TAG DES FLÜCHTLINGS 1991
Die psychischen Folien von Sammellagern
Jean Claude Diallo
INHALT
ZUR DISKUSSION GESTELLT
- Um die Menschenrechte der Amseln ist es schlecht bestellt – zur Flüchtlingskonzeption der Bundesregierung
- Resignation ist keine Alternative: Zu den Ursachen des internationalen Flüchtlingsproblems
- Die Erweiterung des Flüchtlingsbegriffs
- Kinderrechte im Schatten des Krieges
- Die psychischen Folgen von Sammellagern
- Harmonisierungsmaßnahmen von Asylpolitik und Asylrecht innerhalb EG-Europas
- Flüchtlinge in Europa
BEISPIELE UND ANREGUNGEN
- Bausteine für einen Gottesdienst
- Unterbringung von Flüchtlingen durch kirchliche Wohnprojekte
- Aufruf zum Gutscheinumtausch in Recklinghausen
- Wir wollen hier bleiben – Roma-Brief an Rau
- Wo Einheimische und Fremde zueinander finden – das positive Beispiel Reinhardshagen
- Feste feiern mit jungen Aussiedlern
- Die Bundesregierung zur Aussiedlerthematik
- Asyl im Nationaltheater in Weimar
- Keine Abschiebung in die Türkei! Aktionen in Bayern
- Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in Bayern
- Arbeitskreis Flüchtlinge in Sachsen gegründet
- Demonstration für mehr Bewegungsfreiheit
- Wir haben Platz im Boot – Plakataktion gegen Fremdenfeindlichkeit
Ich erinnere mich heute noch sehr gut an eine Tagung, die im September 1979 in Bonn stattfand. Der Titel war „Flüchtlinge und Asylsuchende in der BRD“. Diejenigen, die in der Flüchtlingsarbeit sind, wissen zu schätzen, wie dieser Titel „Karriere“ gemacht hat!
Unter anderen Themen wie Einreise, Aufenthaltsrecht und Sozialhilfe, gab es auch das Thema „Lagerprobleme und dezentrale Unterbringung“. Unter den Referenten gab es einen Mitarbeiter eines Ministeriums, der den Teilnehmern und Teilnehmerinnen klar machen wollte, daß die Einrichtung von Lagern (Sammelunterkünfte oder Gemeinschaftsunterkünfte) unumgänglich ist, weil die Behörden nicht in der Lage sind, sofort geeignete Unterkünfte für die Asylsuchenden zu vermitteln. Damals schon gab es ein Für und Wider dieser Notlösung.
Eindeutige Position der Widersprecher war, daß es abgelehnt werden muß, wenn Behörden die Errichtung von Wohnlagern als Endlösung erwägen.
Es klingt heute noch in meinen Ohren wie Musik, was dieser Ministerialbeamte sagte: „Übergangswohnheime – als notwendiges Übel – sollten tatsächlich Übergangscharakter besitzen. Keinesfalls sollten dort Menschen länger als sechs Monate untergebracht werden. Jeder Tag mehr belastet den Menschen und folglich auch unseren Staat.“
Ich dachte nur ..: prima, die Deutschen müssen es ja wissen.
Auf die Folgen der Lagerunterbringung in psychischer, moralischer und humanitärer Hinsicht brauchten die deutschen Behörden nicht mehr hingewiesen zu werden, da sie die Nachkriegszeit auf die Folgen der sogenannten Lagerpsychose aufmerksam gemacht hat.
So sollten diese Übergangslager laut unserem Beamten „die Unterbringung in menschenwürdigen, familiengerechten und nahe dem Arbeitsplatz befindlichen Unterkünften ermöglichen“. Es gab noch sehr schöne Vorstellungen von dem, was ein Lager sein sollte; zum Beispiel:
- Die Einrichtung in den Lagern sollten einfach sein, jedoch nicht an menschlichen Bedürfnissen vorbei geplant werden.
- Die Lager sollten in überschaubaren Größen eingerichtet werden und die Eigenart der untergebrachten Menschen berücksichtigen.
- Gewisse Kapazitäten der Unterkünfte sollten auf keinen Fall überschritten werden. Gut scheint die Größenordnung von 50 zu sein, tragbar noch die Zahlen 50-100. Jede Unterkunft, die mehr als 100 Menschen beherbergt, ist abzulehnen.
- Das Bestreben jeder Lagerverwaltung sollte sein, die Bewohner möglichst bald in eigenen Unterkünften unterzubringen.
- Es soll nicht geschehen, daß Asylbewerber in abgelegenen Ortschaften ohne jede Arbeitsmöglichkeit und Kontaktaufnahme zu Landsleuten untergebracht werden. Es soll dafür Sorge getragen werden, daß in der Nähe Arbeitsmöglichkeiten vorhanden sind.
- Die Bewegungsfreiheit eines Asylbewerbers darf nicht auf einen Ort beschränkt werden. Es muß ihm eine gewisse Mobilität zugesichert werden, um ihm ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen.
