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TAG DES FLÜCHTLINGS 1997

Europa nutzt die baltische Sehnsucht
nach neuen Grenzen

Beat Leuthardt

Seit Mai 1996 sperrt eine Sondereinheit die Hauptfluchtroute nach dem Westen

Eingreiftruppe, Abschiebelager, Rückschaffung: Litauen rüstet im Kampf gegen die Flüchtlinge seine Grenzen auf – mit Hilfe von Westgeld. Das Land will damit die Voraussetzungen für eine Aufnahme in die EU schaffen. Eine Reportage von der litauischen Ostgrenze zu Weißrußland.

Eigentlich begann unsere Reise nach Ostlitauen in Bonn. »Einwanderer aus der ganzen Welt streben zu uns nach Deutschland, mehrere hunderttausend Personen sind derzeit in den Warteräumen von Moskau, Minsk und Kiew«, hörten wir im Innenministerium zum wiederholten Mal. Und: »Vier von fünf Illegalen, die durchkommen, fangen wir an unseren Ostgrenzen ab.« Im Vorjahr waren es 23.779 Personen. Die meisten hätten die Anreise über die GUS-Staaten, über Rußland und Osteuropa versucht, da gebe es keine Grenzkontrollen, dafür große Bestechlichkeit, und eine Zusammenarbeit mit den dortigen Behörden sei für deutsche Beamte kaum denkbar: »Unser erster Verbündeter auf der Ost-West-Route ist Litauens Grenzpolizei«, und im Stil des freundlichen Onkels: »Gehen Sie hin, schauen Sie sich um, sprechen Sie mit meinen dortigen Kollegen.« Und wir gingen hin.

Die grüne Ostgrenze

Vom östlichsten Punkt Litauens aus, einer Art Hochplateau mit Kartoffeläckern, die fingerartig ins weißrussische Gebiet hineinragen, wirkt die Sicht klar und rein, der steife Wind holt die versteppten Weiten von Belarus auf Griffweite heran.
Schauen wir uns diese grüne Ostgrenze doch einfach mal aus der Nähe an. Sie verläuft fast ausschließlich in einem einzigen Wald- und Sumpfgürtel von mehreren Kilometern Breite, in einer Länge von 650 Kilometern – in etwa so lang wie der Rhein vom Bodensee bis Bonn.
Bis vor fünf Jahren gingen die Menschen hin und her wie über eine Grenze zwischen den Bundesländern, erst jetzt setzen sich die Grenzpolizeichefs von Litauen und Belarus an einen Tisch und handeln aus, welcher Flurweg, welcher Naturbach künftig die neue Landesgrenze bilden soll.
Geschnappt werden Illegale allerdings hier und jetzt. Jährlich mehr. 378 waren es noch 1992, im Vorjahr bereits 2.073, und 1996 soll es nochmals einen massiven Anstieg geben, »dabei zählt unser Volk bloß 3,7 Millionen Menschen«, erläutern uns die Kader der litauischen Grenzpolizei unisono. Wir machen den Test und pirschen uns auf schmalen Weglein kilometerweit in den tiefen Wald – bloß um überall auf gutgerüstete litauische Patrouillen zu stoßen und auf ihre Posten, die sie in sicherer Distanz zur Belarus-Grenze, wo immer sie auch sei, gelegt haben. Wie um alles in der Welt läßt sich da unbemerkt durchkommen aus Richtung Weißrußland, wie es offenbar tausendfach geschieht?

Die Arbeit für den Westen

Dann stehen wir in Medininkai. Auf den Landkarten aus der Sowjetzeit ist an der Stelle ein kleines Dorf im Niemandsland verzeichnet. Wir aber befinden uns an einem Autobahnübergang von und nach Belarus. Inmitten von improvisierten Bürocontainern, drinnen spärliche Möbel. Feuchte beschlägt den Raum, denn draußen regnet es in Strömen, und auch die behelfsmäßig auf dem Grenzareal eingerichteten Eternitdächer vermögen niemand so richtig zu schützen, am wenigsten die Vor-Kontrollposten, an denen die Fahrzeuge schon früh gestaut werden.
Vor uns liegen mehrere hundert Meter Öde, die bis zum belarussischen Grenzposten reicht,wir malen uns Selbstschußanlagen aus, aber soweit läßt es hier ja wohl niemand kommen, schließlich sollen die Kontrollen ja nach westeuropäischem Muster ablaufen. Kommandant Aleksejus Blistivas lacht über unsere Andeutungen. »Schauen Sie, alles was wir hier brauchen, wären etwas mehr Fahndungscomputer und Funkgeräte, doch unser Staat ist arm und kann seine Arbeit für den Westen nicht allein verrichten.«
Sein Kollege Rimautas Simonavicius, der die Einsätze an der grünen Grenze kommandiert, wird es uns später bestätigen, doch, doch, den Fahndungs-Großcomputer der EU mit Namen »Schengen« habe er schon einmal gesehen, »toll«. Die Offerte des deutschen Computermultis Siemens-Nixdorf, derzeit beim litauischen Innenministerium hängig, kennt er nicht. Ihr Titel: »Einrichtung eines Grenzterminalsystems nach Schengen-Muster«.

