Hessischer Rundfunk Frankfurt
Woche vom 2. – 7. Januar 1967
RADIO KURZPREDIGTEN
Toleranz
Die religiösen Anschauungen eines anderen aufs Korn zu nehmen, bleibt immer noch ein reizvolles, wenn auch zweifelhaftes Vergnügen bei Kantinengesprächen und beim Büroplausch, erst recht, wenn man so ein „armes Würstchen“ vor sich hat, das beileibe nicht in der Lage ist, auf kritische Fragen zu antworten oder gezielten Seitenhieben zu parieren. Meist kommt dem so Angegangenen nur ein Schuß angeborener Naivität zu Hilfe. Es mag wirklich eine geistige Überlegenheit des Angreifers vorliegen, offenbart er aber auch eine menschliche Überlegenheit? Fehlt nicht neben dem Mitleid gegenüber einem unbeholfenen Zeitgenossen auch der Respekt vor einer ernstzunehmenden Sache?
Ginge es bloß um die Einhaltung der simpelsten Formen von Toleranz, so wäre nicht weiter darüber zu reden. Es erhebt sich aber die Frage, ob da, wo religiöse Überzeugungen zum Nachteil des einzelnen oder der Gemeinschaft ausschlagen, wo sie den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen widersprechen, ja wo sie den Fortschritt hemmen – ich erinnere nur an die heiligen Kühe in Indien – ob da nicht eine Pflicht besteht, rigoros vorzugehen, auch mit dem Seziermesser bissiger Kritik.
Vor etwa zehn Jahren, machte sich eine Gruppe von Bergsteigern unter Leitung von Charles Evans an die Erstbesteigung des Kantschindzonga Himalaya. Aus der Entfernung muß dieser Achttausender einen überwältigenden Eindruck machen. So wird verständlich, daß die Sikkim ihn als Sitz der Götter verehren. Ihr größtes Anliegen war es, keines Menschen Fuß möge den Gipfel des heiligen Berges betreten. Sie nahmen daher Evans das Versprechen ab, die Spitze des Berges nicht zu ersteigen. Evans gab das Versprechen – und hielt es. Kurz vor dem Gipfel kehrte er mit seiner Gruppe wieder um.
Ich glaube, nur ein begeisterter Bergsteiger kann ermessen, was für ein Verzicht das für diese Männer gewesen sein muß; denn das erhebende, einmalige Gefühl – so wenigstens verstehe ich es aus meiner Froschperspektive -, einen Berg bezwungen zu haben, wofür manche sogar ihr Leben aufs Spiel setzen, stellt sich nur beim Betreten des Gipfels ein. Die Achtung vor der religiösen Auffassung der wissenschaftlich weit unterlegenen Sikkim hat sie dieses Opfer bringen lassen. Hätten sie sich doch bemühen können, diesen braven Leuten zu erklären, wie töricht es ist, an Götter zu glauben und an die Vorstellung, sie bewohnten Bergeshöhen.
Die Bergsteiger haben darauf verzichtet, als moderne Aufklärer aufzutreten. Damit haben sie selbst auf ein großartiges Bergerlebnis verzichtet; verzichtet habe sie außerdem auf wissenschaftlich sicher höchst interessante Messungen. Und doch, so möchte ich behaupten, haben sie dem menschlichen Fortschritt einen beachtlichen Dienst erwiesen, ganz abgesehen von ihrer bergsteigerischen Leistung. Sie haben, um ein Bild zu gebrauchen, nicht die heiligen Kühe der Sikkim geschlachtet. Vielleicht kamen ihnen Zweifel, ob die im Westen gezüchtete heilige Kuh des Fortschritts bereits fortschrittlich genug ist, um sie als vollwertigen oder gar als besseren Ersatz gelten zu lassen.