Ja, wie gesagt, es war September 1979 in Bonn! Aber es kam alles ganz anders. Als die Zahl der Asylbewerber Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre zu steigen begann, kamen die Verantwortlichen in Bund und Ländern, unterstützt von Teilen der Presse, auf einen Mißbrauch des Asylrechts zu sprechen.
Es wurden Maßnahmen getroffen, deren Auswirkungen zu einer regelrechten Demontage des Asylrechts führte. Ich will hier nicht auf alle Maßnahmen eingehen. Ich werde auf das zurückgreifen, was ich in Bonn 1979 erlebte. Das, was Übergangslösung sein sollte, sollte auf einmal „Schein- oder Wirtschafsasylanten“ abschrecken und gleichzeitig Kosten für Gemeinden und Länder senken!
Gemeint ist die Unterbringung bzw. Zwangsunterbringung in Sammellagern bzw. Gemeinschaftsunterkünften. Was haben wir damals nicht alles versucht, dies zu verhindern! Kirchen, Wohlfahrtsverbände und Politiker wußten wohl, daß eine solch restriktive Maßnahme die Menschenwürde tief verletzt. Bischof Hengsbach sagte am 19. Nov. 1980: „Aus Erfahrung mit unseren eigenen Flüchtlingsbewegungen wissen wir, daß ein zur Untätigkeit verurteilendes Lagerleben auf längere Zeit die Persönlichkeit und die Familie zerstört.“
Ein verzweifeltes Dasein
Flüchtlinge sind Menschen, die ein schweres Schicksal hinter sich haben; das heißt: sie haben Folter, Gefängnis, traumatische Fluchterlebnisse, Krieg und Hunger hinter sich. Wenn sie in der Bundesrepublik eintreffen, erhoffen sie sich etwas anderes: Ruhe, Sicherheit, Freiheit, – kurz ein menschenwürdiges Leben. Sie wissen aber nicht, was sie vor sich haben.
Das „Neue“ hier läßt nämlich nicht lange auf sich warten. Der Übergang ist brüsk, ohne Anpassungszeit, und plötzlich. Hart treffen sie auf das neue Klima, die neue Sprache, das neue Essen, auf neue Gerüche, neue Lautstärken, neue Ordnungs- und Sauberkeitsniveaus, auf neue Dimensionen von Körperkontakt und Körpernähe bzw. Körperdistanz, auf neue Tageslängen, Einteilung des Tages, auf neue Höflichkeitsformen und Umgangsformen.
Dieses „Neue“ werden Flüchtlinge in geballter und konzentrierter Form zwangsläufig in den sogenannten Sammellagern erfahren.
Ich stimme hier Dr. Friesens zu, wenn er sagt: „Liegt nicht freiwillige, vorbereitete Auswanderung, sondern – gleichsam als gegenteiliges Extrem – überstürzte Flucht unter Riskieren von Leib und Leben, gar Deportation vor, dann treten, – zumal dann, wenn die Opfer in Notunterkünften und Lagern zusammengepfercht werden, – häufig sogenannte Fluchtreaktionen auf: überdauernde Angst vor der Verfolgung, triebhaft anmutende Haltungen der Notwehr, infantil wirkendes Insistieren auf verbliebenen Gewohnheiten und Werten sowie illusionäre Überbewertung des Aufnahmelandes (Dr. Dieter H. Friesen, Psychiatrie Klinik Stuttgart, auf dem Symposium „Krise des Asylrechts“, 15. 03. 1980 in Düsseldorf).
Unsere Erfahrung ist tatsächlich so, daß die ersten Tage im Lager mit Euphorie erlebt werden. Viele Flüchtlinge essen und schlafen zuerst gut. Langsam aber sicher spüren sie die Beschränkung in ihrem Leben.
So fängt allmählich ein sinnloses und trostloses Leben in einer Zwangsgemeinschaft an, die Ängste, Unsicherheit, Aggressionen und Frustrationen als Folgeerscheinungen hervorrufen.
Fest steht, daß die Lebensbedingungen, denen Flüchtlinge in Lagern ausgesetzt sind, in besonderem Maße zu psychischen Schäden und seelischen Folgeleiden führen können. Es kommt inzwischen eine sozialpolitische Wirklichkeit zutage, die mehr als nur bedenklich erscheint. Der soziale Status eines Asylbewerbers in einer Gemeinschaftsunterkunft, gekennzeichnet durch permanente Unsicherheiten und Ängste, stellt bereits einen ständigen psychischen Druck und Konflikt dar.
Was erwartet den Asylbewerber speziell im Lager?
Wir wissen heute, daß viele Gemeinschaftsunterkünfte aus allen Nähten platzen. Angefangen vom Gebäude 183 C am Frankfurter Flughafen über das Lager Schwalbach, bis hin zu anderen Lagern gibt es kaum eine Unterkunft, deren Belegung nicht die zwei- bzw. dreifache Kapazität übersteigt.
