Frankfurter Allgemeine Zeitung
Rhein-Main-Zeitung
Freitag, 5. Oktober 1990, Nr. 232 / Seite 63
Asylbewerber dürfen Kreis verlassen
Verwaltungsgericht erlaubt Teilnahme an Veranstaltung von Pax Christi –
Landrat erstaunt
UK. HOFHEIM/WIESBADEN. – Mit einer einstweiligen Anordnung hat das Verwaltungsgericht Wiesbaden die Ausländerbehörde beim Landrat des Main-Taunus-Kreises verpflichtet, einer Asylbewerberin und ihren beiden Kindern die Teilnahme an einer Ferienfreizeit in Gedern im Vogelsberg zu gestatten. Der Landrat hatte die Genehmigung zum Verlassen des Kreises nach Paragraph 25 des Asylverfahrensgesetzes zunächst verweigert. Der Beschluß des Verwaltungsgerichts soll nun auch für 36 andere Mitglieder der Reisegruppe Anwendung finden. Sie können vom 6. bis 13. Oktober an der Freizeit teilnehmen, die vom „Solidaritätskreis Asyl“ der Hofheimer Basisgruppe der Organisation Pax Christi organisiert wird.
Mit einer Gruppe von 80 Personen, darunter 57 Kindern, will der „Solidaritätskreis“ morgen in das Familienferiendorf Gedern fahren. Die Kosten werden durch Spenden gedeckt. Der Aufenthalt sei seit dem Jahresbeginn vorbereitet worden, sagte der Sprecher von Pax Christi, Pfarrer Herbert Leuninger. Eingeladen seien Flüchtlinge aus Hofheim und Umgebung, zu denen die Gruppe seit Jahren Kontakt habe. Darunter seien (anerkannte) Asylberechtigte, Asylbewerber und „De-facto-Flüchtlinge“ – Personen, deren Asylgründe nicht anerkannt wurden, die aber auch nicht abgeschoben werden.
„Bei den beengten Wohnverhältnissen, in denen viele von ihnen leben müssen, ihrer weitgehenden Isolierung und der Unmöglichkeit, selbst einen Urlaub zu gestalten und zu finanzieren, betrachten wir diese Freizeit als eine wichtige Maßnahme der Erholung, des gegenseitigen Austauschs und der psychischen Stabilisierung“, schrieb die Pax-Christi-Gruppe in einem Brief an Landrat Jochen Riebel (CDU). Beigelegt waren Anträge für 39 Personen, die für die Reise von der Verpflichtung, sich im Main-Taunus-Kreis aufzuhalten, freigestellt werden wollten.
In Zwischenbescheiden wurde jedem einzelnen Antragsteller mitgeteilt, daß der Landrat nicht bereit sei, eine Ausnahmegenehmigung „zu Zwecken des Urlaubes beziehungsweise einer Familienfreizeit im Feriendorf Gedern zu erteilen.“ Die Reise stelle keinen zwingenden Grund im Sinne des Asylverfahrensgesetzes und der Rechtsprechung dar, erklärte das Landratsamt: „Weiterhin sind keine Gründe vorgetragen worden, die bei einer Versagung der Erlaubnis eine unzumutbare Härte darstellen würden.“
Für die Asylbewerber bestehe auch innerhalb des Kreisgebietes die Chance zu Begegnung und Austausch. Auch die angestrebte Freizeitmaßnahme könne dort bei Bedarf verwirklicht werden, beschied die staatliche Abteilung im Kreishaus die Antragsteller, denen Mitte September eine Zweiwochenfrist eingeräumt wurde, um sich zur angekündigten Ablehnung des Antrags zu äußern („Gewährung rechtlichen Gehörs“).
Die Pax Christi-Gruppe bestreitet, daß es auch im Main-Taunus-Kreis ähnliche Möglichkeiten für eine Ferienfreizeit gibt. In einem weiteren Brief an den Landrat wies Pfarrer Leuninger daraufhin, daß der Ausschluß eines Teils der Flüchtlinge eine „unbillige Härte“ für die Zurückgelassenen sei. Flüchtlinge mit unterschiedlichem Rechtsstatus lebten zum Beispiel in Gemeinschaftsunterkünften Tür an Tür. Ein Telefongespräch zwischen Riebel und Leuninger brachte keine Annäherung. Die Pax Christi-Gruppe beauftragte daraufhin den Frankfurter Rechtsanwalt Helmut Bäcker mit der Vertretung einer Iranerin, deren Antrag abgelehnt werden sollte.
Der Landrat hatte sich auf die eigene Prüfung und die Kommentierung des Asylverfahrensgesetzes berufen. Er könne die Verweigerung der Genehmigung für einen Urlaubsaufenthalt nicht als unbillige Härte einstufen, meinte Riebel. Die Ausnahmen von der Aufenthaltsbeschränkung seien nur aus zwingenden Gründen geboten, etwa wenn dem Angehörigen einer Religionsgemeinschaft die Teilnahme an einem Gottesdienst außerhalb des Kreises gewährt werde. Riebel kündigte gestern an, man werde nach Vorlage des Gerichtsbeschlusses entsprechend verfahren. Die Entscheidung der Wiesbadener Verwaltungsrichter habe ihn allerdings überrascht. Ihn wundere die Interpretation des Gesetzestextes.