Nein, ein schlanker EU-Übergang westlicher Prägung ist Medininkai nicht, bei ganzen 525 Fahrzeugen, die pro Tag durchgelassen werden, nach stundenlangen Grenzkontrollen und Schikanen, auch wenn Heerscharen von Grenzpolizisten den westlichen Medienleuten ein freundliches Bild vermitteln wollen und Kommandant Simonavi´cius die kilometerlangen Fahrzeugschlangen in beiden Richtungen mit dem Mangel an Fahndungscomputern rechtfertigt.

Die Mobile Eingreiftruppe

Dann treffen wir auf sie, und erst noch mit offizieller Hilfe, in der zwanzig Kilometer westlich der Grenze gelegenen Hauptstadt Vilnius.
»Kommen Sie, ein großer Fang«, ruft uns die Sprecherin der Grenzpolizei – das harzige Interview auf der Kommandantur ist gerade beendet – hinterher. Später schubst sie uns ins obere Stockwerk eines Rohbaus außerhalb der Stadt, der, noch ohne Strom, Verputz und dichte Fenster, zwei Dutzend Flüchtlinge beherbergt.
Die starren uns entgeistert oder apathisch entgegen, sie zählen uns offenkundig zu den Ermittlungsbeamten, welche den Raum restlos verstopfen, und wir sind wie so oft beschämt. Am übernächsten Tag werden uns im Abschiebelager von Pabrade ihre Geschichten aufwühlen.
Jetzt endlich klärt sich auch, warum die Grenzbevölkerung keine Festnahmen von »Grenzverletzern« erlebt. Vitautas Sidlauskas, 42, untersetzt und auffallend beleibt, ist in Litauen Leiter der geheimnisumwitterten Mobilen Eingreiftruppe gegen »Grenzverletzer und andere Kriminelle im Rahmen der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität«. Nach langem Nachfragen gewährt er uns ein Interview. Eine Task Force habe die Fluchtströme aus dem Osten durch Litauen hindurch Richtung Polen und Deutschland in den Griff gekriegt. »Wenn sich in Minsk ein Konvoi von Illegalen in Bewegung setzt, kriegen wir sofort Bescheid und beobachten jede ihrer Bewegungen«, sagt Sidlauskas stolz, »in unserem Landschlagen wir dann zu.« Die Arbeit seiner Sondereinheit habe dazu geführt, »daß wir seit Mai dieses Jahres nahezu hundert Prozent aller Grenzverletzer abfangen«. Keine einzige Gruppe von Illegalen sei mehr über die Westgrenze nach Polen weitergelangt.
Er wendet sich an uns Journalisten: »In Zukunft werden kaum noch Illegale über unsere Transitroute den Weg zu euren Grenzen finden.« Sein Credo könnte einem rechtslastigen Blättchen entstammen: »Die Grenzverletzer sind unser großes Problem. Sie mißbrauchen auf ihrem Weg aus dem Osten nach Deutschland unser Land als Korridor. Das sind Kriminelle, die man greifen muß und zurückschicken oder, falls dies nicht möglich ist, halt in die Abschiebehaft stecken, bis wir mit ihrem Heimatstaat klarkommen.« Fluchtgründe? »Das braucht uns nicht zu interessieren, denn Grenzverletzung gehört bestraft.«

Das Abschiebelager

Pabrade liegt hinter Kasernenmauern und wurde bis Ende 1996 vom Leiter einer Militärpolizeieinheit – Alfonsas Jocys, 40 – geführt. Zwischen 200 und 300 Personen sind, während wir es besuchen, im Abschiebecamp, darunter einige Familien mit Kindern. »Kriminelle«, wie Jocys uns ungefragt wissen läßt, »Kriminelle, die wir durchfüttern müssen.« In unseren Ohren wird das während sieben Stunden anders klingen.
Sahra Tarhvedi (Namen geändert) beispielsweise, eine jugendlich wirkende, hochgewachsene Frau mit blonder Frisur, klagt den Iran an: »Sie haben mir meinen Coiffeursalon geschlossen, mein westlicher Friseurstil war ihnen nicht genehm.« Ein Paar von Mitte fünfzig, sie wirblig und wütend argumentierend, er ein gebrochener Mann, reicht uns ihre sinnlos gewordenen Visitenkarten: »Dr. Meshi und Dr. Sami Nerada, lawyers, Kabul«. Ihr Advokaturbüro stand zehn Jahre lang unter Beobachtung, jetzt gibt es kein Recht mehr in Afghanistan und keine Zukunft mehr für sie.
Der junge Tamile Salasingham sagt, er sei in Jaffna wiederholt in Haft genommen worden. Auch die Geschichten der irakischen Kurdenfamilie, die uns in ihren Raum zerrt, um uns endlich von ihrer Odyssee zu erzählen, und jene der Pakistani, Bangladeshi, Azerbaidzani, den Tschetschenen, den Sikhs aus Indien und dem Russen tragen wir hastig in unser Notizbüchlein ein.

