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TAG DES FLÜCHTLINGS 1999

Tödliche Fehleinschätzungen:
Deutschland und der Kosova-Krieg

Michael Stenger

Materialheft zum Tag des Flüchtlings am 1. Oktober 1999

Herausgeber: PRO ASYL, Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge
mit freundlicher Unterstützung von: Deutsche Stiftung für UNO-Flüchtlingshilfe e. V., Deutscher Caritasverband e. V., Interkultureller Beauftragter der Ev. Kirche in Hessen und Nassau, Kirchlicher Entwicklungsdienst der Ev. Kirche in Deutschland, durch den ABP, Land Hessen

Der Tag des Flüchtlings findet im Rahmen der Woche der ausländischen Mitbürger/ Interkulturellen Woche (26. September bis 2. Oktober 1999) statt und wird von PRO ASYL in Zusammenarbeit mit dem Ökumenischen Vorbereitungsausschuß zur Woche der ausländischen Mitbürger vorbereitet.

INHALT

Der Krieg um Kosova hat eine lange Vorgeschichte, die nicht erst mit dem Zerfall des ehemaligen Jugoslawiens beginnt. Dieser Text allerdings beschäftigt sich lediglich mit der Politik Deutschlands, das in der Phase der Auflösung des Staates eine wichtige Rolle spielte. Die deutsche Jugoslawienpolitik der Kohl-Genscher-Ära reagierte auf die existierenden Zentrifugalkräfte des Gesamtstaates und die daraus entstehenden Unabhängigkeitsproklamationen neuer Nationalstaaten mit einer übereilten Anerkennungspolitik gegenüber Slowenien und Kroatien. KosovoGleichzeitig wurden die nach der jugoslawischen Verfassung von 1974 mindestens ebenso berechtigten Unabhängigkeitsbestrebungen der kosova- albanischen Seite von der Bundesrepublik Deutschland vollkommen ignoriert.

Die wahrscheinlich größte Chance, den längst virulenten Konflikt in Kosova zu deeskalieren, wurde in Dayton verpaßt. Aus heutiger Sicht erscheint es als naiv und unverantwortlich, daß das Thema Kosova aus der Tagesordnung der Konferenz ausgeklammert blieb, obwohl kosova-albanische Politikerinnen und Politiker seine Einbeziehung forderten. Die Dynamik der kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem Boden des ehemaligen Jugoslawiens hätte die Schlußfolgerung nahelegen müssen, daß sich Milosevic, dessen Aufstieg zur Macht Ende der 80er Jahre in Kosova begann, erneut diesem Schauplatz zuwenden würde, flankiert von paramilitärischen Verbrechertruppen wie denen Arkans und extrem nationalistischen Kräften. In Dayton aber wurde die jahrelange Repression in Kosova ausgeblendet. Die Nichtbehandlung des Themas konnte das Regime als Freibrief zur Fortsetzung seines anti- albanischen Kurses interpretieren. Weder die vorangegangene verfassungswidrige Aufhebung der Autonomie Kosovas noch die bereits zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses von Dayton zu beobachtende Praxis permanenter Menschenrechtsverletzungen gegen die albanische Bevölkerungsmehrheit wurden Gegenstand ernsthafter Überlegungen der westeuropäischen Staaten – es hätte deren Bosnienpolitik gestört. Grundlage dieser Politik war die Überzeugung, man müsse alles unterlassen, was den brüchigen Frieden in Bosnien gefährden könnte. Genau dieselben Überlegungen führten schließlich zur Anerkennung der Bundesrepublik Jugoslawien (bestehend aus Serbien und Montenegro), die ohne die Einbeziehung der Kosova- Problematik politisch unverantwortlich war. Zwischen Dayton und dem Ausbruch des Krieges liegen nochmals Jahre, in denen Europa den jahrelangen, weitgehend gewaltfreien Widerstand der albanischen Bevölkerung wohlwollend und passiv bleibend zur Kenntnis nahm, ohne sehen zu wollen, daß die Bereitschaft der Bevölkerung von Kosova, sich auf eine Opferrolle reduzieren zu lassen, zu Ende ging. In Abgrenzung von der gescheiterten Politik der LDK (Demokratischer Bund Kosovas) griff nun die Überzeugung Raum, daß man sich selbst zur Wehr setzen müsse. Große Teile der breiten, bis dahin weitgehend gewaltfreien kosova- albanischen Bewegung standen nun hinter der Konstituierung der militanten Befreiungsarmee UCK. Kaum trat diese Bewegung auf den Plan, war man hierzulande schnell bei der Hand, sie in der Ecke des blanken Terrorismus einzuordnen, so auch das Auswärtige Amt in einem Lagebericht vom März 1998. Das Schicksal von Binnenvertriebenen und Flüchtlingen interessierte auch die deutschen Innenminister kaum. Die Ablehnung kosova- albanischer Antragstellerinnen und Antragsteller im Asylverfahren und ihre Abschiebung blieb auf der Tagesordnung. Dies ging auch so weiter, als die er sten großen Massaker in Likoshan und Prekaz (zwei nahe beieinander gelegene Dörfer in der Region Drenica) Ende Februar/ Anfang März 1998 bereits geschehen waren. Die Abschiebungspolitik Deutschlands spielte den Tätern in die Hände.

