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Europa in schlechter Verfassung

Auf dem Wege zu einer Grundrechtscharta für Europa?

Von Dieter Oberndörfer

Meine sehr geehrte Damen und Herren!

Ich möchte mich in meinen Ausführungen zuerst mit der fundamentalen Bedeutung des Asylrechtes für das Selbstverständnis des demokratischen Verfassungsstaates befassen. Auf diesem Hintergrund werde ich in einem zweiten Schritt die derzeitige deutsche Debatte über Zuwanderung und Asylpolitik kritisch kommentieren. In ihr geht es letztlich um die Aneignung und Durchsetzung der Offenheit des demokratischen Verfassungsstaates für kulturellen Pluralismus, der Offenheit auch für Fremde und Fremdes. Der Verlauf und Ausgang dieser Debatte hat politische Konsequenzen für die politische Gestaltung Europas. In ihr geht es darum, ob der Bedeutungsverlust seiner Nationalstaaten lediglich zum Aufbau eines sich nach außen hin abschottenden europäischen Nationalstaates oder zur Entsehung einer für Fremde und Fremdes offenen neuen politischen Gemeinschaft führen wird.

Im dritten Schritt wende ich mich der Europäischen Menschenrechtscharta zu. Dabei geht es mir um die Frage, welche Postulate von der neuen Charta erfüllt werden müssen, damit wir von ihr eine nach außen hin offene politische Gemeinschaft Europas und die Liberalisierung der deutschen und europäischen Asylpolitik erhoffen können.

1. Zur Bedeutung des Asylrechtes für den demokra- tischen Verfassungsstaat.

Die Geschichte der westlichen Nationalstaaten wird seit ihren Anfängen in der französischen Revolution und der amerikanischen Staatsgründung von der Spannung zwischen dem Partikularismus der Nation und dem weltbürgerlichen Universalismus der Republik, des demokratischen Verfassungsstaates, bestimmt. Alle heutigen Nationalstaaten sind in jeweils unterschiedlichen Mischungsverhältnissen Nation und Republik zugleich.

Nation steht für das Partikulare, mit dem sich Staaten voneinander abgrenzen, Kollektive nationale Eigenschaften oder Werte, kollektive Kulturen, sind die Partikularitäten, mit denen sich Nationen voneinander unterscheiden und abgrenzen. Sie bilden die politische Substanz der Nation. Ihr müssen sich die Bürger unterordnen, sie bewahren und vor Gefährdungen schützen. Die Nation legitimiert aus ihr die eigene Existenz.

In politischen Gemeinschaften, die sich primär als Nationen verstehen, haben „fremde“ kulturelle Überlieferungen und Werte keinen legitimen Platz. In der Nation ist daher eine Tendenz zur Selbsthomogenisierung angelegt. Legitim sind nur „nationale“ Kulturgüter. So gibt es hier eine nationale Religion oder Konfession, nationale Dichtung, Musik und Malerei, nationale Natur, Kleidung, und Verhaltensweisen.

Im Gegensatz zum klassischen Nationalismus leiten demokratische Verfassungsstaaten die Rechte ihrer Bürger aus der Natur des Menschen und universal gültigen Menschenrechten ab. Sie haben ein weltbürgerliches normatives Fundament. So begründet das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland die von ihm gewährten Grundrechte nicht aus der Würde der Deutschen, sondern aus der Würde des Menschen. Demokratische Verfassungsstaaten, sind wegen ihres eigenen weltbürgerlichen normativen Fundament zum Engagement für den Schutz der Menschenrecht verpflichtet. Sie sind mit Immanuel Kant in der Schrift über den ewigen Frieden langfristig auf eine künftige republikanische Weltkonföderation angelegt. Kant spricht bei dieser Zukunftsperspektive allerdings von Parallelen, die sich erst im Unendlichen treffen.

Bürger der Republik können prinzipiell alle Menschen werden, die ihre Verfassung und Rechtsordnung anerkennen. Somit bedürfen Einwanderung, Einbürgerung und die Gewährung von politischen Asyl letztlich keiner besonderen verfassungsrechtlichen Begründung. Gerade die Gewährung von Asyl und ein humaner Umgang mit Flüchtlingen haben für die Legitimität der Republiken eine fundamentale Bedeutung. Ihre Verweigerung sind eine Absage an ihre eigene weltbürgerliche Wertesubstanz und Zielorientierung.

