Frankfurter Allgemeine
Sonntagszeitung
8. August 1998
Aufnahme von Kosovo-Flüchtlingen ist Pflicht ganz Europas
Abschiebestopp erlassen und den Menschen Schutz bieten
von Heiko Kauffmann
Kosovo conflict: Reception of refugees is an obligation for whole Europe (en)
Im Kosovo eskaliert die Gewalt: Über 35.000 Menschen flohen seit dem vergangenen Wochenende nach dem Beginn der neuen serbischen Offensive. Auf 180.000 bis 200.000 wächst damit die Zahl der Flüchtlinge allein in diesem Jahr an. Schon bis 1997 waren über 350.000 Kosovo-Albanerinnen und -Albaner vor Menschenrechtsverletzungen, Gewalt und anhaltenden Repressalien ins Ausland geflohen, davon ca. 140.000 nach Deutschland.
Obwohl die explosive Lage seit langem bekannt war, wurde der Kosovo-Konflikt im Dayton-Abkommen ausgeklammert, fanden die jahrelangen Bemühungen der Mehrheit der Kosovo-Albanerinnen und -Albaner um eine friedliche Lösung des Konflikts international und auch seitens der deutschen Politik keine ausreichende und wirksame Unterstützung. Als Folge erleben wir heute eine neue bedrohliche Phase militärischer Eskalation, blutiger „Befriedungsaktionen“ und der Vertreibung.
Die katastrophale Entwicklung in der Region ist auch das Ergebnis mangelnden politischen Drucks, kurzsichtiger Krisendiplomatie und sich gegenseitig blockierender Eigeninteressen der westlichen Staaten.
Was die deutsche Politik – ungeachtet der Eskalation der Kämpfe im Kosovo – in diesem Zusammenhang unter „Problemlösung“ versteht, machen Äußerungen führender Politiker der Koalition in den vergangenen Tagen und Wochen klar: „Abwehr“, „Auffanglager“, „Kein Abschiebungsstopp“, „Regionalisierung“ usw. – so lautete der Tenor der Vorschläge. Im Falle eines Krieges so Außenminister Kinkel im Mai, würden die Deutschen die Leidtragenden sein, dann würden viele weitere Flüchtlinge kommen.
Um dieses für die deutsche Politik alptraumhafte Szenario zu verhindern, stehen Politik, Ämtern und Behörden nach der Abschaffung eines effektiven Asylgrundrechts eine ganze Reihe von Abwehrmaßnahmen und -instrumenten zur Verfügung:
Beispiel Bürgerkriegsflüchtlingsstatus:
Krieg und Bürgerkrieg gelten nach deutschem Recht nicht als asylrelevant; der im Asylkompromiss vor 5 Jahren (!) beschlossene Sonderstatus für Bürgerkriegsflüchtlinge (§ 32 a AuslG) ist noch immer nicht wirksam umgesetzt.
Beispiel Drittstaatenregelung:
Die meisten Flüchtlinge aus dem Kosovo kommen auf dem Landweg. Werden sie an der Grenze aufgegriffen, werden sie sofort wieder zurückgeschickt. Aber auch von den Flüchtlingen, die ein Asylverfahren durchlaufen, wird gerade jeder Hundertste anerkannt.
Beispiel Rückübernahmeabkommen:
Die Bundesregierung hält am Rückübernahmeabkommen mit der Bundesrepublik Jugoslawien fest, obwohl Menschenrechtsorganisationen seit Beginn der Rückführungen immer wieder über Schikanierungen, Misshandlungen und Inhaftierungen berichtet haben. Die Bundesregierung hat es versäumt, im Abkommen Sicherheitsgarantien und Kontrollen für die Betroffenen festzuschreiben.
Beispiel Abschiebungsstopp:
Obwohl ein genereller Abschiebungsstopp den effektivsten Schutz für die im Falle der Abschiebung von politischer Verfolgung, schweren Menschenrechtsverletzungen oder konkreten Gefahren für Leib und Leben bedrohten Personen darstellt, wird der entsprechende § 54 AuslG nach einer Vereinbarung der Innenminister vom März 1996 nur noch einvernehmlich – d.h. in der Praxis so gut wie nie – angewandt. Selbst im Juni, als Nato-Stäbe wegen der gefährlichen Zuspitzung der Lage im Kosovo bereits Einsatzpläne entwarfen, sah Bundesinnenminister Kanther „überhaupt keinen Anlaß“, einen Abschiebungsstopp zu erlassen.
