Flughafen fast ohne Flüchtlingskinder.
Seit Einführung der Visumpflicht landeten
nur noch 34 Minderjährige auf Rhein-Main.
Auf dem Frankfurter Flughafen kommen kaum noch Flüchtlingskinder an, nachdem Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU) vor gut drei Monaten die Visumpflicht für alle nach Deutschland einreisenden Minderjährigen verfügt hat. Was der Bundesgrenzschutz (BGS) auf Rhein-Main als „Erfolg“ wertet, ist für die Flüchtlingshilfeorganisation Pro Asyl ein „Desaster“.
Während es 1996 noch 528 Kinder und Jugendliche waren davon 413 Kurden -, zählte der Bundesgrenzschutz (BGS) seit Inkraftreten des Kanther-Erlasses Mitte Januar dieses Jahres nur noch 34 Minderjährige, die von ihren Angehörigen mit falschen Pässen oder Visa in Maschinen nach Frankfurt gesetzt wurden, um hier Schutz zu finden. Unter ihnen waren laut BGS nur noch zwei kurdische Kinder.
Für BGS-Sprecher Klaus Ludwig ist dies „ein Erfolg der Neuregelung“. Vertreter der Flüchtlingshilfeorganisation Pro Asyl, die sich jetzt mit Ludwig zu einem Gespräch über die Behandlung unbegleiteter Minderjähriger trafen, werteten diese Zahl hingegen als „Trauerspiel“. Statt die Fluchtursachen von Kindern und Jugendlichen vor allem aus den Kurdengebieten in der Türkei zu beheben und diplomatische Spielräume zu nutzen, würde „mit der Visumpflicht vor allen Dingen den Schleusern geholfen, daß ihre Geschäfte gehen“, wie Günter Burkhardt, Geschäftsführer der Organisation, sagte.
Die Auseinandersetzungen haben eine Vorgeschichte: Bereits seit Anfang der 90er Jahre übt Pro Asyl immer wieder Kritik in diesem Punkt am Bundesinnenministerium (BMI) und dem BGS. Die Behandlung unbegleiteter, minderjähriger Flüchtlinge war früher kein öffentliches Thema. Die wenigen, die über den Flughafen einreisten, wurden in die Obhut des Frankfurter Jugendamts gegeben, das über ihr weiteres Schicksal entschied. Die politisch Verantwortlichen in Bonn sahen sich unter Zugzwang gesetzt, nachdem ab 1988 im iranisch-irakischen Krieg Hunderte zumeist begüterter iranischer Familien ihre Kinder in Flugzeuge setzten, damit sie nicht an die Front geschickt wurden. 1991 wurde erstmals eine Visumpflicht für minderjährige Ausländer verfügt. Ausgenommen waren damals Personen aus den ehemaligen sogenannten Anwerberstaaten wie etwa die Türkei.
Die Visumpflicht konnte nicht verhindern, daß schon bald danach in großer Zahl tamilische Kinder und Jugendliche aus Sri Lanka ohne Begleitung auf Rhein-Main landeten, die von ihren Eltern vor den Bürgerkriegswirren im Heimatland geschützt werden sollten. Hinzu kamen in den vergangenen Jahren ebenfalls Hunderte junger kurdischer Flüchtlinge.
Die ehemals so selbstverständliche Zusammenarbeit mit dem Frankfurter Jugendamt stagnierte. Zumal, nachdem Mitte 1993 der Asylkompromiß in Kraft trat und das verkürzte Flughafenverfahren für Asylbewerber eingeführt wurde. Der BGS ließ zunächst von den Ärzten der Flughafenklinik bei Zweifeln über das tatsächliche Alter der Kinder und der Jugendlichen deren Handwurzelknochen röntgen, um festzustellen, ob die Betreffenden älter als 16 Jahre und damit „asylmündig“ waren.
Das Verfahren führte zu massiven Protesten von PRO ASYL. Die Organisation hielt diese Art der Altersbestimmung für unwissenschaftliche und ungenau. Sie konnte sich dabei auf Gutachten zahlreicher Orthopäden stützen. Schließlich kapitulierten die Mediziner der Klinik vor ihren berufeneren Standeskollegen. Der BGS unternahm einen letzten Versuch, diese Röntgenuntersuchungen von einem Professor des Höchster Krankenhauses machen zu lassen. Als dies publik wurde, gingen die Grenzschützer dazu über, von eigenen Leuten das Alter der Minderjährigen schätzen zu lassen.
