Generic selectors
Nur exakte Ergenisse
Suchen in Titel
Suche in Inhalt
Post Type Selectors
HERBERT LEUNINGER ::: ARCHIV MIGRATION 2015 :::

50 JAHRE TÜRKISCHES VOLKSHAUS
FRANKFURT
„JAHRZEHNTE GEMEINSAMEN HANDELNS“

Feierstunde
im Kaisersaal aus Anlass
des 50-jährigen Bestehens des Türkischen Volkshauses e.V.

Dienstag, 17. November 2015, 17:00 Uhr

PROGRAMM

Musikalische Einleitung
Begrüßung Oberbürgermeister
Peter Feldmann
Ansprache
Ülkü Gürkan-Schneider
Mitgründerin des
Türkischen Volkshauses e.V.
Musikalisches Zwischenspiel
Laudatio
Pfarrer Herbert Leuninger
„Jahrzehnte gemeinsamen
Handelns“
Dank
Vorsitzender Ibrahim Esen
Türkisches Volkshauses e.V.
Musikalischer Ausklang

Musikalische Gestaltung: Aysun Kalmik, Mehmet Ali Yildirim, Kuday
Sahinalp, Hüseyin Kiraz.


RÖMER

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Feldmann!
Sehr geehrter Herr Vorsitzender Esen!
Liebe Freundinnen und Freunde des Türkischen Volkshauses!
Sehr geehrte Damen und Herren!

PAULSKIRCHE

Ich möchte eingangs an die neue Wortschöpfung „Willkommenskultur“ erinnern.

Dieser Tage hat ein erstaunlicher Akt von Willkommenskultur in der historischen Paulskirche stattgefunden. Eingeladen waren die von Frankfurt aufgenommenen Flüchtlinge und deren Betreuerinnen und Betreuer. Heute findet ein ebenfalls erstaunlicher Akt von Willkommenskultur im historischen Römer mit dem Jubiläum des Türkischen Volkshauses statt. Ich bin begeistert, Herr Oberbürgermeister!

Es ist für mich eine große Ehre, hier als Zeitzeuge beim Goldenen Jubiläum des Türkischen Volkshauses zu Ihnen zu sprechen. Zeitzeugen sind Menschen, die, bevor sie selbst dem Vergessen anheim fallen, Ereignisse, die für die Allgemeinheit wichtig sein könnten, mit ihrer persönlichen Erfahrung vor dem Vergessen bewahren möchten. Daher bitte ich um Verständnis, wenn ich nun manches an persönlichen Erfahrungen einbringe.

1972

Ich wurde 1972 in der Verwaltung des Bischofs von Limburg als „Referent für die Katholiken und Mitbürger anderer Muttersprache“ beauftragt; eine ziemlich umständliche Formulierung! Beachten Sie, dass hierbei in einer Sprachregelung des Vatikan das Wort „Ausländer“ vermieden wurde. Außerdem kommt zum Ausdruck, dass sich meine Aufgabe nicht auf die Mitglieder meiner Kirche beschränkt. Dies bedeutete für mich, dass ich meinen kirchlichen Auftrag gleichermaßen als sozial-politischen zu verstehen hatte.

Das erklärt dann auch meine Mitarbeit im „Initiativausschuss Ausländische Mitbürger in Hessen“, dem ich als katholischer Partner des evangelischen Kollegen und Geschäftsführers Detlef Lüderwaldt angehörte.

Hier lernte ich das Türkische Volkshaus kennen und schätzen. Dabei war der Initiativausschuss ein neuartiges Modell multikultureller Kooperation. Sein Entstehen verdankt er dem „Tag des ausländischen Mitbürgers“, der als kirchliche Initiative 1970 erstmals, allerdings nurmehr in Hessen, durchgeführt wurde. Der Initiativausschuss war dann die Fortsetzung des Vorbereitungskomitees, in dem damals die hessischen Bistümer Fulda, Limburg und Mainz neben ihren Wohlfahrtsverbänden, die Diakonischen Werke der Evangelischen Kirche in Hessen, dann die Arbeiterwohlfahrt von Hessen-Nord und Hessen-Süd, das Jugendsozialwerk und die katholische Organisation „action 365“ vertreten waren.

Von Anfang an setzte sich der Initiativausschuss durch öffentliche Aktivitäten für die volle Integration der nichtdeutschen Arbeiterinnen und Arbeiter und ihrer Familien in die Gesellschaft der Bundesrepublik ein. Dabei ließ er sich von dem Prinzip leiten, die Interessen dieses Bevölkerungsteiles zu vertreten. Das galt vor allem im Hinblick auf deren gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Leben der Bundesrepublik. Das Besondere am Initiativausschuss war, dass er die von den nichtdeutschen Organisationen und Gruppen selbst formulierten Probleme und Forderungen übernahm und dann mit dem Nachdruck gesellschaftlicher Großgruppen in der Öffentlichkeit unterstützte.

Die (deutschen) Verbände und Organisationen wirkten demnach als Verstärker für die Forderungen der nichtdeutschen Organisationen und Gruppen. Das war ziemlich ungewöhnlich.

In dem Ausschuss und mit dieser Programmatik spielte das Türkische Volkshaus von Anfang an eine entscheidende Rolle. Für Detlef Lüderwaldt, der selbst über spezifische Erfahrungen als Entwicklungshelfer in Marokko verfügte, war vor allem Ülkü Gürkan-Schneider eine ganz wichtige Ratgeberin. Was sie sagte, das war für ihn fast ein Dogma, das natürlich einem protestantischen Theologe eigentlich fremd ist.

