10. März 2017
Ökumenischer Gottesdienst in der St. Annakirche Limburg zur Woche der Brüderlichkeit
Liebe geschwisterliche Gemeinde!
„Nun gehe hin und lerne“, das ist das diesjährige Motto der „Woche der Brüderlichkeit“. Ich hab’s getan und dabei überraschende Erkenntnisse gewonnen. Vielleicht gelingt es mir, Ihnen wenigstens ansatzweise zu vermitteln, was mich so bewegt hat.
Ich habe mich bisher naturgemäß in hunderte theologische Bücher vertieft, aber nur selten ein vergleichbares Erlebnis gehabt wie mit dem Buch von Daniel Boyarin „DIE JÜDISCHEN EVANGELIEN“ mit dem Untertitel „Die Geschichte des jüdischen Christus“. Das Buch ist 2015 im ERGON-Verlag, der mir bislang unbekannt war, erschienen.
Dabei bezieht sich der Autor vornehmlich auf das Kapitel 7, Vers 13 und folgender des Propheten Daniel, wo es in der Version des Buches heißt:
Ich sah in diesem Gesicht in der Nacht, und siehe, es kam einer mit den Wolken des Himmels wie eines Menschen Sohn und gelangte zu dem, der uralt war – dem Alten der Tage – , und wurde vor ihn gebracht. Der gab ihm Macht, Ehre und Königreich, dass ihm alle Völker und Leute aus so vielen verschiedenen Sprachen dienen sollten. Seine Macht ist ewig und vergeht nicht, und sein Königreich hat kein Ende.“ (S. 47)
Das Buch Daniel ist als eine der frühesten Apokalypsen während des 2. vorchristlichen Jahrhunderts geschrieben und wurde nach Boyarin „eines der einflussreichsten Bücher im heutigen Judentum“ (S. 46). Ohne dass bei Daniel vom Messias die Rede ist, sieht Boyarin in dem Text deutliche Hinweise auf Christus:
- Er ist göttlich.
- Er erscheint in menschlicher Gestalt.
- Er wird beschrieben als eine Gottheit, die jünger aussieht als der Alte der Tage.
- Er wird in der Höhe inthronisiert werden.
- Er wird ausgestattet mit Macht und Herrschaft, sogar mit Hoheitsgewalt auf Erden. (S. 47)
Das Kommen auf den Wolken deutet auf eine Form der Theophanie Jahwes selbst hin. Demnach kennt Daniel zwei Gottheiten, die im Laufe der Zeit schließlich die ersten beiden Personen der Trinität bilden. (S. 51f.) Das wird im Geleitwort von Johann Evangelist Hafner als „Binitarismus“, ich nenne es „Zweifaltigkeit“, bezeichnet. Hafner ist katholischer Theologe, Religionswissenschaftler und Philosoph. Er lehrt als Professor an der Universität Potsdam. Für ihn gehört Boyarin zu den Forschern, die das rabbinische Judentum und das paulinische Judentum als zwei Bewegungen ansehen, die auf den Trümmern der von den Römern zerstörten Tempel-Religion zwei neue Interpretationsweisen aufgebaut hätten. (S. 11)
Es gibt dann auch noch das eigentliche Vorwort des US-amerikanischen, ebenfalls katholischen Theologen Jack Miles. Er hat für sein Buch „Gott: Eine Biographie“, das auf deutsch im Hanser Verlag erschienen ist, den Pulitzer-Preis erhalten. Er meint, die seiner Auffassung nach wohl begründeten Ansichten von Boyarin seien für Christen beunruhigend. Das verstehe ich allerdings nicht, weil mich diese Publikation keineswegs beunruhigt, sondern im Gegenteil geradezu fasziniert hat.
