Hessischer Rundfunk Frankfurt
Woche vom 7. – 12. Oktober 1968
RADIO KURZPREDIGTEN
Das Leben lieben
Wer morgens noch müde ist, hat entweder zu wenig oder zu viel geschlafen. Ja, zuviel Schlaf macht auch müde. Mit einem geregelten Maß an Schlaf ist dieser Müdigkeit schnell beizukommen. Schwieriger ist es schon bei denen, die trotz geregelten Schlafes immer müde sind. Hier müßte ein Arzt zu Rate gezogen werden. Ärztliche Kunst will aber da versagen, wo die Müdigkeit sich wie ein Leichentuch über das gesamte Leben breitet. Bei diesen Lebensmüden, wie man sie nennt, kommt oft jedes Heilverfahren zu spät. Die Überdosis Schlaftabletten, der geöffnete Gashahn, das Giftfläschchen macht alles illusorisch.
Die Dichterin Simone de Beauvoir beschreibt in der Schlußszene ihres Romans „Die Mandarine von Paris“ die Gedanken und Gefühle einer Frau, die ihres Lebens müde ist. Im Handschuhkasten verwahrt sie ein Fläschchen mit Gift. Nichts liegt ihr mehr am Leben. In ihrem Beruf sieht sie keinen Sinn mehr, ihre Tochter ist verheiratet. „Ich bedeute ihr nichts mehr“, denkt sie. Mit ihrem Mann ist sie glücklich gewesen. Mittlerweile geht er ganz in seiner Schriftstellerei auf. Und ihr kleines Enkelkind Maria? Es wird später nicht einmal wissen, daß es eine Großmutter gehabt hat. Was könnte sie also noch ans Leben binden? Alles in ihr willigt in den Tod ein. Die natürliche Angst vor ihm hat sie verloren. Selbst die ärgerliche Stimme ihrer Tochter erreicht sie nicht mehr, die ausruft: „Mama hätte Maria nicht allein lassen sollen!“
In Wirklichkeit erreicht sie dieser Ruf doch. Plötzlich nämlich hat diese Stimme ein Echo in ihr geweckt. Sie fragt sich: „Ist etwas vorgefallen? Der kleinen Maria könnte etwas zugestoßen sein?“ Da auf einmal fühlt sie sich nicht mehr allein und versucht sich vorzustellen, wie es auf die Anderen wirken muß, wenn sie tot auf dem Bett liegt. Sie sieht ihren Mann, der sich über sie beugt, hört das Schluchzen ihrer Tochter, es wird ihr bewußt, daß ihr Tod nicht ihr gehört. So findet diese Frau wieder ins Leben zurück. Wörtlich schließt der Roman: „Ich sage mir: Nachdem sie stark genug sind, mich dem Tod zu entreißen, wissen sie vielleicht, mir zu neuem Leben zu verhelfen. Bestimmt können sie das (…). Da mein Herz weiter schlägt, muß es wohl für etwas, für jemanden schlagen. Da ich nicht taub bin, werde ich neue Anrufe vernehmen. Wer weiß?“
Meine verehrten Hörer, Lebensmüde gibt es häufiger, als wir ahnen. Ich bin überzeugt, daß manche Katastrophen vermieden werden könnten, wenn der richtige Anruf zum Leben diese Menschen erreichte. Es müßte gelingen, jeden zu überzeugen, daß sein Leben nicht ihm gehört, sondern den Andern. Der Tod besteht darin, daß man sich auf sich selbst zurückzieht. Damit steht aber recht betrachtet jeder von uns vor der Entscheidung, ob er Tod oder Leben wählen will. Und wenn jetzt Leben und Tod gesagt wird, ist nicht nur ein körperliches Leben oder ein physisches Ende gemeint. Im ersten Johannesbrief steht: „Wir wissen, daß wir vom Tode zum Leben übergegangen sind, denn wir lieben die Brüder“ (1 Joh 3,14). Wer die Brüder zurückweist, wählt den Tod, in der Sprache der Bibel sogar den ewigen Tod. Wer die Brüder liebt, liebt das Leben, das ewige Leben!