VERLEIHUNG DER WILHLEM-LEUSCHNER MEDAILLE
an Herbert Leuninger am 30. November 1991 im Schloß Biebrich, Wiesbaden
D a n k r e d e
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Eichel!
Sehr verehrte, liebe Frau Funcke!
Sehr geehrter Herr Schwinghammer!
Meine Damen und Herren!
Ich danke Ihnen, Herr Ministerpräsident und der Hessischen Landesregierung, für die Verleihung der Wilhelm-Leuschner Medaille. (auch im Namen von Herrn Schwinghammer). Es ist, wie Sie es auch in Ihrer Rede zum Ausdruck gebracht haben, ein bedeutsames Signal pro Asyl. Mit dem politischen Kapital, das Sie hiermit um mich herum aufgehäuft haben, werde ich als Sprecher von „Pro Asyl“ im Sinne des Grundgesetzes und der Hessischen Verfassung nach Kräften wuchern. Ich gehe davon aus, daß die Landesregierung gewußt hat, was sie damit tat und was das ggfs. für sie bedeuten könnte!
Ich nehme diese hohe Ehrung an, weil ich damit alle Flüchtlinge und alle Menschen, die in den letzten Monaten Opfer der Pogromstimmung in Deutschland geworden sind, in unveräußerlicher Würde geehrt sehe.
Ich nehme sie an für die kurdische Familie, deren kleine Küche im Wohnheim von einer mit schwarzer Farbe gefüllten Flasche, die in der Nacht zum Buß- und Bettag durch das Fenster geschleudert wurde, verwüstet wurde. Innerlich vor Wut und Trauer bebend stehe ich an diesem Feiertag unter den bedrohten Menschen.
Ich nehme die Ehrung an für die mit mir befreundete afghanische Familie im Appartement nebenan, die 1987 im Asylverfahren abgelehnt, von da an als Wirtschaftsflüchtlinge eingestuft erst 1991 nach der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt wurde. Der Mann, der diesen zermürbenden Zustand nicht verkraftet hat, ist erst seit ein paar Tagen nach einer gerade überstandenen Herzoperation wieder in seiner Wohnung.
Geehrt sehe ich die iranische Mutter mit ihren zwei Kindern, die links von der kurdischen Familie seit Wochen in Angst und Schrecken lebt, genauso wie auf der gleichen ungeschützten Wohnebene die Familie aus Eritrea, wo der Vater von mir unterstützt, seit drei Jahren für seine Familie mit drei kleinen Kindern um eine eigene Wohnung kämpft. Mitgeehrt sind aber auch alle anderen Flüchtlinge in dem Wohnheim, die ich in herzlicher Freundschaft liebe.
Ich möchte aber auch die Flüchtlinge geehrt wissen, die sich mit einem Hungerstreik in der Hessischen Gemeinschaftsunterkunft Schwalbach gegen eine Verlegung nach Sachsen-Anhalt wehren. Todbleiche Gesichter haben mich am Donnerstag Abend nach elf Tagen ohne Nahrung angeblickt. Der Schrecken ist mir in die Glieder gefahren, die Kantine, in der wir in der Anwesenheit von Ministerpräsident Eichel und Frau Staatssekretärin Sellach vor zwei Wochen einen ökumenischen Gottesdienst gefeiert haben, könnte für sie zur Sterbebaracke werden. Die Rettung dieser Flüchtlinge verlangt, wenn es trotz Intervention der Kirchen in Magdeburg nicht zu einem Einlenken von Sachsen-Anhalt kommen sollte, notfalls ein Staatshandeln jenseits von Gesetzen, die seit mehr als zehn Jahren nur der Abwehr und Abschreckung von Flüchtlingen dienen.
Die Bundesregierung hat vor einigen Tagen noch einmal eine abschreckende Akte für diese Abschreckungspolitik gesetzt, als sie die Asylbewerber ausdrücklich aus dem politischen Auftrag für die Nachfolgerin von Frau Funcke herausgenommen hat. Welches Menschen- und Politikverständnis steht dahinter, wenn in einer Situation, in der große gesellschaftliche Anstrengungen gemacht werden, Flüchtlinge vor Terror-Schwadronen zu schützen, 300.000 bedrohte Menschen aus dem Schutzauftrag der Ausländerbeauftragten ausgesondert werden?
