Berliner Friedensdemo
am 15. Februar 2003
aus der Perspektive von Herbert (l.) Leuninger
Am Samstag um fünf Uhr startete ein Bus in Idstein-Taunus. Daniel Steiger von der Katholischen Friedensorganisation PAX CHRISTI hatte die Fahrtmöglichkeit organisiert. Nächste Station war die Raststätte Limburg-Nord. Dort wurden weitere FriedensfreundInnen aufgenommen.
Es war eine Gesellschaft junger und älterer Menschen, einige Demo-erprobt, andere wiederum Ersttäter. Die Fahrtroute verlief dann über Gießen und Erfurt. Eisregen im Thüringer Wald drohte das Unternehmen scheitern zu lassen.
Der Bus erreichte schließlich mit großer Verspätung Berlin. Unterwegs hatten sich einzelne Gruppen und Personen mit ihren Erwartungen zu Wort gemeldet. Am Kundgebungsort war es kaum noch möglich, einen Platz mit Sicht auf die Tribüne zu finden.
Die Rückfahrt konnte eine Stunde nach Abschluss der Kundgebung erfolgen. Hierbei wurde die Möglichkeit genutzt, die eigenen Eindrücke von der Demo zu vermitteln. Die lange Reise (15 Stunden Busfahrt) endete um 1 Uhr in Idstein.
Frankfurter Rundschau
vom 17. Februar 2003
Anschwellender „No“-Gesang
In Berlin wie in der übrigen Welt stellen sich Menschen in Massen gegen den Kriegskurs von US-Präsident Bush
Von Pitt von Bebenburg (Berlin)
Nach Mitternacht konnten sich die Friedensfreunde aus Frankfurt, Fürth und Leipzig endlich von oben sehen. Mehr als 20 Stunden lang waren sie auf den Beinen gewesen für jene Momente, die ihnen nach endlosen Busfahrten das Fernsehen nach Hause übermittelte: Ein Meer von Demonstranten, vom Brandenburger Tor bis zur Siegessäule, kilometerlang, und sie selbst mitten drin. Vielleicht ist ihnen da aufgegangen, dass sie Stunden zuvor Teil der größten Friedensdemonstration in der Geschichte der Bundesrepublik gewesen sind. Teil jener Demonstration, die zur Überraschung von Polizei und Organisatoren noch mächtiger ausfiel als die legendäre Kundgebung gegen die Nato-Aufrüstung im Bonner Hofgarten vor 20 Jahren. Mehr als eine halbe Million Menschen kamen am Samstag in Berlin zusammen, um „Nein“ zu sagen zu einem Krieg gegen Irak. Um ein Signal in die Welt hinauszugeben. Und um sich gegenseitig zu ermutigen. Die Organisatoren hatten den Friedensbewegten aus ganz Deutschland „ein Gefühl der Stärke mitgeben“ wollen, sagte Jens-Peter Steffen von den „Ärzten gegen den Atomkrieg“. „Hier hat man nicht mehr das Gefühl, dass man alleine ist mit seiner Position“, sagte ein anderer Demonstrant.
Siegfried Stange lehnte sein Plakat mit der Aufschrift „Sonnenenergie statt Krieg ums Öl“ an einen Pfahl. Früher Nachmittag. Seit einer halben Stunde stand der bärtige Mann mit der Mütze mitten auf der breiten Straße des 17. Juni. Er fotografierte. Fröstelnde Schüler und dick eingepackte Rentner zogen vorbei, Gewerkschafter, Grüne und Graue Panther, Sozialdemokraten mit roten Fahnen und PDS-Sozialisten mit roten Fahnen, Gruppen von Kurden und vereinzelte Chilenen, komplette Kirchengemeinden und kleine Familien. „So eine Demo habe ich mein Leben noch nicht mitgemacht“, sagte der erfahrene Dortmunder Grünen-Lokalpolitiker Stange, „die nimmt ja überhaupt kein Ende.“ Wenn es nach ihm geht, dann hat George W. Bush am Samstag gezeigt bekommen, „dass er ziemlich alleine ist. Dass die Welt gar nichts von ihm hält.“
Es sprach sich unter den Demonstranten in der eisigen Kälte schnell herum, dass sie nicht hunderttausend waren wie erwartet, sondern Hunderttausende. Von der Bühne an der Siegessäule verkündete man zunächst die Zahl von 350.000 Teilnehmern, später war die Rede von einer halben Million. Und ein gewiefter Demonstrant unkte, dass Gewerkschaftsfunktionäre oder Love-Parade-Macher bei dieser Menschendichte nicht weniger als eine Million angegeben hätten. Die Nachricht machte die Runde, dass in Ländern mit Bush-freundlichen Regierungen noch größere Menschenmengen auf den Straßen waren. Das Gefühl, Teil einer weltweiten Bewegung zu sein, breitete sich aus. Gerne hätten die Organisatoren es unterstützt, gerne hätten sie per Video live nach Rom und London, nach Madrid und New York, zu den Millionen Menschen geschaltet, die an diesem Aktionstag dem US-Präsidenten „No“ zuriefen. Aber das Geld hat nicht gereicht für Bilder von der Globalisierung der Kriegsgegner, die 30.000 Euro dafür fehlten. So konnten die Friedensfreunde aus Erfurt, Wuppertal und Lüneburg erst im Fernsehen sehen, wie riesig ihr globales Netz derzeit ist.