In der Realität der Politik werden die Gewährung von Asyl und Einwanderung vom Recht politischer Gemeinschaften auf Selbsterhaltung und durch das politisch und sozial Mögliche eingeschränkt. Das Mögliche selbst wird in der politischen Willensbildung und ihren politischen Entscheidung definiert. Dass es Grenzen des „Möglichen“ gibt, ist unbestreitbar. So würde , um ein fiktives Beispiel zu nennen der plötzliche Zustrom von 80 Millionen Einwanderern nach Deutschland politisch und sozial nicht akzeptiert werden. Zugleich aber ist das Mögliche keine exakt und politische Entscheidungen bestimmt, die aus unterschiedliche Einschätzungen wirtschaftlicher, sozialer, politischer und kultureller Faktoren hervorgehen. So wurde nach dem zweiten Wehkrieg die Zuwanderung von 12 Millionen Flüchtlingen in das kleine Westdeutschland politische angenommen. Als jedoch für die 80 Millionen des heutigen Deutschlands 1999 erstmals nach zwei Jahren eines negativen Zuwanderungssaldos wieder ein Zuwanderungsüberschuss von 100000 Menschen registriert worden war, – er ging fast ausschließlich auf das Konto deutschstämmiger Aussiedler – war dies für den bayerischen Innenminister Beckstein ein Signal, um erneut die Abschaffung des Asylrechts im Grundgesetz zu fordern. Deutschland werde wie der Wanderungsüberschuß für 1999 beweise ohne diesen Schritt von Ausländern überflutet.

Ein Zwang auf Abgrenzung, besteht in der Welt der Nationalstaaten in allen politischen Gemeinschaften. Auch in demokratischen Verfassungsstaaten wirken sich auf ihn bei der Definitionen des „Möglichen“, also letztlich auf die Grenzen für Zuwanderung und Asylgewährung, die nationalen Ideologien ihrer Entstehungsgeschichte aus. So wird in Deutschland die Liberalisierung der Asylpolitik und von Zuwanderung nicht zuletzt durch die Überlebenskraft der überlieferten völkischen nationalen Ideologie blockiert. Ihr zufolge ist Deutschland ein Land von Menschen deutscher Abstammung und deutscher Kultur von dem Fremde und Fremdes ausgeschlossen bleiben sollen, – eine Ideologie, die auch durch die Privilegierung deutschstämmiger Aussiedler gegenüber fremdvölkischen Ausländern bei Zuzug und Einbürgerung dokumentiert und indirekt bekräftigt wurde.

Die in allen demokratischen Verfassungsstaaten vorhandene Spannung zwischen weltbürgerlich Grundrechtspostulaten und ihren Abgrenzungen von anderen Staaten und ihren Menschen findet sich auch im Grundgesetz.

So beginnt das GG in Artikel 1 mit den Sätzen: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Das deutsche Volk bekennt sich daher zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht“. In den folgenden Grundrechtsartikeln 2- 5 zu Freiheit der Person, der Gleichheit vor dem Gesetz, der Glaubens – und Meinungsfreiheit wird dieser universale Charakter der Menschenrechte expliziert. So heißt es in Art.2 „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit. ….. .jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, die Freiheit der Person ist unverletzlich. Artikel 3 GG führt aus: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich, Männer und Frauen sind gleichberechtigt, niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“ Art. 5 billigt die Meinungsfreiheit „jedem“ zu. Art. 6 zum Schutz der Ehe und Familie bezieht sich nicht nur auf deutsche Familie. So heißt es „jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft“. Ab Artikel 8 ändert sich dann aber die Sprachregelung. Nun ist im Widerspruch zu den Artikeln 1-3 in den Artikeln zur Versammlungs- , Vereinigungs- – , Berufsfreiheit und Freizügigkeit nur von Rechten für „alle Deutschen“ die Rede. Artikel 11 sagt beispielweise lapidar: “ alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet.“ Im autoritativen Kommentar zum GG von Maunz-Düring wurde die unübersehbare Diskrepanz zwischen diesen sogenannten „Deutschenrechte“ und den allgemeinen Menschenrechten der Artikel 1-3 jahrzehntelang unkritisch und unreflektiert hingenommen,- ein Sachverhalt, in dem sich vielleicht auch der inzwischen bekannt gewordene politische Horizont des Staatsrechtslehrers Maunz ausdrückte.

