Hessischer Rundfunk Frankfurt
Woche vom 2. – 7. Februar 1970
RADIO KURZPREDIGTEN
Die Anonymität der Großstadt
Inserate offenbaren die Wunschvorstellungen einer Zeit. Aus einer Frankfurter Zeitung stammt folgendes Inserat, das Wohnungen anbietet: „Familiengerechtes Wohnen in einer Eigentumskomfortwohnung. Die Eigentumswohnungen liegen in der Stadt und doch in grüner Landschaft.“ Im letzten Satz heißt es dann bezeichnenderweise: „Sie bieten die Annehmlichkeiten großstädtischer Anonymität.“
Wie es scheint, gehört die Anonymität, die man in der Stadt als Selbstverständlichkeit erwartet, zum Lebensstil des heutigen Menschen. Wer aus kleinen und mittleren Gemeinden stammt, weiß dieses Angebot unter Umständen sehr zu schätzen. Er kann oft erleben, wie wenig seine Privatsphäre respektiert wird und wie schnell das, was er tut oder unterlässt, den Gesprächsstoff nicht nur für die Nachbarschaft, sondern für die halbe Gemeinde abgibt. Dem sich zu entziehen, mag ein durchaus berechtigtes Anliegen sein, da jeder von uns das Recht auf einen persönlichen Lebensraum hat. In diesem Sinne gibt es auch das Recht auf Anonymität.
Wie sieht es aber in der Stadt aus? Dort ist die viel gepriesene und erträumte Anonymität ohne weiteres gewährleistet. Ja, es wird sogar alles getan, um sie noch zu vergrößern. Ein gutes Beispiel sind die Selbstbedienungsläden, die immer zahlreicher so eingerichtet werden, daß persönlicher Kontakt tunlichst entfällt. So angenehm und wirtschaftlich Selbstbedienungsläden auch sind, kennzeichnen sie das andere Extrem, in das wir hineinzuschliddern drohen, nämlich das der Beziehungslosigkeit. Wer allerdings vermeint, dieser Wunsch nach völliger Privatheit sei echt, fällt einer Selbsttäuschung zum Opfer; denn in Wirklichkeit besteht ein großes Unvermögen, mit anderen Menschen Kontakt herzustellen. Dieses Unvermögen wird nur als besonderer Wert kaschiert. Die Folge davon ist eine seelische und geistige Verarmung.
An dieser menschlichen Verarmung leiden besonders die christlichen Gemeinden, in denen es sehr viele beziehungsscheue Menschen gibt, die sich leider darauf noch etwas zugutehalten. Dazu das Beispiel aus einer Großstadtgemeinde: Der Pfarrer hat aufgerufen, möglichst zahlreich an einer befristeten Aufgabe in der Gemeinde mitzuhelfen. Nach einem der Sonntagsgottesdienste melden sich unter anderem eine Dame und ein Herr. Als sie ihre Straße und Hausnummer angeben, stellen sie fest, daß sie im gleichen Haus wohnen. Sie kannten sich aber weder, noch wussten sie darum, daß sie zur selben Gemeinde zählen. Dabei sind sie zu den aktiven Christen zu rechnen, denn sonst hätten sie sich sicher nicht gemeldet. Weiter ist zu beachten, daß sie vermutlich jahraus, jahrein am gleichen Gottesdienst teilnahmen.
Den beiden ist ihre gegenseitige Fremdheit nicht anzulasten. Es wurde ihnen lange genug gepredigt, für ein christliches Leben genüge zu glauben, den Gottesdienst zu besuchen und die Gebote zu halten. Mittlerweile wissen wir, daß das nicht genügt, denn Christentum bedarf der besonderen Gemeinschaft, um lebendig zu bleiben; d.h. es ist auf Dauer nicht möglich zu glauben und es ist wenig sinnvoll, zum Gottesdienst zu gehen, wenn es keine Gemeinden gibt, in denen der brüderliche Kontakt eine selbstverständliche Voraussetzung ist.
Solange die übertriebene Anonymität in unseren Gemeinden nicht abgebaut wird, haben wir keine christlichen Gemeinschaften, sondern unchristliche Monstren, die auf die Dauer nicht lebensfähig sind. Der Tratsch- und Klatschkontakt, wie er in kleineren Gemeinden vorkommt, ist natürlich keine Alternative.