Hessischer Rundfunk Frankfurt
Woche vom 7. – 12. Oktober 1968
RADIO KURZPREDIGTEN
Du sollst Dir kein Bildnis machen
„Mit dem ersten Blick weiß ich, mit wem ich es zu tun habe“, rühmen sich mit Vorliebe die sogenannten Menschenkenner. Sehr schnell ist das Bild fertig, das sie sich von ihrem Gegenüber machen, kaum daß der andere das Zimmer betreten und ihnen die Hand gereicht hat. Nichts und niemand kann dieses Bild, daß sie für alle Zeit von ihren Mitmenschen in sich tragen, ändern. Oft lassen sie sich noch wegen ihrer Sicherheit in der Menschenkenntnis bewundern!
Es ist jedoch mehr als fraglich, ob ein Mensch vom andern ein zutreffendes Bild haben kann, am allerwenigsten dann, wenn nicht die Bereitschaft besteht, es ständig zu ändern. Viel Unrecht geschieht, weil man sich seines Urteils über den andern so gewiß ist. In dem Roman von Max Frisch „Stiller“ beschwert sich eine Frau namens Julika bitter bei ihrem Mann: „So also siehst du mich! … du hast dir nun einmal ein Bildnis von mir gemacht, das merke ich schon, ein fertiges und endgültiges Bildnis und damit Schluß. Anders als so, ich spürte es ja, willst du mich jetzt einfach nicht mehr sehen,“ Dann kommt sie auf ein Gebot des Alten Testamentes zu sprechen: „Nicht umsonst“, so fährt sie fort, „heißt es in den Geboten: Du sollst dir kein Bildnis machen! Jedes Bildnis ist eine Sünde, es ist genau das Gegenteil von Liebe. (…) Wenn man einen Menschen liebt, so läßt man ihm doch jede Möglichkeit offen und ist doch trotz aller Erinnerungen bereit zu staunen, immer wieder zu staunen, wie anders er ist, wie verschiedenartig und nicht einfach so, nicht ein fertiges Bildnis, wie du es dir machst von deiner Julika.“ Und fast beschwörend beschließt sie diese Sätze: „Ich kann dir nur sagen, es ist nicht so (…) du sollst dir kein Bildnis machen von mir!“
Diese Gedanken, mit denen Julika bei ihrem Mann um ein besseres Verständnis wirbt, stammen nicht von ihr selbst. Sie verdankt sie nach dem Roman einem jungen Theologen, der diese seinerseits aus dem Studium der Hl. Schrift abgeleitet haben mag. Tatsächlich kennt das Alte Testament ein diesbezügliches Verbot: „Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen von dem, was droben im Himmel oder auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde ist“ (Ex 20,4). Die Juden durften sich demnach kein Bild und keine Figur ihres Gottes schaffen. Damit standen sie auf einer einsamen Höhe der Frömmigkeit gegenüber den Völkern, die um sie herum wohnten. Der unsichtbare und geheimnisvolle Gott, den sie verehrten, war nicht faßbar in menschlicher Vorstellung. Interessant ist, daß sich das Verbot schließlich auf alle Bilder bezog, auch auf Bilder von Menschen.
Vielleicht wird das verständlich, wenn man bedenkt, daß ja der Mensch als Abbild Gottes angesehen wurde. So ist er der „geschaffene Gott“, und sein Bild von ihm ist ähnlich unzulänglich wie ein Bild des ungeschaffenen Gottes. Das ist natürlich eine Auffassung, die über das hinausgeht, was uns die Psychologie von der Vielschichtigkeit und dem Geheimnis des Menschen sagen kann. Immerhin sind wir mit den Erkenntnissen, die uns diese Wissenschaft geschenkt hat, sehr viel vorsichtiger geworden im Urteil über einen anderen Menschen. Je stärker diese Wissenschaft in die Tiefe vorstößt, umso unfaßbarer wird der Mensch. Schon allein diese Erkenntnisse erlauben es uns nicht, ein fertiges Bild vom Mitmenschen zu haben. Erst recht wird uns diese Möglichkeit genommen, wenn wir anerkennen, daß der Mensch einem Gotte ähnlich ist.