Die Kluft zwischen den eigenen weltbürgerlichen Grundrechtspostulaten und der politischen Praxi gibt es in allen demokratischen Verfassungsstaaten. Sie ist nie ganz zu überbrücken. Diese Kluft ist in Deutschland in der Einschränkung oder sogar Nichtbeachtung wesentlicher Menschenrechte, vor allem aber von Artikel 1-3 GG zur Grundrechtsbindung staatlicher Gewalt, zur Freiheit der Person und der Gleichheit vor dem Gesetz, gerade in der Ausländer- und Asylpolitik besonders weit und tief. Diese Kluft sollte jedoch wenigstens kritisch als normatives Defizit erkannt und im Rahmen des politisch Möglichen abgebaut werden. Andernfalls verkommen die Grundrechte und ihre weltbürgerliches Fundament „Würde des Menschen“ zur bloßen Rhetorik politischer Festtagsreden. Bei Gegensätzen zur politischen Realität muss ihr moralisch appellativer Charakter als Verpflichtung der Bürger und des Staates zur Humanisierung der Politik wahrgenommen werden. Unvereinbar mit solcher Humanisierung und unvereinbar mit der Wertesubstanz des Grundgesetzes, – sind beispielsweise politische Einstellungen und Parolen, die die Zuwanderung von Ausländern nur noch nach Gesichtspunkten wirtschaftlicher Nützlichkeit regeln und dabei vor allem das Grundrecht auf Asyl wegen solch mangelnder Nützlichkeit vollends beseitigen wollen.

Die fatale Wirkung nationaler Überlieferungen auf das Recht und die Rechtsauslegung demokratischer Verfassungsstaaten dokumentieren sich in Deutschland nicht nur im hinhaltenden Widerstand gegen die Liberalisierung der Zuwanderungs- und Einbürgerungspolitik, sondern gerade auch im Asylrecht und der Asylgewährungspraxis. Die Väter des Grundgesetzes hatten mit dem Postulat „politische Flüchtlinge genießen Asylrecht“ in Artikel 16 einen individuell einklagbaren Anspruch auf Asyl durch die Verfassung geschützt. In der Rechtsauslegung und Rechtssprechung Deutschlands wurde dann jedoch der Begriff des politischen Flüchtlings nur auf Flüchtlinge vor Verfolgung durch staatliche Behörden eingeschränkt. Diese unreflektierte fugenlose Ineinssetzung des Politischen mit dem Staat entspricht den antiliberalen Überlieferungen des kontinentaleuropäischen Staatsrechts. Unter dem Einfluss der Überlieferungen vordemokratischer Fürstenherrschaft und in Deutschland auch der autoritären Staatsmetaphysik Hegels hatte es seit eh und je bei der Unterscheidung von privatem und öffentlichem Recht vor allem den Staat im Blick. Der Staat und nicht die Bürger und seine Rechte sind der Inbegriff des Politischen. Lehrer des öffentlichen Rechts sind Staatsrechtler. Sie sind nicht wie schon Hermann Heller in der Weimarer Republik gegen die damals führenden Staatsrechtler gefordert hatte, Lehrer der Politik, in derem Zentrum neben dem Staat gerade auch die Bürger und ihre Rechte stehen. Mit der Fixierung des öffentlichen Rechts auf den Staat konnte politische Verfolgung logisch nur für Verfolgung durch staatliche Organe und nicht einfach umfassender für Verletzung und mangelnden Schutz elementarer Menschenrechte der Bürger stehen. An der restriktiven Definition politischer Verfolgung als Verfolgung durch Staatsorgane, hat auch die jüngste Entscheidung des BVG zum Asylrecht von Flüchtklingen aus Afghanistan wenig geändert. Nach den mir zugänglichen Berichten begründete das BVG die Ablehnung der bisherigen Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte zu Afghanistan mit der These, dort hätten sich trotz fehlender internationaler Anerkennung des afghanischen Staates im Herrschaftsbereich der Taliban staatsähnliche Organe gebildet. Die von den Taliban verfolgten Afghanen seien daher als politische Flüchtlinge anzuerkennen. Damit bleiben auch weiterhin Flüchtlinge aus Staaten, in denen es, wie in einigen afrikanischen Staaten nicht einmal staatsähnliche Autoritäten gibt, oder auch Flüchtlinge, die wegen ihrer Religion oder Abstammung von ihren Mitbürgern verfolgt und dabei von den nationalen Staatsorganen nicht geschützt werden, außerhalb des Rechtsanspruchs auf Asyl. Innerhalb Europas findet sich eine solche Einengung des Begriffs politischer Verfolgung auf Verfolgung durch den Staat heute nur noch in der Schweiz und in Frankreich. Die Asylgewährungspraxis folgt jedoch dort bei der Gewährung des Flüchtlingsstatus in weit geringerem Umfange der unmenschlichen mit dem menschenrechtlichen Wertefundament unseres Grundgesetzes unvereinbaren und politikfernen Begriffslogik der deutschen Asylrechtssprechung und Praxis.

