TAG DES FLÜCHTLINGS 2000
Umtauschbilanz 1999
Eine Erfolgsstory mit Tücken
Andrea Kothen
Herausgegeben zum Tag des Flüchtlings am 29. September 2000
Herausgeber: PRO ASYL, Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge mit freundlicher Unterstützung von: Deutsche Stiftung für UNO-Flüchtlingshilfe e.V., Deutscher Caritasverband e.V., Interkultureller Beauftragter der Ev. Kirche in Hessen und Nassau, Kirchlicher Entwicklungsdienst der Evangelischen Kirche in Deutschland durch den ABP, Land Hessen.
Der Tag des Flüchtlings findet im Rahmen der Woche der ausländischen Mitbürger/Interkulturellen Woche (24. bis 30. September 2000) statt und wird von PRO ASYL in Zusammenarbeit mit dem Ökumenischen Vorbereitungsausschuß zur Woche der ausländischen Mitbürger vorbereitet.
INHALT
- Grußwort des UNHCR-Vertreters in der Bundesrepublik Deutschland
- Recht statt Willkür
- Fragen und Antworten zum Thema Asyl
- Nichtstaatliche Verfolgung als Asylgrund
- Bosnische Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland
- Härtefallregelungen im Ausländergesetz – längst überfällig und dringend nötig
- Bad Grund – statt Mitgefühl Stigmatisierung
- » … wir sollen euch davon nichts sagen … «
- Von der Krankheit zum Tode – ein Sondereinsatzkommando erschießt einen Flüchtling
Beispiele und Anregungen
- Umtauschbilanz 1999
- »Sie denken, dass wir Bettler sind«
- Gelebte Demokratie
- Größtmögliche Gemeinheit
- Die Fluchtwohnung
- »Langer Atem«
- Das längste Kirchenasyl in Niedersachsen ging nach 941 Tagen zu Ende
- Protest gegen die Verweigerung von Abschiebungsschutz für eine Kranke
- Rage against Abschiebung
- Denkzettel
- Schüler setzen sich für Flüchtlingsfamilie ein
- Flugblatt
- Medizinische Flüchtlingshilfe erhält Preis
- Betreuung ohne Krankenschein
- »In diesem Garten kann ich reisen«
- Rückkehrdruck à la Bayern
- »Wie Schlachthof oder Leichenhalle«
- Eltern haften ohne ihre Kinder
- Von Deutschland in den türkischen Folterkeller
Die Hildesheimer Umtauschinitiative gründete sich im Herbst 1998, als die Einführung von Gutscheinen in der Stadt absehbar war. Zeitgleich mit der Gutscheinumtausch-Einführung im März 1999 begann der organisierte Umtausch. Wir hatten im Vorfeld für die Umtauschaktion geworben und so von potenziellen Umtauscher/innen Zusagen für rund 10.000,- DM zusammen. Außerdem hatten verschiedene Leute Darlehen zur Verfügung gestellt, um mit dem Umtausch überhaupt erstmal beginnen zu können. Was die Umtauschmöglichkeit für Flüchtlinge anging, hatten wir uns eine Begrenzung auf 100,- DM für Familien und 50,- DM für Einzelpersonen vorgenommen.
Drei Tauschmöglichkeiten sollte es pro Monat geben: Im Asyl e.V., bei der Caritas und im Kinderschutzbund.
Die Feuertaufe
Schon zum ersten Termin, den wir mit Hilfe von Flugblättern und Mundpropaganda bekannt gemacht hatten, kamen weit über 50 Flüchtlinge in den Asyl e.V. Die Menschen, die gekommen waren, um ihr Bargeld gegen Gutscheine zu tauschen, stellten eine nahezu verschwindend geringe Minderheit dar. Es herrschte heillose Überfüllung, z.T. standen die Leute auf der Straße im Regen und warteten, bis sie dran waren. Rund 4.000,- DM wurden getauscht, dann war die Bargeldkasse leer. Die vier Initiativenmitglieder, die den Umtausch durchführten, gerieten durch den großen Andrang schwer ins Schwitzen. Nach zwei Stunden kratzten sie ihr letztes privates Bargeld zusammen, niemand sollte umsonst gekommen sein. Beim zweiten und dritten Termin waren wir dann gewappnet: Jeweils rund 5.000,- DM wurden umgetauscht, im ganzen Monat knapp 15.000,- DM. 170 Umtauschvorgänge für Flüchtlinge hatte es gegeben.