Nach Miles geht Boyarin der Frage nach, wie durch die „früheste Evangelienliteratur“ Jesus von Nazareth als die Erfüllung der jüdischen Hoffnung auf einen menschlich-göttlichen Messias (griechisch Christus) innerhalb des Judentums angesehen werden konnte. Dieses Judentum kennt sehr verschiedene religiöse Spielarten. Sie gehen aber alle auf den gemeinsamen jüdischen Ursprung zurück.(S. 25) Für Hafner ist es dem Autor gelungen, „die von beiden Seiten so gern zugespitzte Entzweiung von Judentum und Christentum auf viel tiefer gehende Verbindungen zurückzuführen. (S. 26)
Boyarin selbst erhofft sich für die heutige Diskussion im jüdisch-christlichen Gespräch eine Rekonstruktion, ich sage mal eine Wiederherstellung und Aufarbeitung der gemeinsamen Ursprünge in neuen bzw. den ursprünglichen Narrativen, d.h. in Erzählungen, die die historisch erst später entstandene gegenseitige Entfremdung überwinden sollen. (S. 27)
Für uns ist von entscheidender Bedeutung, dass das Volk Israel den Monotheismus durch alle Versuchungen von außen und von innen durchgehalten hat. Es war angesichts der diversen Weltreiche, die es beherrschten, zumeist ein unterdrücktes Paria-Volk. (Juden feiern heute das fröhliche Fest Purim und erinnern sich daran, dass Esther am persischen Königshof die drohende Vernichtung der jüdischen Bevölkerung verhinderte.) Ein Paria-Volk war ständig dem Druck polytheistischer Religionen ausgesetzt, dem es oft zu erliegen drohte. Deswegen ist es mehr als überraschend, wenn ein jüdischer Gelehrter von dem Rang eines Boyardin eine Art Binitarismus, also eine „Zweifaltigkeit“ zulässt. Es bedeutet nichts weniger, als dass uns der Glaube an die Inkarnation nicht mehr von Israel trennt.
Der Autor war letztes Jahr, wie ich festgestellt habe, als Forscher – oder wie man sagt, als Fellow – im Berliner Max-Planck-Institut und anschließend am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt tätig. Er arbeitet, wie er selbst es beschreibt, seit 15 Jahren an einem Buch über die Geschichte und Entwicklung des Begriffs vom Judentum im Zusammenhang mit dem Christentum. Ich fand es beachtlich, dass er dafür nach Deutschland kommt, in das Land, von dem der Holocaust ausging, und damit auch die weitgehende Vernichtung der geistigen, religiösen und wissenschaftlichen Kultur des Judentums bei uns erfolgte. Mit seiner Forschung in Berlin und Erfurt bezieht Boyarin irgendwie die Bundesrepublik in die große geistige Auseinandersetzung ein, die sich in den letzten Jahrzehnten gerade auch in den Vereinigten Staaten abgespielt hat.
Der Namensgeber des Erfurter Kollegs „Max-Weber“ verweist auf den herausragenden Wissenschaftler, der die Soziologie zu einer modernen Wissenschaft gemacht hat. Dabei hat die Universitätsstadt Heidelberg, in der er mehr als zwanzig Jahre lebte, sein Werk unübersehbar geprägt. Hier verfasste er u.a. seine Schriften zur Religionssoziologie. Ihn interessierte gerade auch die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. In diesem Zusammenhang schrieb er über das antike Judentum als „Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe“ und „Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes“.
Zu seiner Zeit war Heidelberg das Zentrum jüdische Gelehrsamkeit. In der Zeit von 1862 bis 1918 waren an der dortigen Universität insgesamt 61 jüdische Professoren tätig, die die ganze Fächerbreite vertraten. Ab 1890 erlebte diese Universität eine Zeit besonderer wissenschaftlicher Blüte. Berühmte jüdische Wissenschaftler steigerten die Anziehungskraft der Universität. Man sprach vom „Heidelberger Geist“, vertreten durch Gelehrte wie gerade auch Max Weber. Sie galt als „liberale Musteruniversität“ und genoss einen überregionalen Ruf. Heidelberg setzte in der Weimarer Republik diese liberale Tradition fort und erhielt seine Anziehungskraft gerade für jüdische Studenten und Wissenschaftler. Das endete abrupt mit Hitler.