2. Zur Debatte über Zuwanderung und Asylgewährung in Deutschland und ihrer Bedeutung für die Akzeptanz von Fremden und Fremdem

In einem Entschließungsantrag des Ausschusses des Europäischen Parlaments für Grundfreiheiten und innere Angelegenheiten vom November 1988 heißt es: „Seit einigen Jahren scheinen die Länder Union… alles daran zu setzen, um die Asylbewerber davon abzuhalten nach Europa zu kommen, in dem sie insbesondere die Bedingungen für den Zugang zum Flüchtlingsstatus laut Definition des Abkommens von Genf verschärfen und immer mehr Abkommen über die Rücknahme in Länder abschließen, die nicht in jedem Falle als „sicher“ angesehen werden können. Somit kann von einer Verschlechterung der Asylpolitik in Europa gesprochen werden“.

Die Ursachen der hier beschriebene Entwicklung sind vielfältiger Natur und unterscheiden sich zum Teil von Land zu Land. Fundamental war in den letzten Jahren überall die Stagnation der europäischen Wirtschaft und die dadurch verstärkte Rivalität zwischen Einheimischen und Ausländern auf dem Arbeitsmarkt. In Deutschland fallen die wirtschaftlichen und sozialen Kosten der Vereinigung zusätzlich ins Gewicht. Auf diesem Hintergrund haben sich im Meinungsklima Deutschlands die Einstellungen zu Ausländern, Zuwanderung und Asylgewährung seit Mitte der neunziger Jahre tiefgreifend verändert. Vor allem nach dem Sieg der Union bei der hessischen Landtagswahl und der u. E. falschen Analyse, daß er primär durch ihre Kampagne der gegen die doppelte Staatsbürgerschaft herbeigeführt worden sei, wurden Forderungen nach einer Liberalisierung der Zuwanderung oder der Asylpolitik in beiden großen politischen Lagern zum Tabuthema. Die Führungen der Parteilager standen dabei wohl auch unter dem Eindruck der politischen Erfolge rechtsradikaler Parteien und ihrer ausländerfeindlichen Polemik in verschiedenen europäischen Nachbarstaaten.

Nach der Niederlage der Union bei den Landtagswahlen in Nordrheinwestfalen, den negativen Reaktionen der Öffentlichkeit und Wähler auf die Wahlkampfparole ihres Spitzenkandidaten der Union Rütgers „Inder statt Kinder“ änderte sich allerdings in den Unionsparteien fast über Nacht ihre bisherige schroffe Ablehnung einer aktiven Zuwanderungspolitik. Wie zuvor die Sozialdemokraten in der Rolle der Opposition gegen die Regierung Helmut Kohls verlangten nunmehr auch prominente Vertreter der Union eine gesetzlich geregelte Zuwanderungspolitik. Dabei wurde jedoch nunmehr von gewichtigen Stimmen ein Junktim zwischen der Förderung und Regelung von Zuwanderung und der Abschaffung des Individualrechts auf politisches Asyl hergestellt. Die Bundesrepublik müsse gegen die Überflutung durch Asylbewerber, die „uns ausnutzen“ (Innenminister Beckstein), geschützt werden. Wegen ihrer großen Zahl sei eine weitere Aufnahme nicht mehr verkraftbar. Ihr Zustrom müsse gestoppt und somit der Schutz des individuellen politischen Asylrechts aufgehoben werden. Erst dann sei Raum für „Zuwanderer, die uns nützen“. Da für eine die notwendige Änderung des Asylartikels im Grundgesetz die erforderliche Zweidrittelmehrheit des Bundestages wohl kaum erreicht worden wäre, – auch zahlreiche Abgeordnete der Sozialdemokraten und der Union würden mit Sicherheit dagegen stimmen – wurde mit diesem Junktim jedoch de facto eine hohe politische Barriere gegen die angeblich gewünschte „nützliche“ Zuwanderung errichtet. Auch Innenminister Otto Schily forderte dieses Junktim, obwohl er in einem Spiegelinterview zuvor eingeräumt hatte, dass die erforderliche Mehrheit für die Änderung des Grundgesetzes kaum zustande kommen würde. So ist es wahrscheinlich, dass das Junktim taktisch motiviert war, um weitere Zuwanderung und ein Einwanderungsgesetz ohne politische Blessuren verhindern zu können.

