HESSISCHER RUNDFUNK
ABT. KIRCHENFUNK
Redaktion: Norbert Kutschki
26.4.1978
SOUTHALL
EIN LONDONER „WALLFAHRTSORT“
Vom 14.-21. April hielt sich der Verfasser mit seinem Kollegen, dem Ausländerreferenten des Generalvikariates von Münster, Johannes Rabanser, in London auf. Unmittelbarer Anlass war die Teilnahme an der „Europäischen Konferenz über Fragen ausländischer Arbeitnehmer in Europa“. Ein weiteres Ziel war es, Eindrücke über die Integration eingewanderter Minderheiten in Großbritannien und die Übertragbarkeit auf Deutschland zu gewinnen.
RESSOURCEN
siehe auch: Multirassisches London
Brennpunkt englischer Einwanderungsprobleme ist die 7,5 Millionenstadt London. Dort leben 40 % der ethnischen Minderheiten Englands aus Indien, Pakistan, Bangladesch, Ostafrika, Westafrika und von den Westindischen Inseln.
Aus London sind Rassenunruhen bekannt geworden, hier ist auch die politische Bühne für die Agitation der rechtsextremen Nationalen Front, die eine Repatriierung der farbigen Einwanderer befürwortet; hier ist auch der Ausgangspunkt für die Warnungen von Frau Thatcher, der Chefin der Konservativen Partei, es könnte zu einer kulturellen Überfremdung kommen.
In London gewinnen wir, zwei Referenten für die nichtdeutschen Katholiken in den Bischöflichen Behörden von Münster und Limburg, erste Eindrücke von der Rassenmischung und -integration. Wir besuchen Bischof Mahon, den katholischen Weihbischof von Westminster. Er ist Experte für die Einwanderung der schwarzen Bevölkerung aus der Karibik. Von ihm hören wir erstmals den Namen: Southall, ein Londoner Stadtteil. Der Bischof avisiert uns telefonisch bei dem dortigen Pfarrer Michael Hollings für Sonntagsgottesdienst und Lunch. „Wenn Sie die Rassenintegration in Kirche und Gesellschaft studieren möchten“, so sagt Bischof Mahon, „dann müssen Sie nach Southall gehen“.
Unser Ausflug dorthin ersetzt fast eine Reise nach Indien, Pakistan oder nach Jamaika. Mehr als die Hälfte der in Southall ansässigen Bevölkerung stammt aus den genannten Regionen. Sie hat diesen Londoner Stadtbezirk zum Testfall einer multirassischen Gesellschaft gemacht. Hier konzentrieren sich auf engstem Raum die verschiedensten Rassen und Religionen. Die Kinos kündigen ihre Filme in den neu-indischen Sprachen Pandschabi und Urdu an. In den Auslagen der Geschäfte sind die kostbarsten Saris des ganzen Vereinigten Königreiches zu finden. Die Lebensmittelgeschäfte führen die Original-Gewürze des Indischen Subkontinents.
In der Hauptstraße kommen wir an einem Hindu-Tempel vorbei. Familien mit Kindern, die in National-Trachten gekleidet sind, strömen dorthin. Einen Straßenzug weiter können wir eine feierliche Zeremonie der Sikh-Gemeinschaft beobachten. Ehrwürdige Greise richten unter Gebeten und Segensformeln eine Fahnenstange auf. Ein junger Mann mit dunkelgrünem Turban und rotem Punkt auf der Stirn erklärt uns, hier werde ein neues Gebäude für ihre Glaubensgemeinschaft in Besitz genommen.
Drei Sikh-Zentren und fünf Hindu-Tempel gibt es in Southall. Ein Hindu-Tempel steht auf dem Gelände der Katholischen Pfarrei, wo eben der zweite oder dritte Vormittags-Gottesdienst begonnen hat. Zwei dunkelfarbige und ein weißer Ministrant stehen bei Pfarrer Hollings am Altar. Eine rassisch gemischte Schola leitet den Gesang der Gemeinde, die von ihrer Kleidung und Hautfarbe her bunt zusammengewürfelt ist. Ganz selbstverständlich kommen hier Christen zusammen in der gleichen Gemeinde und nicht in verschiedenen Nationalpfarreien. Ein pfingstliches Ereignis! Die Kirche, ein Zeichen der Einheit aller Menschen!
Am nächsten Morgen bringt das IV. Hörfunkprogramm von BBC London eine 45-Minuten-Sendung über Southall. „Ein Platz der Hoffnung!“: Pfarrer Hollings wird in der Sendung von einem Sikh als „the most holy man“ – der sehr heilige Mann – bezeichnet. Southall hat vor zwei Jahren seine große Bewährungsprobe bestanden. Ein Sikh-Junge war von Weißen auf offener Straße ermordet worden. Schlimme Rassenunruhen waren zu befürchten. Damals wandten sich die religiösen Führer der Sikh an Pfarrer Hollings. Mit ihnen und den anderen christlichen Gemeinden, aber auch mit politischen Gruppierungen zusammen, organisierte er eine Woche später einen Friedensmarsch. Die einzige Parole lautete: „Es gibt nur eine Rasse, die Rasse der Menschen“.
Seit diesem Tag sind die Rassen und Religionen in Southall noch stärker zusammengerückt. Southall ist tatsächlich ein Platz der Hoffnung geworden, der Wallfahrtsort derer, die sich politisch und kirchlich für eine multirassische Gesellschaft einsetzen.
FOTOS
Fotos: Herbert Leuninger