In den Stolz über den durchschlagenden Erfolg unseres Angebots für die Flüchtlinge mischte sich heimlich die Angst vor der eigenen Courage: Wir hatten Gutscheine für 15.000,- DM getauscht, ein abgeräumtes Konto und einige tausend Mark Schulden bei den Menschen, die Darlehen zur Verfügung gestellt hatten. Das zugesagte Umtauschgeld war längst noch nicht vollständig da. Konnten wir uns darauf verlassen, dass die Abnehmer/innen Wort hielten? Und konnten wir darüber hinaus Gutscheine für 5000,- DM loswerden, für die keine Zusagen vorlagen? Wir konnten. Drei Tage vor Ablauf des Monats März waren alle Gutscheine weg und die Bargeldkasse wieder im Plus. Einfach war das freilich nicht. Über die allgemeine Werbung hinaus waren wir auf Festen und politischen Veranstaltungen, in Cafés und Kneipen, in Supermärkten und auf der Straße und haben versucht, Leute für den Gutscheinumtausch zu motivieren.
Ende des Monats herrschte große Erleichterung und Freude, die Feuertaufe war geglückt – nicht zuletzt durch den hohen, an Enthusiasmus grenzenden Einsatz einzelner Privatpersonen, die ihren gesamten Freundes- und Bekann- tenkreis mit Gutscheinen beglückten (und dies nach wie vor tun).
Sommerloch und Preisverleihung
Im April kamen fast ein Drittel mehr Flüchtlinge als im März. Schon nach dem zweiten Termin hatten wir über 18.000,- DM umgetauscht. Der dritte Umtauschtermin im April musste ausfallen, da kein finanzieller Spielraum mehr vorhanden war. Im Mai kamen schon beim ersten Termin so viele Flüchtlinge zur Caritas, dass es seitdem nur noch einen einzigen Termin pro Monat gibt. Kamen zu Beginn des Umtausches schätzungsweise 100 verschiedene Flüchtlingsfamilien zu den drei Terminen, so steigerte sich diese Zahl bis Ende des Jahres 1999 auf 210 Flüchtlingsfamilien.
Parallel dazu entwickelte sich die Bereitschaft der Hildesheimer/innen zum Gutscheinumtausch erfreulich: Mindestens 180 Personen tauschen inzwischen regelmäßig um, weit über 200 haben sich mindestens schon einmal beteiligt. Dabei sind die gar nicht mitgerechnet, die außerhalb unserer Initiative tauschen: So manche/r erleichtert Bekannten oder Nachbar/innen über das kleine Tauschgeschäft den Alltag. Auch untereinander unterstützen sich die Flüchtlinge: Wir wissen z. B. von Arabisch sprechenden Menschen, dass ein regelrechtes Hilfsnetz gegründet wurde.
Ende August erlebten wir erstmals eine herbe Enttäuschung: Nur gut die Hälfte der Gutscheine waren umgetauscht. Gründe dafür waren wohl der nachlassende Eifer beim Umtausch »auf der Straße«, die Veranstaltungsflaute, die Semester- bzw. Schulferien und die Urlaubszeit. Mangels Bargeld mussten wir den neuen Umtausch für Flüchtlinge im Folgemonat ausfallen lassen. Nicht alle Flüchtlinge erreichte die traurige Nachricht rechtzeitig. So manche/r legte den Weg mit Bus oder Fahrrad aus dem Landkreis umsonst zurück.
Nach dem Sommerloch ging es ab Oktober wieder richtig los und der Umtausch erreichte neue Rekordhöhen: Im Dezember 1999 konnten im Zuge eines besonderen Weihnachtsaufrufes 26.000,- DM eingetauscht werden.
Die Verleihung des Preises »Demokratie leben« durch den Deutschen Bundestag am 6. Dezember war ein außerordentlicher Höhepunkt und brachte einen neuen Motivationsschub.