Noch in den neunziger Jahren hatte die Kupierung des politischen Asylrechts durch Schengen und den neuen Grundgesetzartikel 16 a eine heftige und große nationale Debatte ausgelöst. Übergriffe auf Ausländer wurden mit Lichterdemonstrationen unter Beteiligung von Hundertausenden beantwortet. Im Vergleich zu ihnen beteiligen sich heute an Demonstration gegen die zahlreichen mörderischen Übergriffe auf Ausländer nur wenige Menschen. Es wurde berichtet, dass sich am gleichen Tag, an dem sich in einer Stadt ganze 3.000 Menschen zu einer Demonstration gegen rechtsextreme Übergriffe einfanden, am anderen Ort 12.000 Freunde von Kampfhunden gegen deren Verbote demonstriert hatten. Die Zustimmung, die die Vorschläge zur Abschaffung des Rechts auf politisches Asyl jetzt in Teilen der Unionsparteien und Regierungskoalition und sogar bei Innenminister Otto Schily fanden, und die Änderungen im Meinungsklima, die sich in Umfragen in den Einstellungen zu Ausländern abzeichnen, symbolisieren einen moralischen Tiefpunkt der neuen Berliner Republik. Er verdeutlicht, dass die Pflichten, die sich aus den menschenrechtlichen Normen des Grundgesetzes und aus der neueren deutschen Geschichte ergeben, heute nicht mehr von jenem breiten politischen Konsens geschützt werden, der in noch in der Zeit der Bonner Republik bestand.

Charakteristisch für die Debatte zur Aufhebung des Rechts auf politisches Asyl war zudem die geringe Informiertheit der Öffentlichkeit, der Medien und vieler Politiker über das tatsächliche Ausmaß der angeblichen Überflutung Deutschlands durch Asylbewerber und Asylanten. Die meisten Asylbewerber werden ja nach ihrer Aufnahme in kargen Aufnahmestätten wieder abgeschoben. Bezogen auf die Zahl seiner Bevölkerung und die Zahl seiner Asylgewährungen steht Deutschland in Europa nicht an erster, sondern nur an 9. Stelle. In Zahlen ausgedrückt bedeutet dies eine Anerkennung von 8000 – 12000 Flüchtlingen pro Jahr. Für einen wohlhabenden Staat mit 80 Millionen Einwohnern ist dies keine Ruhmestat.

Mit der Polemik des bayrischen Innenministers Beckstein und anderer Unionspolitiker gegen Asylbewerber und Asylanten, „die uns ausnutzen“, wurde die bereits vorhandene Fremdenfeindlichkeit angeheizt. Da hunderttausende abgelehnter Asylbewerber, die sich der Abschiebung entzogen, ihr Leben als „Illegale“ durch Beschäftigung zu Minilöhnen fristen müssen und inzwischen in verschiedenen Wirtschaftsbereichen ein unentbehrliches Schmiermittel ihrer Profitabilität geworden sind, stellt der Vorwurf des „Ausnutzens“ den tatsächlichen Sachverhalt auf den Kopf. Nicht die Deutschen werden von den Asylbewerbern, sondern die große Zahl nicht anerkannter Asylbewerber werden als billige Arbeitskräfte zum Vorteil deutscher Unternehmer, deutscher Bauherren und letztlich auch der deutschen Volkswirtschaft „ausgenutzt“.