Ein Überblick über die Probleme:
Überfordertes Personal: Sowohl die Verwaltung als auch die Sozialbetreuung (sofern vorhanden) können nicht die Schwierigkeiten, die in der Essenz der Lagerproblematik liegen, bewältigen. Auch nicht mit persönlichem, eifrigem Einsatz. Angesichts der Fülle von Aufgaben im Lager und der personellen Unterbesetzung, kann von den Sozialarbeitern und Sozialarbeiterinnen nur Fragmentarisches geleistet werden. Auch ein gut gemeintes Engagement bewirkt das Gegenteil. Wie schon Berthold Brecht sagte: „Das Gegenteil von gut ist gut gemeint“.
Mangelnde Hygiene: Fehlende Sauberkeit in Gemeinschaftsräumen, sanitären Anlagen und in einem Teil der Zimmer durch Verschlampung und Verwahrlosung. (Wenn der andere nicht oder schlecht putzt, warum soll ich es dann tun?)
Die psychosoziale Problematik:
- Zwangsgemeinschaft,
- Permanente Kontrolle und Beurteilung,
- kein Privatbereich,
- sich ständig beobachtet fühlen bis hin zum Voyeurismus,
- Kollision verschiedener Kulturen und sich widersprechender Ansprüche, Einstellungen, Religionen (Moslems, Hindus, Christen, Naturreligionen) und Weltanschauungen,
- ständige Angstsituation (Ungewißheit der Asylgewährung, der Abschiebung), multipliziert mit der Anzahl der Bewohner, die darüber auch reden,
- Aggression gegenüber den aufgezählten unbewältigten Zwängen und existenzbedrohenden Ungewißheiten durch Zerstörung gewisser Lagereinrichtungen (Vandalismus), durch körperliche Angriffe (Massenschlägereien, Messerstechereien), durch Verbalisierungen (Denunziationen, Verleumdungen, Bedrohungen, Erpressungen),
- fehlende emotionale Beziehungen und Eingliederung (niemand interessiert sich für den Menschen X, Y, Z außerhalb seiner Verwaltbarkeit, seiner Produktionskraft, seines Konsumwertes),
- Anonymität (der Mensch als Verwaltungsobjekt),
- die Fremdversorgung, die zu Abhängigkeiten führt.
Die aufgezählten äußeren Konditionen schaffen für den einzelnen Asylbewerber eine ernste Beschädigung seiner Psyche und seiner Physis, die durch innere Konditionierung verstärkt wird.
Es ergibt sich mit der Zeit eine Summe von Frustrationen, Erniedrigungen, Entbehrungen und Entfremdungen. Das innere und äußere Konfliktpotential, mit dem der einzelne Asylbewerber lebt, steigt auf ein schwer ertragbares Maß.
Vor allem durch:
- das gemeinsame Warten auf das Asylgesuch, die Realität bleibt währenddessen jahrelang unbeeinflußbar;
- das Erlebnis der unerfüllbaren Erwartungen, die an den Asylbewerber gestellt werden und denen er nicht nachkommen kann, weil ihm die Forderungen der Verwaltungsbürokratie ungewohnt und unvernünftig erscheinen;
- seine Marginalisierung;
- seine Willenlosigkeit, seine Apathie;
- der Verlust der Eigeninitiative;
- die Überadaptierung, sein devotes Entgegenkommen.
Diese Form von psychischen Problemen scheint nach einiger Zeit den betroffenen Asylbewerber im Lager schwerer oder kaum mehr „integrierbar“ für die Lebensgemeinschaft zu machen. Entsprechend verstümmelt seine Fähigkeit der Reintegration in den Arbeitsprozeß bei einer eventuellen Rückkehr in sein Heimatland.
Es steht heute zweifellos fest, daß ärztliche Untersuchungen bei vielen Flüchtlingen ergeben, daß sich die meisten Patienten über Kopfweh, Schlaflosigkeit, Darm- und Magenkrankheiten sowie Störungen im Verdauungsbereich beklagen.
Diese und andere Krankheiten sind Ärzten und Psychiatern als typische psychosomatische Krankheiten, also seelisch bedingte Leiden, geläufig.
Lager als Brutstätte von Neurosen, Traumata, Phobien oder Obsessionen?
Bei längerem Aufenthalt sicher! Ohne sich an Mechanismen der Entfremdung infiziert zu haben, geht niemand durch ein Lager.
Daß diese einhergeht mit der kontinuierlichen Versorgung und dem Verlust – solange die Asylbewerber in Lagern wohnen – der Eigeninitiative, der Selbstgestaltung, der Freizügigkeit, der Verweigerung einer erträglichen Form des Menschseins, ist eine bislang nur von Insidern beachtete Tatsache.
Es ist an der Zeit, daß alle anderen dies endlich verstehen.
Jean-Claude Diallo ist Leiter des Psychosozialen Zentrums für Flüchtlinge in Frankfurt/M.