Heidelberg hat für mich in diesem Zusammenhang einen herben Beigeschmack; und das nicht nur von den damaligen Ereignissen her, sondern in meiner Zeit als Ausländerreferent im Bischöflichen Ordinariat Limburg. Dabei zeigte sich der Ungeist des Nationalsozialismus noch nach Jahrzehnten. Es ging um die Veröffentlichung des sogenannten „Heidelberger Manifestes vom 17. Juni 1981“. Unterzeichner waren 15 Professoren, alles Mitglieder eines „Schutzbundes für das deutsche Volk“. Sie bezeichneten sich als verantwortungsbewusste Deutsche und Christen, die „aus tieferem Einblick in die Geschichte, in die genetischen Gesetze, von ihrem Gewissen gedrängt, angesichts des Schicksals kommender Generationen nur für den Schutz unserer ererbten deutsch-christlich-abendländischen Kultur und Wertvorstellungen vor der Überrollung durch eine Flut aggressiven Asiatentums eintreten.“ Die Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) lässt grüßen!
Die Gedankenwelt von Dreien der mit unterzeichneten Professoren war mir über den Text des Manifestes hinaus und teils noch vor dessen Bekanntwerden durchaus vertraut. Mich betrachteten Sie mit meinen Vorstellungen von Integration und Respekt gegenüber Menschen mit anderer kultureller Prägung als ausgemachten Gegner ihrer menschenfeindlichen Vorstellungen. Mit dem maßgeblichen Professor Dr. Schmidt-Kaler, der seine Ansichten bereits 1980 in einem großen Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlichen konnte, führte ich auf einem ZDF-Seminar in Berlin die wohl härteste und unversöhnlichste Diskussion meiner Dienstzeit, wobei ich von den anwesenden Redakteurinnen und Redakteuren des Senders bis auf eine Person keinerlei positive Reaktion erhielt.
Ich erwähne diesen Vorgang, weil im Gegensatz zum „Heidelberger Geist“, dem Max Weber verpflichtet war, sich der „Heidelberger Ungeist“ des Manifestes noch nach Jahrzehnten als lebendig erwiesen hat. Und wir erleben jetzt bei uns, in den USA und weltweit ein Anwachsen der Fremdenfeindlichkeit und des Antisemitismus. Machen wir uns bewusst, was es dabei heißt, dass 60 % der weißen Christen Trump gewählt haben.
Zwei Jahre vor dem Erscheinen des Heidelberger Manifests wurde die Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg gegründet. Dies erfolgte in der Tradition des „Heidelberger Geistes“. Mit zehn Professuren und ebenso vielen Assistenzstellen ist diese Hochschule heute das europäische Kompetenzzentrum in ihrem Fach. Ich hoffe, dass sie bei ihrer Liberalität bereit ist, die Ideen des orthodoxen, sicher nicht streng orthodoxen Boyarin ernst zu nehmen.
Beim Vorgespräch für diesen Gottesdienst hat Herr Pfarrer Fischer darauf hingewiesen, dass er im Juni 2016 im Martin-Niemöller-Haus in Schmitten an einer einschlägigen Tagung teilgenommen habe. Sie stand unter dem Thema „Ab jetzt Zwillinge? Das christlich-jüdische Verhältnis neu denken“. Hierzu ließ er mich wissen, sei bereits 2012 in Leipzig ein Sammelband mit Aufsätzen erschienen unter dem Titel „Judäo-Christentum. Die gemeinsame Wurzel von rabbinischem Judentum und früher Kirche“. Man könnte vielleicht folgern, dass das Thema jetzt bei uns gesetzt ist, und zwar durch dieses Seminar, natürlich vor allem durch das Buch von Boyarin, dann durch seine Kommentierung von zwei katholischen Theologen aus den USA und Deutschland und nicht zuletzt durch den Forschungsaufenthalt von Boyarin in Deutschland.
Ich kann selbst nicht sagen, ob damit tatsächlich ein neues Kapitel christlich-jüdischer Gemeinsamkeit und gegenseitiger Verständigung aufgeschlagen wird. Für mich ist es jedenfalls ein epochales Ereignis.
Der „Jüdische Christus“, das ist seine gesteigerte Heimholung in die Überlieferung und den Glauben des Volkes Israel. Und wenn es die Heimholung Jesu ist, dann ist dies auch unsere Heimholung als Christen. Die Verwandtschaft miteinander ist jedenfalls größer, als wir es bisher angenommen und auch kultiviert haben. Wir wären demnach nicht nur eng miteinander verwandt, wir wären sogar Zwillinge, allerdings nicht eineiige, sondern zweieiige.
Ressourcen:
Der Juedische Christus