TAG DES FLÜCHTLINGS 1995
Das Asylbewerberleistungsgesetz
gefährdet die Gesundheit
INHALT
- Grußwort der Vertreterin der Hohen Flüchtlingskommissarin der Vereinten Nationen (UNHCR) in der Bundesrepublik Deutschland
- Kriegsflüchtlinge brauchen eine Lebensperspektive
-
GRENZEN: LAND, WASSER, LUFT
- Justizlotto am Flughafen
- Kein faires Verfahren für nigerianische Flüchtlinge
- Datenschutz ist Flüchtlingsschutz
- Ein natürlicher Tod
- Deutsche Ufer – Tod an der Grenze
- Festung Europa: Die Odyssee eines Deserteurs aus Kosova
- Verhaftet, gefoltert, verschwunden – wenn deutsche Behörden abschieben
- Lageberichte des Auswärtigen Amtes: Verharmlosung von Menschenrechtsverletzungen?
- Zweierlei Wahrnehmungen: Behördliche Auskünfte und die Realitäten vor Ort
IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
Nach dem zum 1. November 1993 in Kraft getretenen Asylbewerberleistungsgesetz ist die Krankenhilfe für Flüchtlinge stark eingeschränkt worden. Auf die Behandlung von chronischen Erkrankungen und Behinderungen besteht kein Anspruch mehr. Die Behandlung beschränkt sich weitgehend auf die Behebung von akuten Schmerzzuständen. Bereits in der Anhörung des zuständigen Bundestagsausschusses zur Einführung des Gesetzes am 24. März 1993 hatte Herbert Leuninger für PRO ASYL darauf hingewiesen, daß dies die Behandlung von Kriegsverletzungen, körperlichen Folterschäden und psychischen Erkrankungen als Folge von Flucht und Folter u. a. ausschließen könne.
Konkretisierende Empfehlungen der Bundesärztekammer, welche Behandlungen medizinisch unumgänglich und welche auf der Basis des Asylbewerberleistungsgesetzes nicht durchzuführen sind, liegen nicht vor. Beim zuständigen Bundesministerium für Familie und Senioren ist man offenbar der Ansicht, daß die einzelnen Bundesländer dies durch Erlasse regeln können. Die Bundesländer oder nachgeordneten Behörden lösen das Problem größtenteils einfach, indem sie auf die an Flüchtlinge ausgegebenen Krankenscheine den Wortlaut des § 4 Asylbewerberleistungsgesetz oder irgend einen Hinweis auf die Einschränkung der Krankenbehandlung aufdrucken. So wird den Ärztinnen und Ärzten. die Beantwortung der schwierigen juristischen Frage zugemutet, in welchen Fällen sie untersuchen und behandeln sollen. Das Asylbewerberleistungsgesetz verlangt von den Ärzten und Ärztinnen einen Verstoß gegen das eigene Ethos. Ihnen wird zugemutet zu entscheiden, wer als akut krank adäquat behandelt wird und wer als chronisch Kranker unbehandelt bleibt.
In anderen Fällen sind Sozialämter durch Landeserlasse angewiesen, Krankenscheine erst nach einer Vorprüfung und gegebenenfalls nach Einschaltung des Amtsarztes auszugeben. Ein solches Verfahren gefährdet vorsätzlich die Gesundheit der Betroffenen.
Einige Beispiele, in denen behinderten oder chronisch kranken Flüchtlingen Leistungen der Krankenhilfe verweigert wurden, zeigen, welch inhumane Praxis sich in der Folge des Asylbewerberleistungsgesetzes entwickelt hat:
- Einem Flüchtling aus Brandenburg, der einen komplizierten, mit Nägeln fixierten Bruch des Knöchels hatte, wurde die medizinisch erforderliche Entfernung der Nägel verweigert, obwohl sie beim Gehen andauernd erhebliche Schmerzen verursachten.
- Einem Flüchtling aus Freiburg wurde von der dortigen Universitätsklinik die Zertrümmerung seiner Nierensteine verweigert, obwohl sie immer wieder unerträgliche Schmerzen und Koliken verursachten. Erst nach einer Intervention beim baden-würtembergischen Innenministerium soll schließlich eine Behandlung bewilligt worden sein.