Beispiel Lageberichte des Auswärtigen Amtes:
Dass die von vielen Menschenrechtsorganisationen geäußerte Vermutung einer absichtsvollen Verharmlosung der Menschenrechtssituation in den Lageberichten des Auswärtigen Amtes auch im Falle des Kosovo zutrifft, zeigt sowohl die einseitige Brandmarkung von UCK-Mitgliedern als Terroristen im Lagebericht des Auswärtigen Amtes als auch die Tatsache, dass neuerdings Bedienstete des Bundesamtes an die Deutsche Botschaft in Jugoslawien abgestellt werden, um bei der Erstellung des Berichts mitzuwirken, der dann zur Grundlage bei Asylentscheidungen und bei Abschiebestoppregelungen der Innenminister genommen wird.
Diese wenigen Beispiele kennzeichnen den Charakter einer Politik, deren oberste Maxime bei der Wahrnehmung von Konflikten in der Abschottung vor Flüchtlingen besteht. Das ist die verengte Sichtweise und kurzsichtige Perspektive der Politik eines Landes, das – nach Jahren historisch bedingter Abstinenz – Weltpolitik aktiv mitgestalten will und darüber seine besondere Verantwortung und Verpflichtung gegenüber Menschenrechten und Flüchtlingsschutz aus der eigenen Geschichte zu verdrängen und zu vergessen scheint.
Dagegen ist die Forderung nach einer zivilen Politik zu stellen, die nationale Borniertheit überwindet und Flüchtlingen aus dem Kosovo Schutz und Hilfe gewährt.
Die Forderungen und Appelle von Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen in Deutschland und Europa und des Europäischen Flüchtlingsrates ECRE an die Verantwortlichen in den jeweiligen Ländern müssen umgesetzt werden Dazu gehören:
- Das Schutzbedürfnis asylsuchender Menschen aus dem Kosovo muss in Europa anerkannt werden. Die Verpflichtung der Unterzeichnerstaaten der Genfer Flüchtlingskonvention, keine Flüchtlinge, die um Asyl ersuchen, an den Grenzen zurückzuweisen, gilt absolut (ECRE, Juni 1998).
- Es ist klar, dass es weder im Kosovo noch in Montenegro oder sonstwo in Serbien eine interne Fluchtalternative gibt, die die Ablehnung eines Asylgesuch rechtfertigen könnte (ECRE).
- Die EU -Innen und -Außenminister sind gefordert, unverzügliche eine EU-Sonderkonferenz einzuberufen, um ein humanitäres Konzept und Sofortprogramm zur Aufnahme von Kosovo-Flüchtlingen zu entwickeln, mit dem UNHCR abzustimmen und finanzielle Mittel dafür bereitzustellen.
- „Lastenverteilung“ heißt, dass alle EU-Staaten entsprechend ihrer Bevölkerungszahl, der wirtschaftlichen Kapazität und Infrastruktur ihrer Verantwortung gerecht werden und Flüchtlinge aufnehmen.
- Das Konzept der „Regionalisierung“, d.h. die Unterbringung der Flüchtlinge möglichst nahe ihrer Heimat, muss auch als Anknüpfung an frühere Bindungen und Bezugspunkte verstanden werden, an sprachliche, kulturelle, familiäre und Arbeitsbeziehungen. Es ist nachvollziehbar und verständlich, dass sich viele bedrohte Flüchtlinge zu ihren Verwandten nach Deutschland begeben. Von 400.000 Kovovo-Albanerinnen und -Albanern in Deutschland leben 2/3 als Arbeitsmigrantinnen und -migranten seit vielen Jahren hier.
- Ein Abschiebestopp in die BR-Jugoslawien ist unverzüglich zu erlassen.
Das Rückübernahmeabkommen ist aufzukündigen.
Angesichts der dramatisch zugespitzten Lage und des wachsenden Flüchtlingselends sind Deutschland, aber auch andere EU-Staaten, dringend gefordert, alle Völkerrechtsinstrumente zum Schutz von Flüchtlingen anzuwenden und voll zur Geltung zu bringen.