Ein Beispiel: Mit Hilfe des Rechtshilfefonds von PRO ASYL unterstützte der Bayerische Flüchtlingsrat eine in Neustadt an der Donau (Bayern) lebende und von der Abschiebung bedrohte Familie, deren Vater beziehungsweise Großvater nach der Abschiebung aus Deutschland ermordet worden war – nach offizieller serbischer Verlautbarung als „Terrorist“. So übernahm es auch kurz darauf das Bayerische Innenministerium und präsentierte es der deutschen Öffentlichkeit: Eine höchst interessante Allianz der Öffentlichkeitsarbeit zwischen Milosevic und Beckstein. Es stellte sich jedoch heraus: Der ermordete „Terrorist“ war ein herzkranker, 74 Jahre alter Mann, den man aus dem Kreise der Familie herausgerissen, in Abschiebungshaft genommen und im Dezember 1997 schließlich abgeschoben hatte. Da wäre er gerade noch in der Lage gewesen, ein Gewehr als Krückstock zu benutzen. Die Abschiebung, so das Bayerische Innenministerium vor und nach der Abschiebung, sei nach Pristina erfolgt. Die Recherche des Bayerischen Flüchtlingsrates ergab anderes: Der alte Mann landete nicht in Pristina, sondern auf dem berüchtigten Militärflughafen von Nis in Serbien. Dort wurde er bereits bei seiner Ankunft mißhandelt, weil er nicht die gewünschten Antworten geben konnte auf die Frage nach der Auslandstätigkeit seines in Bayern lebenden Sohnes. Zehn Wochen Lebenszeit blieben ihm nach der Abschiebung. Dann wurde er in seinem eigenen Haus als „Terrorist“ ermordet. Der Asylfolgeantrag der noch in Bayern lebenden Familienangehörigen wurde zunächst anerkannt, der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten legte jedoch Widerspruch ein. Die Familie wartet seit Monaten auf das Ende des Alptraums und die Gewährung von Asyl.

Während sich diese schrecklichen Ereignisse zutrugen, klagten im März 1998 der Bayerische Innenminister Beckstein (CSU) und sein niedersächsischer SPDKollege Glogowski, die Rückkehrbereit schaft der Flüchtlinge aus dem Kosovo sei „äußerst gering“.

Am 9. März 1998 bat die Hohe Flüchtlingskommissarin der Vereinten Nationen (UNHCR) die europäischen Staaten dringend, keine abgelehnten Asylsuchenden aus Kosova in die Bundesrepublik Jugoslawien zu schicken. Am4. Mai wurde dieser Appell an die Regierungen wiederholt – erfolglos.