Die Kriminalität

Gintaras ˘Svedas wirkt jugendlich und, anders als alle uns bekannten Staatssekretäre in einem staatlichen Justizministerium, echt besorgt: »Die monatelange Haft in Pabrade käme bei den Menschenrechtsinstitutionen in Straßburg nicht durch«, gesteht er offen.
Nur 72 Stunden darf ohne Haftrichter inhaftiert werden. Er rühmt das litauische Asylverfahren und den Beitritt zur Genfer Flüchtlingskonvention. Und er warnt vor einer Kriminalisierung von Ausländerinnen und Ausländern.
Kriminalität ist das Thema Nummer eins im Land. Die Zeitungen berichten täglich groß über Straftaten aller Art – »aufgeblasene Bagatellen«, so der Staatssekretär traurig, »leider auch in den seriösen Zeitungen«. Die Kriminalitätsstatistiken würden ein durchschnittliches Bild ganz im Sinn westeuropäischer Staaten zeigen und »entgegen der öffentlichen Meinung« kaum einen Anstieg bei den Gewaltdelikten.
Und der Bericht des deutschen Bundesnachrichtendienstes? Darin gilt Litauen als Kernland und Schmuggelgebiet der Organisierten Kriminalität (OK). Svedas verweist auf die Sondereinheit der Grenzpolizei. Die zählten ja auch die »Grenzverletzer« und ihre Schlepper zur »OK«, bedeuten wir ihm, der jetzt abwinkt; die Illegalen seien eher arme Schlucker als Drogenschmuggler, und von den Schleppern gebe es halt gar nicht so viel, wie behauptet werde.

Die Rolle der Europäischen Union

Die Task Force läßt das nicht gelten: »Wir stützen uns auf die Lagebeurteilungen und Sachleistungen unserer Kollegen in Westeuropa ab«, rechtfertigt ˘Sidlauskas ihr Tun. Aus der EU gelangen neben den Lagebildern auch einige Morgengaben zum baltischen Kleinstaat: hundert weißgrüne Polizeifahrzeuge aus Deutschland, ein Zollboot aus Stockholm, neun weitere – »ziemlich rostige« allerdings, so die GrenzpolizeiSprecherin – aus Polen. Sechs Millionen Mark bekommen sie zwischen 1992 und 1998 vom Bonner Innenministerium, um eine litauische »Bekämpfungsstruktur« zu unterstützen, welche »Drogenkuriere und illegale Zuwanderer« treffen und »Kontrolldefizite auf dem Land-, Luftund Seeweg ausgleichen« soll. Und daneben helfen Dänemark, Schweden und Deutschland, das Asylverfahren nach westlichem Standard auszubauen.
Auch die hängigen Verschärfungen des Straf- und des Ausländergesetzes von Litauen im Fall von Grenzverletzung sind vom Westen inspiriert. Die Bürgerinnen und Bürger, die wir darauf ansprechen, finden das beruhigend. Sie scheinen ihre Grenzen und ihre Grenzpolizei zu lieben. »Das Territorium muß doch einfach markiert sein«, meint eine Angestellte in Vilnius. »Da würden sich doch sonst bloß finstere Gestalten überall rumtreiben«, meint ein Grenzbauer.
Und selbst die aufgeschlossenen Medienleute des staatlichen Fernsehens werben um Verständnis dafür, »daß wir uns seit 1991 schützen wollen«. Wir bemühen uns darum, eingedenk ihrer Schilderungen vom Unabhängigkeitskampf vor fünf Jahren. Damals war das TV-Gebäude von Sowjetsoldaten heftig attackiert worden. »Zum Schluß, nach blutigen Kämpfen«, erzählt ein alter TV-Fuchs, »blieben 16 Personen tot zurück.« Gründe für Grenzen?

Beat Leuthardt ist Journalist im Pressebüro EuroGrenzen in CH-Basel und D-Weil am Rhein.
Er hat die Bücher »Festung Europa« (1994) und »Leben online« (1996) geschrieben.
Für PRO ASYL war er in Litauen. Recherchen in Osteuropa sind außerdem Teil des Projekts mit dem Titel »An den Rändern Europas«.
Sein Buch als Reisebericht mit dem Titel »Europas neuer Pförtner – Litauen im Schatten des deutschen Asylrechts« und ist beim Förderverein PRO ASYL zu beziehen. Online-Version

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