Zum Abschreckungskonzept gehört auch der neueste Asylkompromiß von Bonn. Auf ihrem Sonderparteitag haben sich die Hessischen Sozialdemokraten in wichtigen Punkten von dem Bonner Asylkompromiß mit seinen Sammellagern (englisch: concentration camps), Schnellverfahren und Blitz-Deportation abgesetzt. Danach soll es keine Sammellager, sondern „sozialverträgliche Gemeinschaftsunterkünfte“ geben, die allgemeine erkennungsdienstliche Behandlung von Asylbewerbern wird abgelehnt, auch soll nach einer Entscheidung durch einen Einzelrichter eine Zulassungsrevision möglich bleiben.
Niedersachsen hat mit einer Groß-Annonce in der heutigen Tagespresse für eine humane Asylpolitik votiert und den unseligen Asylkompromiß in wichtigen Punkten verworfen. So soll es in Niedersachsen keine Sammellager mit vorgezogener Abschiebehaft geben. Das Land will bis zu 30 weitere Flüchtlingswohnheime mit kleinerer Kapazität schaffen. Flüchtlinge bräuchten keine Schnellgerichte, sondern gerechte und zügige Entscheidungen. Daher will Niedersachsen 32 neue Verwaltungsrichterinnen und -richter einstellen.
Die SPD und die Grünen in den Ländern sind gut beraten, wenn sie sich möglichst deutlich von dem Kompromiß absetzen. Der zwischen CDU/CSU/FDP und der SPD erzielte Kompromiß ist ohnehin rechtsstaatlich und faktisch mit seiner sechs-Wochen-Frist nicht durchsetzbar.
Der Versuch, angesichts der weitergehenden und sich sicher noch verstärkenden Zuflucht nach Deutschland und eines deutlichen Rechtsrucks in Westeuropa als Partei auf dem Boden des Grundgesetzes zu bleiben, wird immer schwieriger. Parteien, die sich dieser Schwierigkeiten noch bewußt sind, bekommen eine deutliche Unterstützung durch eine verstärkte Bürger-, Friedens- und Menschenrechtsbewegung. Für sie war der 9. November 1991 ein bedeutsamer Tag, an dem vielleicht erstmals die Erinnerung an die Reichspogromnacht zur Bewältigung einer aktuellen historischen Krise beigetragen hat. Die Agenturen sind aufgrund der Meldungen aus den großen Städten auf 100.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Demonstrationen gekommen. Meiner Einschätzung nach muß man, auf alle Städte und Gemeinden bezogen, von wenigstens 500.000 Menschen ausgehen, die sich deutlich auf die Seite der Flüchtlinge gestellt haben. Vielleicht waren es aber auch 800.000. Das wären 1% der Bevölkerung des großen Deutschland. Vielleicht ist das noch nicht genug, wenn die neue Bewegung nicht die Unterstützung von Großorganisationen wie den Kirchen und Gewerkschaften erhält.
Die Gewerkschaften haben deutlicher noch als die Kirchen ihre neue Solidaritätsaufgabe angenommen. Es war für „Pro Asyl“ vielleicht der größte politische Erfolg, daß der Aufruf des DGB zum Schutz der Flüchtlinge in Abstimmung mit uns erfolgte. Wir sehen darin, daß ein führender Funktionär des DGB-Bundesvorstandes jetzt persönliches Mitglied von „Pro Asyl“ geworden ist, eine bedeutsame Form der Kooperation, wie wir sie bereits seit Jahren mit der IG Metall haben. Die wichtigsten Termine, zu denen „Pro Asyl“ in den letzten Wochen eingeladen wurde, waren Funktionärs- und Vertreterkonferenzen der Gewerkschaften auf Bundes- und Länderebene. Der DGB hat ausdrücklich zur Zusammenarbeit mit der Solidaritätsbewegung für Flüchtlinge aufgerufen. Im neuesten Positionspapier zum Asylrecht und zur Einwanderungspolitik begreift sich die IG Metall auch als Bürger-, Freiheits- und Menschenrechtsbewegung.
Daß die Ehrung am Verfassungstag des Landes Hessen dem Gedächtnis und Vermächtnis eines Gewerkschafters verpflichtet ist, bewegt mich aus den Erfahrungen der letzten Monate, aber auch aus meinem familiären gewerkschaftlichen Hintergrund heraus zutiefst.
Ich danke Ihnen, Herr Ministerpräsident Eichel für die Überreichung der Wilhelm-Leuschner Medaille und Ihnen, meine Damen und Herren, für die Ehre Ihrer Anwesenheit!