In der Debatte über die massenhafte Zuwanderung von Ausländern durch die angebliche Flut von Asylbewerbern wurde zuletzt der Nachdruck auf die „Integration“ der in Deutschland bereits lebenden Ausländer gelegt. Vor weiterer Zuwanderung müssten erst sie einmal integriert werden. Als wichtigste Voraussetzung für die geforderte Integration wurden – so auch im neuen Einbürgerungsrecht – bessere Kenntnisse der deutschen Sprache gefordert. Sie sind für die Teilnahme am politischen Leben und den beruflichen Erfolg sicher wichtig. Ebenso wie materieller oder beruflicher Erfolg verbürgen sie jedoch, wie benachbarte deutschsprachige Länder veranschaulichen, keineswegs eine besonders freundliche Einstellung zu Deutschland und erst recht nicht politische Identifikation mit dem deutschen Staat, also staatsbürgerliche Integration. Dies gilt auch für die Verleihung der Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung Auch sie erleichtert politische Identifikation und soziale Integration, ist aber nicht ihre zwangsläufige Folge.

Weit fundamentalere Bedeutung für die soziale und staatsbürgerliche Integration der Zuwanderer und damit auch für eine liberale Asylgewährung haben das Staatsverständnis der Deutschen selbst und die mit ihm verbundenen Einstellungen

Solange sich das überlieferte völkische Staatsverständnis in den Köpfen hält bleiben Ausländer von der Nation ausgeschlossen. Die völkische Nation geht von der Vorstellung einer homogenen, für alle verbindlich definierbaren und vor Verunreinigung durch fremde Elemente zu bewahrenden „nationalen“ Kultur aus. Der demokratische Verfassungsstaat hingegen versteht sich als Staatsbürgernation, deren normatives Fundament kultureller Pluralismus und kulturelle Toleranz sind. Er schützt in seiner Verfassung die Freiheit des religiösen Bekenntnisses und der Weltanschauung. Die Akzeptanz des kulturellen Pluralismus der Staatsbürgernation und die Absage an die stets fiktive nationale kulturelle Homogenität völkischen Denkens sind die eigentliche geistige Voraussetzung für die Aufnahme von Ausländern und eine liberale Asylpolitik. Daher halte ich die Abkoppelung der Debatte am das Asylrecht von der Zuwanderungsdebatte für einen Fehler. In beiden Fällen geht es letztlich um unsere Einstellung zu Ausländern. Die Absage an Zuwanderung in einem sich demografisch bald entvölkerndem Land ist letztlich in der Ablehnung von Ausländern begründet. Sie wiederum hilft den Gegnern des Asylrechts.

Auf dem Hintergrund des immer noch völkisch geprägten nationalen Selbstverständnisses der Deutschen und ihrer daraus erwachsenden Ängste vor kultureller Überfremdung und „ihrer“ Kultur wird die Forderung nach Integration der Ausländer in die deutsche Gesellschaft von den meisten als Assimilation an die Deutschen und ihre Kultur verstanden. Damit aber richten sich Erwartungen an die Ausländer, die von den wenigsten in dieser oder auch in der nächsten Generation erfüllt werden können. Zeitlich kurzfristige Perspektiven und Postulate für Integration im Sinne der „Einschmelzung“ der Ausländer in die einheimische Mehrheit verstärken daher zwangsläufig erst recht die negativen Einstellungen zu Ausländern.

Und was ist der Bezugspunkt für die Integration, was ist das spezifisch Deutsche? Und was ist der Inhalt der nunmehr von Minister Beckstein geforderten christlichen deutschen „Leitkultur“, in die sich die Ausländer integrieren sollen, bevor sie deutsche Staatsbürger werden dürfen. Wer kann oder darf ihren Inhalt definieren? Ich selbst wäre glücklich, wenn meine Vorstellungen über eine christliche Leitkultur und ihre Konsequenzen für die Asylpolitik von Minister Beckstein geteilt würden. Dies ist, ich lege Wert auf diese Feststellung, nicht der Fall. Wer definiert die für alle verbindliche Leitkultur? Es gibt dafür glücklicherweise keine staatliche Instanz.

