unschuld und Schuld, „Das Gute, irregeleitet,“ sagt er, „und der Mensch ist sehr schwach“. Dieses Urteil wird durch das Bekenntnis einer Frau, die alle Schuld auf sich nimmt, bestätigt. Sie sagt dem Kommissar: „Hab alles zum Guten richten wollen… Hab’s nicht gekonnt.“ Der Roman schließt damit, daß der Kommissar nach diesem Gespräch um seine Entlassung einkommt.

Er vermochte nicht mehr zu verurteilen. Es war aber auch nicht seines Amtes zu verzeihen.

Damit will der Roman nicht einfach alle Schuld hinweggemildert haben. Er wirbt um Verständnis für den, der schuldig geworden ist. Dieses Verständnis führt nicht dazu, daß ich den andern völlig entschuldige, sondern daß ich ihm seine Schuld verzeihe.


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