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HERBERT LEUNINGER ::: ARCHIV RADIO KURZPREDIGTEN 1967 ::: ARCHIV KIRCHE 1967 :::
Zuspruch am Morgen

Hessischer Rundfunk Frankfurt
Woche vom 18. – 23. September 1967

RADIO KURZPREDIGTEN

Richten und gerichtet werden


Die Frage, ob in der Hölle ein Feuer brennt, hat die Menschen viel weniger beschäftigt als die Frage, nach welchen Gesichtspunkten ein letztes Urteil über das Leben eines Menschen gefällt wird. Außerdem ist immer wieder das Problem aufgetaucht, ob ein Mensch überhaupt so schlecht sein könne, daß er – für den Fall, es gäbe eine Hölle – , in diese geraten müßte.

Letzteres ist für Dante Alighieri in seiner „Göttlichen Komödie“ eine selbstverständliche Voraussetzung. Das Inferno, durch das er geführt wird, ist voller Menschen der verschiedensten Kategorien. Unter ihnen sind bekannte Persönlichkeiten seiner Zeit, nicht zuletzt auch Päpste.

Wir staunen über die Unbefangenheit, Menschen in die Hölle zu versetzen und sogar noch einzelne mit Namen aufzuführen. Dahinter steckt, ausgesprochen oder unausgesprochen die Meinung, wir hätten die Maßstäbe, um einen Mitmenschen beurteilen zu können.

Wesentlich vorsichtiger verhält sich der Landsmann Dantes, der Dichter Giovanni Papini. Er starb im Jahre 1956. Nach seinem Tode bezeichnenderweise wurde ein Buch von ihm mit dem Titel „Weltgericht“ veröffentlicht. In ihm sind 350 Repräsentanten der Menschheit aufgeführt, Menschen, die gelebt haben und die in die Geschichte eingegangen sind und Menschen, die Papini frei erfunden hat. In seinem Weltgericht wird kein Urteil gesprochen. Die Darstellung beschränkt sich nämlich auf eine Phase vor dem letzten Urteilsspruch. Die 350 Menschen, die für die ganze Menschheit stehen, erhalten die Möglichkeit, sich vor einem Chor der Engel zu verantworten und gegebenenfalls ihre Entschuldigungen vorzubringen. Diese Möglichkeit wird vor allem von denen in Anspruch genommen, die als „Übeltäter“ in die Geschichte eingegangen sind. Sie wissen vielerlei vorzubringen, was erklären soll, warum sie so und nicht anders gehandelt haben.

Besonders interessant ist es, die Entschuldigungen der Persönlichkeiten zu lesen, die uns noch unmittelbar bekannt sind, Es ist deutlich zu spüren, wie Papini sich bemüht, jedem Menschen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Entscheidend für seine Einstellung ist schließlich, daß er sich selbst jeden Urteils über die anderen enthält. Daher könnte man über sein Werk auch die Überschrift setzen: „Richtet nicht (…) !“

Noch einen Schritt weiter geht dann der zeitgenössische Dichter Jean Anouilh. Für ihn findet das Jüngste Gericht einen überraschenden Abschluß. Die Auserwählten stehen bereits erwartungsvoll am Himmelstor. Jeden Moment kann es sich öffnen, damit sie eintreten. Da geht unter ihnen ein unglaubliches Gerücht um: „Der göttliche Richter wird auch den anderen verzeihen!“ Mit den anderen sind die Bösen gemeint. Daraufhin sind die Guten aufs Äußerste erregt. Sie geraten dermaßen in Zorn und Empörung, daß dem Herrn nichts anderes übrig bleibt, als sie alle in die Hölle zu stürzen.

Hiermit ist deutlich ausgedrückt, was ich zu bedenken geben möchte. Uns fehlen die Maßstäbe zu urteilen. Wenn wir es wagen zu verurteilen, haben wir uns selbst verurteilt. Die Aufforderung „Richtet nicht!“, ist nur die eine Hälfte der biblischen Mahnung. Die andere Hälfte gehört wesentlich dazu: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!“


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