Auch den Blick auf die prominenten Redner erhaschten die meisten erst vor der heimischen Mattscheibe. Die Bühne stand für die meisten in weiter Ferne, aber die Worte hallten durch den Tiergarten. Da warf Verdi-Chef Frank Bsirske der Bush-Regierung vor, sie beanspruche „mittlerweile ein Recht auf Angriffskrieg“. Und der Theologe Friedrich Schorlemmer rief dazu auf, gegen die US-Pläne für einen „Präventivkrieg“ den „präventiven Widerstand“ zu setzen. Doch nicht nur die Redner wollten etwas sagen. Tausende Friedensbewegte hatten Plakate mit eigenen Slogans bemalt oder einfach ihren persönlichen Spruch in einer Klarsichtfolie an den Anorak geheftet. „Waffeninspektoren in die USA“, forderten sie oder fragten besorgt: „Hiroshima Nagasaki Bagdad?“ Sie verlangten „Kein imperium americanum“ und erklärten zugleich ihre Solidarität mit der US-Friedensbewegung. „Erzähl mir nichts von Antiamerikanismus“, prangte auf einem Plakat. Die Menschen wollten gehört werden. Manche Ostdeutsche fühlten sich an die Großdemonstrationen von 1989 erinnert, mit denen das Volk der DDR ihre undemokratische Führung fortspülte. Das heutige Ziel, den Krieg noch zu verhindern, erscheint ihnen nicht weniger utopisch. Und trotzdem: „Das ist das wenigste, was wir tun können gegen den Krieg“, sagte eine Ostberlinerin.
Die Stimmung war entspannt und friedlich. Familien legten beim Zug zur Abschlusskundgebung Pausen ein und öffneten die Thermoskannen. Ein vereinzelter Verkäufer von Glühwein machte das Geschäft seines Lebens. Statt Sprechchören erfüllte tausendfaches Murmeln die Straßen. Nur linksradikale Splittergruppen hatten Megafone dabei. Selbst das rhythmische Hoch auf die internationale Solidarität, ein Standard bei Demonstrationen, ließ auf sich warten, bis eine Gruppe kurdischer Kommunisten vorbeizog. Man sah Leute, die Flugblätter verteilten, Leute, die die Taschen vollgestopft hatten mit Flugblättern, Leute, die abwehrten: „Ich hab die schon alle.“ Manche lasen auch in Texten, die wie ein Wettbewerb um möglichst radikale Formulierungen anmuteten: „Erhebe Deine Stimme gegen das aggressive Vorgehen der verbrecherischen Globalisierungsverfechter“, schrie es aus dem Blatt des „Bundes der revolutionären Kommunisten/Türkei“. Das „Frauen-Streik-Cafe“ spannte den Bogen noch ein Stück weiter: „Aber nicht nur im offenen Krieg bedroht das kapitalistische Patriarchat das Leben und die Lebensentwürfe von Frauen/Menschen, denn Kapitalismus ist permanenter Krieg aller gegen alle auf dem Rücken von Frauen.“ An einem Tapeziertisch gaben die Menschen zu Dutzenden ihre Unterschrift für den Friedensaktivisten Tobias Pflüger, der wegen eines Aufrufs zur Desertation mit der Justiz aneinander geraten ist.
Fotos: Herbert Leuninger