Am 11. März 1998 schrieb das Auswärtige Amt in einer aktuellen Ergänzung des Lageberichts zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Bundesrepublik Jugoslawien: „Auch nach den jüngsten Ereignissen im Kosovo ist grundsätzlich nicht mit einer gezielten Verfolgung von rückkehrenden Kosovo- Albanern durch staatliche Organe zu rechnen. Ihre Gefährdung unterscheidet sich nicht von der aller anderen Bewohner des Kosovo mit albanischer Ethnie.“ Weil alle gleich gefährdet sind, ist also niemand gefährdet. Weil noch Albanerinnen und Albaner in Kosova lebten, meinte man, allen den Schutz versagen zu können. Oder, wie es die Verwaltungsgerichte formulierten: Die Verfolgungsdichte reichte noch nicht aus. Abschottung und Abschiebung blieben Politikersatz. Auch außenpolitische Initiativen erfolgten zaghaft und unentschlossen. Noch bis in den Spätherbst hinein wurden kosova- albanische Flüchtlinge aus Deutschland blindwütig abgeschoben. Diese Abschiebungen geschahen im Rahmen des deutsch-jugoslawischen Rückführungsabkommens. Das MilosevicRegime wurde als korrekter Partner bilateraler Verträge und als Garant dafür akzeptiert, daß keine Menschenrechtsverletzungen an Rückkehrenden stattfin den. Mit deutscher Billigung und vertraglich verbrieft durften jugoslawische Sicherheitskräfte die Abzuschiebenden bereits auf deutschen Flughäfen in ihre „Obhut“ übernehmen. Anstelle einer effizienten Überwachung von Menschenrechtsverletzungen (die über die OSZE hätte erfolgen können) begnügte man sich mit einer Pseudostruktur, einem „Expertenausschuß“ zur Durchführung des Abkommens, bei dessen Sitzungen deutsche Ministeriale ihre serbischen Counterparts in diplomatischer Höflichkeit gelegentlich mit Fällen konfrontieren durften, in denen Mißhandlungsvorwürfe von Rückkehrenden laut geworden waren. Die Antwort der jugoslawischen Seite kann man sich denken. Viele Albanerinnen und Albaner – auch in Deutschland – verloren die Hoffnung auf eine friedliche Lösung oder eine politische Unterstützung ihrer Anliegen von außen. Das Bekanntwerden systematischer Mißhandlungen an Rückkehrenden ließ auch bei den in Deutschland lebenden Kosova- Albanern die Bereitschaft wachsen, sich mit gewalttätigen Mitteln zur Wehr zu setzen. Zahlreiche kosova- albanische Flüchtlinge entzogen sich ihrer Deportation in die eskalierende Situation dadurch, daß sie auf eigene Faust ausreisten und sich wenig später der UCK anschlossen.

Entgegen aller Appelle von Nichtregierungsorganisationen, keine Abschiebungen in den beginnenden Krieg vorzunehmen, schlugen die Volksparteien im deutschen Wahlkampf ganz andere Töne an. Im Wörterbuch der innenpolitischen Hardliner tauchte das Thema „Kosova“ nur unter „Abschiebung von Straftätern“ auf. Der deutsche Wahlherbst: Ein Wettlauf der Parteien um das effizientere Abschieben. Fluchtursachenbekämpfung – nie gehört.

Trotz deutlich sichtbarer Eskalation in Kosova blieb der Weg lange frei für weitere, wenn auch unter dem Druck der Ereignisse reduzierte Abschiebungen. Mehrere Bundesländer (Berlin, Bayern, Nordrhein- Westfalen und Niedersachsen) hatten keinerlei Probleme damit, bis in den Sommer 1998 hinein auch Abschiebungen größerer Gruppen fortzuführen. Bayern war immer dabei. Auf Nachfrage der Medien waren es dann Straftäter gewesen, die man da so schnell wie möglich und in geheimen Aktionen abgeschoben hatte, bevor noch irgendwelche Menschenrechtsquerulanten eingreifen oder wenigstens Gegenargumente zu Gehör bringen konnten. Auch gerichtliche Entscheidungen waren dieser bayerischen Abschiebungspolitik nicht unbedingt ein absolutes Hindernis. So wurde beispielsweise der Kosova- Albaner Asman Morina am 12. August 1998 um 17.22 Uhr vom Flughafen Nürnberg abgeschoben, obwohl der zuständige Ansbacher Verwaltungsrichter die Innenbehörden und die zuständigen Stellen am Flughafen um 15.10 Uhr angewiesen hatte, diese Abschiebung sofort auszusetzen. Eine solche Verabschiedung von rechtsstaatlichen Gepflogenheiten bleibt in Bayern straflos. Eine Strafanzeige des Bayerischen Flüchtlingsrates gegen Innenministerium, Bundesgrenzschutz und Ausländerbehörde wurde pünktlich zum Kriegsbeginn in Kosova von der Staatsanwaltschaft in Fürth zurückgewiesen. Anhaltspunkte für eine gerechtfertigte Strafverfolgung hätten sich keine ergeben. Niemand kann für nichts etwas. Der Abgeschobene ist wieder in Deutschland, allerdings um eine unnötige und bittere Erfahrung reicher: Nach seiner Abschiebung hat man ihn zweimal mißhandelt. Es gelang ihm, nach Deutschland zurückzufliehen. Sein Asylfolgeantrag ist vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge bereits wieder abge lehnt worden. Auch er hatte übrigens Strafantrag gegen seine rechtswidrige Abschiebung gestellt.