„Auch dieses Verfahren“, sagte BGS-Sprecher Ludwig jetzt bei dem Gespräch mit den Vertretern von Pro Asyl, „haben wir aufgegeben und gehen nach den Altersangaben in den Pässen. Nur noch in Fällen, in denen die Diskrepanz zwischen diesen Angaben und dem tatsächlichen Eindruck eklatant ist, schätzen wir.“
Ludwig beteuerte: „Wo auch nur ein Ansatz für ein Schutzersuchen eines Minderjährigen erkennbar ist, entscheiden wir uns für die Einreise.“ So habe es bisher gereicht, wenn ein Kind oder ein Jugendlicher nach der Ankunft geäußert habe: „Soldaten waren da“ oder „unsere Schule wurde abgebrannt“.
Von den 528 Minderjährigen, die 1996 auf dem Frankfurter Flughafen landeten und bei denen Fluchtgründe möglicherweise in Betracht gekommen seien, habe man 328 sofort als Schutzsuchende anerkannt und nach Kontaktaufnahme mit deren hier lebenden Verwandten, dem Jugendamt und der Bestellung von „Ergänzungspflegern“ einreisen lassen. Nach der genauen Prüfung der verbliebenen 200 Fälle habe man sich 107mal für die Einreise entschieden. 93 Kinder und Jugendliche seien wieder in ihre Heimatländer zurückgeschickt worden. Die 34 Kinder, die nach dem Kanther-Erlaß vom Januar dieses Jahres angekommen seien, befänden sich inzwischen ebenso im Inland. „Im Zweifel“, so der BGS-Sprecher, „entscheiden wir uns für das Kind.“
Nicht ohne Grund würden deshalb jetzt die vom BGS bereits Anfang der 90er Jahre im Terminal 2 eingerichteten zwei Kinderräume, in denen minderjährige Flüchtlinge vorübergehend untergebracht und betreut würden, kaum noch genutzt.
pro-Asyl-Geschäftsführer Burkhardt zeigte sich sichtlich irritiert, daß bei diesen „minimalen Zahlen“ Bundesinnenminister Kanther überhaupt diesen Erlaß herausgegeben habe. „Das ist doch kein Top-Thema für die öffentliche Diskussion“, meinte er. Kanther habe groß angekündigt, damit die Schleusertätigkeit bekämpfen zu wollen. „Mit seinem Erlaß hat er genau das Gegenteil erreicht.“
Sein Kollege Karl Kopp rügte: „Bei den Schutzersuchen unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge gibt es eine juristische Grauzone. Es hängt von Einzelpersonen beim BGS ab, ob sie die Flüchtlinge einreisen lassen oder nicht.“ In diesem Zusammenhang erinnerte er an die Fälle von drei kurdischen Kindern, die vom BGS zurückgewiesen worden waren, obwohl deren Väter vor dem Transit am Flughafen gestanden hätten und einer der Männer sogar schon in Bayern als Asylberechtigter anerkannt worden sei. „Die Abklärung“, so Kopp, „ob ein Minderjähriger hier bleibt oder zurückgeschickt wird, darf nicht am Flughafen erfolgen egal wie liebevoll die Kinderräume des BGS hergerichtet sind.“
Sowohl er als auch Burkhardt plädierten dafür, die Minderjährigen in allen Fällen dem Jugendamt zu übergeben. Zudem müßte der Gesetzgeber Sicherungen einbauen, die die Zurückweisungsmöglichkeiten bei diesen jungen Flüchtlingen verringere. „Schutz und Rechtsschutz“, meinte Burkhardt, „sind im jetzigen Verfahren nicht möglich. Die Haager Kinderschutzkonvention darf keine höhere Priorität haben als das deutsche Ausländerrecht, was faktisch der Fall ist.“ BGS-Sprecher Ludwig wollte dies nicht kommentieren. Dies seien politische Fragen, die nicht in seine Kompetenz fielen.