- Einer Frau aus Kosova, der infolge einer serbischen Granate beide Beine amputiert werden mußten, wurde vom Sozialamt Charlottenburg/Berlin die vom Universitätsklinikum Steglitz empfohlene Prothesenversorgung versagt. Mit einer solchen Prothese hätte sie wieder laufen können. Begründung des Sozialamtes: Die Frau könne ja einen Rollstuhl benutzen.
- Einem gefolterten Afrikaner, dem bei der Folter fast sämtliche Zähne gezogen wurden, wurde von den zuständigen Behörden in Leipzig die Versorgung mit Zahnersatz verweigert.
- Einem Kind, dessen künstliches Auge nach altersbedingtem Wachstum hätte erneuert werden müssen, wurde diese Hilfe vom Sozialamt Charlottenburg verweigert.
- Einem Flüchtling aus Kosova, der infolge einer Operation ein um über 20 cm verkürztes Bein hat, wurde die Versorgung mit den von der Charite verschriebenen orthopädischen Schuhen und einem Gehhilfsapparat verweigert. Begründung des Sozialamtes Prenzlauer Berg: Die Hilfen seien nicht lebensnotwendig. Ohne Versorgung aber sind erhebliche Folgeschäden am Rücken und am gesamten Körperbau unvermeidlich.
- Zwei 13jährigen behinderten Jungen, die mit ihren Eltern vor den ethnischen Säuberungen der serbischen Besatzer in Bosnien geflohen waren, wurden die vom Universitätsklinikum in Steglitz verordneten Rollstühle, Gehhilfen und die erforderliche Krankengymnastik verweigert. Ohne diese Hilfen müssen die Jungen den ganzen Tag im Bett liegen, zur Schule und auf die Toilette getragen werden. Die Begründung des Sozialamtes Charlottenburg für die Ablehnung: Bei Nichtgewährung dieser Leistungen bestehe keine Gefahr an Leib und Leben.
(Nach einer Zusammenstellung von Georg Classen.)
Die organisierte Unmenschlichkeit des Gesetzes wird von den Behörden häufig rigide umgesetzt. So versuchte der Landkreis Lübben, einen psychisch kranken Flüchtling, dessen Identität ungeklärt war, abzuschieben. Er war selbst nicht in der Lage sich zu versorgen und reagierte kaum auf Ansprache. Leider, so hieß es, gebe es keinen Kostenträger für die Behandlung psychisch kranker »Asylanten«.
In verschiedenen Orten Deutschlands gibt es inzwischen Ärzteinitiativen, die sich gegen die Einschränkungen der Behandlungsmöglichkeiten durch das Asylbewerberleistungsgesetz wenden. Auch in den kassenärztlichen Vereinigungen und in ärztlichen Standesorganisationen gibt es heftige Diskussionen. Denn das Gesetz mutet den Ärzten und Ärztinnen nicht nur Verstöße gegen die ärztliche Ethik zu, es ermöglicht am Ende auch, die freie Arztwahl für Flüchtlinge völlig auszuschließen und Zwangsbehandlungen durchzuführen.
Die Bundesregierung arbeitet zur Zeit an weiteren drastischen Verschärfungen. Im Rahmen eines» Ausländerleistungsgesetzes« sollen (gekürzte) Sachleistungen auch für Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge und andere Flüchtlinge mit Aufenthaltsbefugnis eingeführt werden. Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge erhalten dann einen Anspruch auf zusätzliche medizinische Leistungen sowie Leistungen bei Behinderungen. Der Pferdefuß: Ursächlich muß der Krieg sein. Folteropfer, die nicht aus» anerkannten« Bürgerkriegsländern kommen, gehen leer aus. Flüchtlinge mit angeborenen Behinderungen oder chronischen Krankheiten haben keinen Anspruch. (Quelle: Referentenentwurf des Bundesgesundheitsministeriums vom 6.2.1995)