Generic selectors
Nur exakte Ergenisse
Suchen in Titel
Suche in Inhalt
Post Type Selectors
06.11.1997

Brief an die Innenminister der Länder
und den Bundesinnenminister


(Auch als Musterbrief zu verwenden)

Frankfurt, den 6. November 1997

Abschiebungsstopp nach § 54 Ausländergesetz für algerische Flüchtlinge

Sehr geehrter Herr Minister ,

von 3.159 Flüchtlingen aus Algerien wurden im Jahre 1996 gerade einmal 37 Menschen als politisch Verfolgte nach Artikel 16 a Grundgesetz anerkannt. Bei weiteren 21 wurde die Notwendigkeit eines Schutzes nach § 51 AuslG gesehen.

Einer der Gründe für diese äußerst geringe Anerkennungsquote ist, daß vielfach argumentiert wird, die Verfolgung gehe nicht vom Staat, sondern von islamistischen Gruppen aus. Eine derartige Verfolgung wird jedoch weder im Asylverfahren nach Artikel 16 a GG noch – gegen Sinngehalt und Entstehungsgeschichte der Genfer Flüchtlingskonvention – bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 51 Abs.1 AuslG vorliegen, berücksichtigt. Die Rechtsprechung schränkt in aus unserer Sicht unzutreffender Interpretation des Wortlauts und der Entstehungsgeschichte den Flüchtlingsbegriff der Genfer Flüchtlingskonvention ein und behauptet die Deckungsgleichheit mit dem Flüchtlingsbegriff des Artikels 16 a GG. Die Genfer Flüchtlingskonvention geht jedoch von der begründeten Furcht vor Verfolgung aus. Diese muß nicht zwangsläufig vom Staat ausgehen. UNHCR hat vielfach auf die in Deutschland verengte Auslegung hingewiesen, die Flüchtlinge aus vielen Staaten schutzlos stellt, weil auch die Prüfung möglicher Abschiebungshindernisse gemäß § 53 Abs. 4 und 6 AuslG i.d.R. unzureichend durchgeführt wird.

So wird die Frage, ob Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 4 i.V.m. Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention in Betracht kommt, in aller Regel verneint. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner Somalia-Entscheidung vom 15. April 1997 ausdrücklich festgestellt, daß eine die Abschiebung verbietende unmenschliche oder erniedrigende Behandlung nach Art. 3 EMRK nur dann vorliegen soll, wenn „sie von einem Staat oder von einer staatsähnlichen Organisation herrührt“.

Demgegenüber hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil „Ahmed gegen Österreich“ vom 17. Dezember 1996 (71/1995/577/663) festgestellt, daß
„angesichts des absoluten Charakters von Artikel 3 auch nicht … das Fehlen jeder staatlichen Gewalt in Somalia“ der Anwendbarkeit von Artikel 3 EMRK entgegenstehe. Der Grundsatz, wonach auch Opfer von Bürgerkriegen durch Art. 3 EMRK vor einer Abschiebung geschützt werden, wenn ihnen im Herkunftsland Folter oder unmenschliche Behandlung droht, wurde vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil „D. gegen Vereinigtes Königreich“ vom 2. Mai 1997 bestätigt.

Mit ihrer Rechtsprechung, geht die Bundesrepublik erneut einen gefährlichen Sonderweg und stellt sich in Widerspruch zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Schutzbedürftigen wird der dringend nötige Schutz entzogen.

Auch die Frage, ob Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 AuslG zu gewähren ist, wird in aller Regel verneint, weil die individuelle konkrete Gefährdung bestritten wird. Beispielhaft sei hier ein Beschluß des Oberverwaltungsgerichts Niedersachsen vom 26. Juni 1997 (AZ: 1 L 2689/97, 11 A 5055/96) zitiert, in dem es heißt:

„Weder mit der Zahl der Toten in den letzten fünf Jahren noch mit der Zusammenstellung von Opferzahlen aus jüngsten Presseberichten wird eine individuell konkrete Gefährdung des einzelnen Ausländers, der abgeschoben werden soll, dargelegt, weil ein Verhältnis zur Gesamtbevölkerung nicht hergestellt wird.“

Seit dem zitierten Beschluß des OVG hat sich die Zahl der Opfer vervielfacht. Der Hinweis wirkt zynisch, sind doch Möglichkeiten, Opferzahlen und Todesumstände durch unabhängige Organisationen überprüfen zu lassen, kaum gegeben. Dies weiß im übrigen auch die Bundesregierung, wenn sie in der Antwort auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Amke Dietert-Scheuer und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen (Bundestagsdrucksache 13/8470 vom 5. September 1997) lapidar feststellt:

„Nichtstaatliche Organisationen in Algerien haben zur Aufklärung der hier in Frage stehenden Sachverhalte in den vergangen Krisenjahren im Ergebnis keine gesicherten Erkenntnisse beitragen können, schon weil sie für die Botschaft Algier über längere Zeiträume nicht zu erreichen waren.“

Diese Behauptung suggeriert, man habe wenigstens versucht Menschenrechtsorganisationen einzuschalten. Allerdings heißt es wenige Zeilen zuvor:

„Eigene Recherchen von Botschaftsbediensteten ohne unmittelbare Einschaltung algerischer Behörden sind auf unabsehbare Zeit nicht möglich.“

Überzogene Anforderungen der Oberverwaltungsgerichte an die Darlegung, in welchem Verhältnis zur Gesamtbevölkerung die aus den geschilderten Umständen heraus nicht näher überprüfbaren Opferzahlen zu sehen sind, führen aber ebenfalls dazu, daß verfolgte Menschen aus Algerien, die an Leib und Leben gefährdet sind, schutzlos gestellt werden. Es sei denn, die Innenminister entschließen sich, einen Abschiebungsstopp nach § 54 AuslG zu erlassen.