Wer die Integration der Ausländer in die deutsche Kultur fordert, müsste die Frage beantworten können: was ist ein integrierter Deutscher? Sind Süd- oder Norddeutsche, Katholiken, Protestanten, säkularisierte kirchlich – konfessionell nicht gebundene Bürger, zum Islam oder Buddhismus konvertierte Deutsche, Akademiker oder Bauern, Mitglieder der SPD oder der CSU jeweils das Modell für Integration und den integrierten Deutschen?. Die Frage nach dem gut integrierten Deutschen und nach den Kriterien für Integration ist auch im Hinblick auf unsere sich in ihren kulturellen Lebensformen und Stilen ständig weiter pluralisierende Gesellschaft nicht zu beantworten. Aber noch mehr: ihre Beantwortung ist auch aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht möglich. Sie steht im Gegensatz zu der durch das Grundgesetz geschützten individuellen Freiheit der Kultur, der Freiheit der Weltanschauung und des religiösen Bekenntnisses, dem Fundament des modernen freiheitlichen Verfassungsstaates. Was die deutsche Kultur für die Bürger bedeutet und wie sie von ihnen definiert wird, dürfen sie individuell entscheiden. Auch Deutsche dürfen sich ursprünglich fremden Religionen und Kulten zuwenden und diese Freiheit liegt im wohlverstandenen langfristigen Eigeninteresse der christlich gebundenen Bevölkerung, – d.h. des Schutzes der Freiheit ihres eigenen religiösen Bekenntnisses gegen Bevormundung durch den Staat oder gesellschaftliche Gruppen. Die Kultur Deutschlands ist die Kultur seiner Bürger. Und diese Kultur ihrer Bürger ist nichts statisches, sie wandelt und pluralisiert sich. Zu einer wie auch immer von einzelnen, von Minderheiten oder Mehrheiten definierten Leitkultur dürfen diese sich bekennen und sie propagieren. Ihre Verbindlichkeit für die Gesamtheit aber darf im modernen Verfassungsstaat nicht vom Staat und seinen Organen gefordert und erzwungen werden. Kulturelle Freiheit muss allen Bürgern- ohne Ansehung ihrer ethnischen Herkunft, ihrer Religion oder Weltanschauung gewährt werden. Dies gilt auch für Zuwanderer und Asylbewerber. Nur dann können sie sich in unseren Staat integrieren und gute Patrioten werden können.

Bei allem aber muss gesehen werden, dass politische Integration im Sinne der Bejahung der politischen und rechtlichen Ordnung des demokratischen Verfassungsstaates eine von jeder Generation und auch von allen, welche die formale Staatsbürgerschaft schon besitzen, stets neu zu bewältigende Aufgabe ist. Politische Integration bleibt immer ein Prozess mit hohen Risiken und möglichen Rückschlägen.

Die Bekämpfung rechtsradikaler Übergriffe auf Ausländer allein durch Polizei, Gerichte und Gesetzgebung reichen nicht aus, um den Nährboden, auf dem sie in der Breite und Tiefe unserer Gesellschaft verwurzelt sind, auszutrocknen. Notwendig sind positive Perspektiven: die Wahrnehmung der möglichen Bereicherung und Vitalisierung unserer Nation durch Fremde und Fremdes. Diese Perspektive aber setzt die Aneignung des weltbürgerlichen normativen Fundaments der Staatsbürgernation und die Akzeptanz des von ihm geschützten kulturellen Pluralismus und kultureller Toleranz voraus. Die Bekämpfung rechtsradikalen Terrors muss zum Signal des Aufbruchs zu einer großen nationalen Debatte über unser Staatsverständnis und dessen Wertefundament werden.

Die Aneignung der Staatsbürgernation und ihres kulturellen Pluralismus ist die große Herausforderung für die sich in Zukunft noch weiter pluralisierende deutsche Gesellschaft. Sie ist auch die geistige Vorrausetzung für die Überwindung der europäischen Nationalismen und die politische Einigung eines neuen nach außen für Zuwanderer und Flüchtlinge offenen Europas.