Bürokratie, Gerechtigkeit und politische Arbeit
Die hohe Beteiligung am Umtausch stellt angesichts der »Nachfrage« nach Bargeld durch die Betroffenen ohne Zweifel einen großen Erfolg dar, auch wenn der skeptische Hinweis erlaubt sein muss, dass z. B. eine dreiköpfige Familie mit 100,- DM Bargeld im Monat nicht weit kommt: 10,- DM allein für den Bus zum Umtauschort in der Stadt, 50,- DM die Rate an den Rechtsanwalt, 12,- DM für ein zehnminütiges Telefonat in die Heimat, 50,- DM das Essensgeld im Kindergarten, … – stopp, das war schon zu viel.
Problematisch ist, dass der Umtausch bei der Caritas z. T. bürokratische Züge annimmt. Geld wird gezählt und bemessen, der Modus festgelegt (»Nur 100,- DM. Geben Sie uns doch die kleinen Scheine«), Umtauscher/innen wird ihr Platz in der Reihe zugewiesen, Warteschlangen werden abgearbeitet. Wen wundert’s, dass da die erklärte Abgrenzung der Umtauschaktion zum Behördenhandeln nicht recht deutlich wird – sowohl in der eigenen als auch erst recht in der Wahrnehmung durch die Flüchtlinge.
Bei den Treffen der Initiative wurden Diskussionen über die »gerechte Verteilung« des Umtauschgeldes geführt:
Wie viel soll eine Familie tauschen dürfen, wie viel eine Einzelperson? Sollen oder können wir einen Unterschied zwischen Leuten mit und ohne Taschengeld machen? Zwischen Stadt- und Landkreis-Tauschern? Zwischen kleinen und großen Familien? Können wir Ausnahmen machen? Für wen? Wollen oder können wir den »Mehrfachtausch« kontrollieren, unterbinden?
Da stellt sich für manchen die Frage, ob wir unsere Kräfte weiter in einer derartigen Aktion binden wollen, die offensichtlich wenig effizient und mit unangenehmen Nebenwirkungen sich politischen Entscheidungen entgegenstemmt und die eigentliche politische Arbeit in den Hintergrund zu schieben droht.
Zwei Argumente können m.E. dagegen vorgebracht werden:
Die zahlreichen dringenden Anfragen von Flüchtlingen machen deutlich, dass auch ein kleiner Bargeldbetrag weiterhilft. Von den schätzungsweise 700 im Landkreis betroffenen Familien haben sich inzwischen rund ein Drittel schon einmal an die Umtauschinitiative gewendet. In besonderen Situationen kommen immer wieder Flüchtlinge hilfesuchend in den Asyl e.V.:
Um den kranken Bruder besuchen, einen Deutschkurs bezahlen, das Bußgeld wegen Verstoßes gegen die Residenzpflicht abstottern zu können. Aus der »Aktion mit Symbolwert« ist längst ein Selbstläufer geworden, dessen Nutzen zu Recht eingefordert wird.
Darüber hinaus hat der Gutscheinumtausch aber auch als politische Aktion seinen Sinn: Im öffentlichen Druck wachsenden Widerstands. In der bekennenden Solidarität mit dem 1 % der Be- völkerung, das man durch demütigenden Entzug von Lebenschancen und Rechten aus dem Land treiben will, weil man es nicht hinauswerfen kann. Ziel der Umtauschinitiative war und ist nach wie vor die Wiederabschaffung des Gutscheinsystems und mit ihm aller Sondergesetze gegen Flüchtlinge. Die Öffentlichkeitsarbeit der Initiative ist nicht nur die Begleitmusik zum Umtausch, sondern Programm. Sie ist als politische Arbeit im engeren Sinn auf die öffentliche Wirkung des Umtausches angewiesen. Dass der Umtausch selbst ein Politikum darstellt, ist an der aufgeregten und teilweise verblüffend heftig geführten Diskussion in der Stadt Hildesheim überdeutlich geworden. Solange es uns gelingt, die Diskussion über die Lebensumstände von Flüchtlingen lebendig zu halten, solange hat auch der Umtausch darin seinen Platz.
und Umtauschinitiative Hildesheim, c/o Asyl e.V., Lessingstr. 1, 31135 Hildesheim.
Die beiden folgenden Texte sind der Broschüre entnommen, die zum Preis von DM 8.- bei Asyl e.V. Hildesheim bezogen werden kann.