In den letzten Wochen und Monaten lesen wir fast täglich von menschenrechtswidrigen Übergriffen seitens islamischer Gruppierungen oder seitens der sogenannten Sicherheitskräfte des Militärregimes. Tausende Menschen sind in den letzten Wochen auf bestialische Art und Weise ermordet worden. Völlig unverständlich und in krassem Widerspruch zur Realität in Algerien steht der oft zu findende stereotype Satz in Ablehnungsbescheiden des Bundesamtes: „Die Heimatbehörden der Antragsteller sind gewillt und generell auch in der Lage, gegen Übergriffe Dritter vorzugehen“, so in einem Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 2. Mai 1997.

In ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Amke Dietert-Scheuer und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen (Bundestagsdrucksache 13/8470 vom 5. September 1997) sagt die Bundesregierung:

„Die Bundesregierung geht davon aus, daß die algerische Regierung die nötigen Maßnahmen ergreift, um die Sicherheit für ihre Bürger zu gewährleisten.“

Die täglichen Berichte über Massaker belegen das Gegenteil. Viele dieser Massaker geschehen in unmittelbarer Nähe von Armeeunterkünften. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung fragt unter der Überschrift „Algerische Rätsel“ am 15. September 1997:

„Ist es denkbar, daß manche in der algerischen Führung ein Interesse daran haben, daß das Land nicht wirklich zur Ruhe kommt? Während in Nordalgerien der Terror wütet, werden auf den Ölfeldern im Süden gute Geschäfte gemacht. An ihnen waren und sind auch immer Vertreter des Staates und seiner Führung beteiligt.“

Die Wochenzeitung DIE ZEIT stellt in ihrer Ausgabe vom 5. September 1997 dar:

„Von der Bewaffneten Islamischen Gruppe (GIA) weiß man, daß sie von Agents provocateurs des Geheimdienstes unterwandert ist.“

Sollten diese Vermutungen zutreffen, wären in vielen Asylverfahren die Ablehnungsbescheide zu Unrecht ergangen, da die Verfolgung dem Staat zuzurechnen wäre, weil dieser, aus welchen Gründen oder politischen Kalkülen heraus auch immer, Verfolgung hinnimmt. Auch aus diesem Grund bitten wir Sie, sich für einen Abschiebungsstopp nach § 54 AuslG zu erlassen.

Besonders gefährdet sind aus unserer Sicht Journalistinnen und Journalisten, Intellektuelle, Künstler/innen, Lehrer/innen, Studierende, medizinisches Personal, Frauen mit westlichen bzw. „Männer“-Berufen, Menschen- und Frauenrechtler/innen, Mitglieder westlich orientierter Parteien, Gewerkschafter/innen, Angehörige der Sicherheitskräfte, Regierungsvertreter/innen, Beamtinnen und Beamte sowie Personen, die verdächtigt werden, islamischen Gruppen anzugehören, Deserteure und Wehrdienstverweigerer sowie enge Familienangehörige der genannten Personen.

Wir begrüßen es, daß verschiedene Bundesländer von Abschiebungen nach Algerien vorerst absehen und neue Lageberichte des Auswärtigen Amtes angefordert haben. Aus unserer Sicht können Berichte des Auswärtigen Amtes die Innenministerkonferenz jedoch nicht von ihrer Verantwortung für einen Abschiebungsschutz nach § 54 AuslG entbinden. Lageberichte des Auswärtigen Amtes in Bezug auf Algerien haben in der Vergangenheit kaum die tatsächliche Menschenrechtssituation wiedergegeben. Schon aufgrund der Sicherheitslage in Algerien ist die Prüfung von Menschenrechtsverletzungen nicht möglich. Wir verweisen hier auf die Antwort der Bundesregierung auf die o.g. Kleine Anfrage von Bündnis 90/Die Grünen. Dort heißt es:

„Die Personallage der Botschaft Algier ist äußerst angespannt. Die Vertretung ist krisenbedingt aus Sicherheitsgründen personell extrem ausgedünnt, so daß sie nur noch zur Erhaltung einer Minimalpräsenz absolut unerläßliche Aufgaben erledigen kann. Hinzu kommt, daß ihre wenigen Angehörigen, ebenfalls aus Sicherheitsgründen, entscheidenden Bewegungsbeschränkungen unterliegen, die den konsularischen Dienstbetrieb erheblich beeinträchtigen. Sie wird daher auf absehbare Zeit nicht in der Lage sein, jede aufkommende Anfrage zu bearbeiten und sie ggf. mit der im Auswärtigen Dienst üblichen Intensität weiter zu verfolgen. Eigene Recherchen von Botschaftsbediensteten ohne unmittelbare Einschaltung algerischer Behörden sind auf absehbare Zeit nicht möglich.“

Wenn im Einzelfall kein Schutz nach § 51 oder § 53 AuslG festgestellt werden kann, hat der Gesetzgeber entschieden, die Verantwortung über die Aussetzung von Abschiebungen den Innenministern von Bund und Ländern zu übertragen. Ein Abschiebungsstopp nach § 54 AuslG ist im Moment die einzige Möglichkeit, um bedrohten Flüchtlingen aus Algerien den dringend nötigen Schutz zu gewähren. Wir bitten Sie herzlich, aufgrund der oben dargestellten Schutzlücke sich bei der Innenministerkonferenz für einen Abschiebestopp einzusetzen.

Mit freundlichen Grüßen

Günter Burkhardt

Geschäftsführer


Nach oben