3. Zur europäischen Menschenrechtscharta und der von ihr erhofften Liberalisierung des Asylrechts.

Das Recht ist keine abstrakte sich immanent und in logischer Sequenz selbst erschaffende Größe. Gerade Im Ausländer- und Asylrecht finden Überlieferungen der jeweiligen politischen Kultur ihren Niederschlag. Änderungen ergeben sich aus Veränderungen der politische Rahmenbedingungen, durch politische Führung und Aufklärung, sowie aus dem politischen Diskurs der Bürger. Daneben kann aber auch die Eigendynamik neuer rechtlicher und institutioneller Regelung den Status Quo verändern. .

Diese Möglichkeit bietet vielleicht die neue europäische Menschenrechtscharta.

Inzwischen liegt ein Entwurf des Konvents für eine europäische Menschenrechtscharta vor. Viele erhoffen sich von ihr eine Magna Charta für die politische Einigung Europas. Für das Asylrecht scheint sie die Chance einer Liberalisierung der bisherigen deutschen Asylgewährungspraxis und einer Vereinheitlichung der Asylpolitik in Europa in sich zu bergen. In Artikel 18 wird das Recht auf Asyl nach Maßgabe der Genfer Flüchtlingskonvention und anderer Übereinkommen garantiert. Artikel 19 verbietet Abschiebungen oder Ausweisungen in Staaten „in dem die Todesstrafe, Folter oder andere unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung droht“.

Ich bin nicht informiert, ob der jetzige Entwurf in der vorliegenden Form verabschiedet werden und ob noch mit wichtigen Änderungen zu rechnen sein wird. Vielleicht kann uns hierzu Frau Claudia Roth informieren. Die Details des vorliegenden Entwurfs werden in den folgenden Veranstaltungen dieser Tagung erörtert werden. Deshalb und da ich mich bei der Interpretation der Bestimmungen der Charta selbst unsicher fühle, möchte ich mich hier auf wenige Fragen an den vorliegenden Entwurf konzentrieren.

1. Im Unterschied zur deutschen Rechtsprechung, die das Grundrecht auf Asyl auf von staatlichen Behörden verfolgte Flüchtlinge einschränkt, begründet die Genfer Konvention den Flüchtlingsstatus und Schutz inhaltlich aus Verfolgung wegen Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen politischer Überzeugungen“. Damit geht sie von einer weit umfassenderen Definition schutzbedürftiger Flüchtlinge aus als die deutsche Rechtssprechung zu Artikel 16 GG. Da die Bundesrepublik Deutschland Mitunterzeichner der Genfer Konvention ist, frage ich, weshalb deren Bestimmungen in der deutschen Asylpolitik bislang nur in sehr eingeschränktem Umfange berücksichtigt wurden. Dies gilt insbesondere für den Abschiebschutz und im Hinblick auf die Bestimmung der Grundrechte in Art.1 GG als unmittelbar geltendes Recht. Ich verweise hier auf die Abschiebung von Flüchtlingen nach Afghanistan, der, wie erwähnt, erst jetzt vom BVG eine Riegel vorgeschoben wurde.

2. Damit stellt sich für mich die weiter Frage, ob oder inwieweit sich mit der Verabschiedung der europäischen Grundrechtscharta die bisherige restriktive Beachtung der liberalen Bestimmungen der Genfer Konvention in Deutschlands wirklich ändern kann (so z.B. Artikel 34 über die Erleichterung und Einbürgerung von Flüchtlingen). Innenminister Otto Schily hat behauptet, dass sich der Schutz von Flüchtlingen nach der Genfer Konvention nur auf Flüchtlinge im Asyl beziehe. Im Klartext bedeutet dieses Verständnis der Genfer Konvention, dass die Anerkennung des Status als Flüchtling im Ermessen der nationalen Behörden verbliebe und sich am bisherigen restriktiven Asylrecht vermutlich wenig ändern würde.

3. Der Geltung der Genfer Flüchtlingskonvention in der nationalen Asylpolitik würde somit erst gesichert werden, wenn die Anerkennung des Flüchtlingsstatus, der zum Asyl berehtigt, tatsächlich nach den Kriterien der Genfer Konvention geregelt und ihre Nichtbeachtung bei Nichtbeachtung durch ein individuelles Klagerecht korrigierbar würde. Wird diese Grundbedingung für die Liberalisierung auch der deutschen Asylpolitik durch die europäische Menschenrechtcharta gewährleistet? Ich bin gespannt auf die Ergebnisse dieser Tagung.


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