Dem Abschiebungsfuror eines (bayerischen) Innenministers muß nicht nur die Justiz weichen. Auch europäische Gremien werden in ihre Schranken verwiesen. Unter dem zunehmenden Druck der Verschärfung der Situation in Kosova hatte der Europäische Rat am 15. Juni 1998 in Cardiff ein Landeverbot für jugoslawische Fluggesellschaften auf EUFlughäfen beschlossen, das nach der Veröffentlichung im Amtsblatt am 8. September 1998 in Kraft trat. Da das Rückführungsabkommen mit Jugoslawien nur die Beförderung mit der jugoslawischen Fluggesellschaft JAT zuließ, waren Abschiebungen seitdem faktisch unmöglich. Nicht jedoch für den Bayerischen Innenminister. Er suchte Wege, das EUEmbargo zu unterlaufen und schob zwei Wochen später als „Testballon“ einen kosova-albanischen Flüchtling via Frankfurt und Zürich nach Belgrad ab. Der Schweizer Umweg sollte die EUMaßnahme ins Leere laufen lassen und einen Rückführungsweg offenhalten. Derselbe Bayerische Innenminister, dessen Einsatz jahrelang der effektiven Abschiebung von Kosova-Albanern galt, fand im März 1999 nichts dabei, die NATO- Bombardements in der Region zu einer Variante der humanitären Hilfe zu adeln. Flüchtlinge allerdings, die dann immer noch oder schon wieder flohen, die sollten doch besser in der Region notversorgt werden. Über Elend und Unmoral der deutschen Asylpolitik ist alles gesagt, wenn man sich vor Augen führt, daß die Anerkennungsquoten für Flüchtlinge aus Kosova (die den Großteil der in der Statistik unter „Bundesrepublik Jugoslawien“ erfaßten Fälle ausmachen) bis Ende letzten Jahres kontinuierlich gesunken sind und die deutschen Verwaltungsgerichte teilweise noch bis in das Jahr 1999 hinein weder besondere Gefährdungen noch ein Verfolgungsprogramm erkennen konnten. Nur Wochen später sahen sich deutsche Politiker dann offensichtlich genötigt, Bomben als das einzige Mittel zur Verhinderung einer sonst unabwendbaren humanitären Katastrophe größten Ausmaßes zu legitimieren. Plötzlich erklärten der deutsche Verteidigungs- und Außenminister sowie der Kanzler unisono, der sich abzeichnende Völkermord sei von langer Hand vorbereitet worden. Also doch: Ein Verfolgungsprogramm. Asylrechtlich: Gruppenverfolgung. Der Rest: Tödliche „Fehleinschätzungen“.

Michael Stenger ist Sprecher des Bayerischen Flüchtlingsrates

Einblick in die Vorgeschichte des Konfliktes gibt die Broschüre „Kosovo/ Kosova- Fluchtursachen, Asylpraxis, Materialien zur Rückkehrgefährdung“, die bei PRO ASYL bestellt werden kann. Sie berücksichtigt die Ereignisse bis Frühjahr 1997.


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