1973

Nehmen wir nun ein Beispiel für die zahlreichen Aktivitäten des Initiativausschusses: Am 8. Dezember 1973 berichtet die Frankfurter Allgemeine Zeitung in ihrem regionalen Teil über die Flugblattaktion des Initiativausschusses „Ausländer fahrt nicht nach Hause“. Dabei werden die nichtdeutschen Arbeitnehmer wegen der Rezession und der Gefahr, den Arbeitsplatz zu verlieren, davor gewarnt, über Weihnachten nach Hause zu fahren. Die rund 300.000 Menschen nichtdeutscher Herkunft in Hessen werden in deutscher, türkischer, griechischer, italienischer, serbokroatischer, portugiesischer, spanischer und arabischer Sprache angehalten, nur dann über die Feiertage in die Heimat zu fahren, wenn sie über eine länger gültige Aufenthalts- und Arbeitsbescheinigung verfügten. Auch sollte möglichst nicht der Arbeitgeber gewechselt werden. Weiter wurde in dem Flugblatt darauf hingewiesen, dass bei Kündigungen die Gewerkschaften oder andere Beratungsstellen aufzusuchen seien. Kritik wird in diesem Zusammenhang daran geübt, dass bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten die Arbeitsmigranten die Hauptlast tragen müssten. Das Flugblatt wurde verantwortet von den hessischen Wohlfahrtsverbänden, den Kirchen, den Vertretern der anderssprachigen katholischen Gemeinden und ausdrücklich vom Türkischen Volkshaus.

1976

Eine andere Aktion: Irgendwann 1976 wurde dem Initiativausschuss mit Poststempel Bonn und ohne Absender der noch nicht veröffentlichte Bericht des Bundesarbeitsministeriums über die Beratungen zur Fortentwicklung einer umfassenden Konzeption der Ausländerbeschäftigungspolitik zugespielt.

KAISERSAAL

Wir haben diesen Bericht eingehend analysiert. Lüderwaldt und ich haben dann für den Initiativausschuss die Konzeption bei einer Pressekonferenz öffentlich gemacht und in der Luft zerrissen.

Denn die in dem Papier enthaltenen Vorstellungen zeigten mit kaum zu überbietender Deutlichkeit, dass Bund und Länder das von ihnen lange Zeit – zumindest verbal – vertretene Konzept einer Integration der ausländischen Arbeitsbevölkerung in die bundesrepublikanische Gesellschaft aufgaben.

Gerade die beiden Hauptpfeiler einer Integrationspolitik, nämlich der Ausbau des Aufenthaltsrechtes und die Gewährleistung des Familiennachzuges, wurden durch die von der Bund-Länder-Kommission erarbeiteten Anregungen vom 4. August 1976 ins Wanken gebracht: So sollte der Aufenthalt der ausländischen Arbeiter in der Bundesrepublik nicht sicherer, sondern unsicherer gemacht werden. Der Familiennachzug für die ausländischen Arbeiter sollte nicht gefördert, sondern ganz im Gegenteil entscheidend erschwert bzw. ganz unmöglich gemacht werden.

1978

1978 gewann Bundeskanzler Helmut Schmidt aber wohl den Eindruck, dass sich irgendetwas an der bisherigen Ausländerpolitik ändern müsste. So setzte er den ehemaligen Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen Heinz Kühn (SPD) zum Ausländerbeauftragten ein. Dieser veröffentlichte im September 1979 eine Denkschrift zur Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien. Es ging als Kühn-Memorandum in die Geschichte ein. Dieses 66-Seiten-Papier wurde von den Wohlfahrtsverbänden und den Kirchen sehr begrüßt. Wichtigste Feststellung war die Anerkennung der faktischen Einwanderung. Kühn stellte fest, dass eine nicht mehr umkehrbare Entwicklung eingetreten sei, und die Mehrzahl der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien nicht mehr als „Gastarbeiter“ angesehen werden könnten, sondern als Einwanderer. Für die Denkschrift war damit die Forderung verbunden, die Integrations- und Bildungsmaßnahmen erheblich zu intensivieren. Eine neue Epoche schien damit eingeläutet.

Ein seltsamer Missklang ereignete sich allerdings in einer Pressekonferenz, bei der es um den Tag des ausländischen Mitbürgers ging. Sie fand am 28. September im Restaurant des Bonner Bundestages statt. Heinz Kühn war der Hauptredner des Podiums und sagte zum Schluss der Ausführungen über sein Memorandum: „Die Ausländer sind nicht unser Problem, aber die Türken“. Ich war entsetzt und konterte als katholisches Mitglied des Ausschusses zur Vorbereitung des Tages und als übernächster Redner, indem ich sagte: „Die Türken sind nicht unser Problem sondern die fremdenfeindlichen Deutschen.“ Viel schwerwiegender war, dass das wirklich bedeutende Memorandum zwar eine große öffentliche Diskussion auslöste, aber so gut wie nichts an der Politik veränderte. Vor allem übernahm diese nicht die Feststellung, dass wir ein Einwanderungsland geworden seien. Dabei war die Bundesrepublik für die Migrationswissenschaft nach den Vereinigten Staaten mittlerweile das zweitgrößte Einwanderungsland der Nachkriegsgeschichte.

1981

1981 wurde die Sinusstudie über die Einstellung der deutschen Bevölkerung zu den Fremden veröffentlicht. Sie war von der Bundesregierung in Auftrag gegeben worden. Nach dieser Studie hatten 13 % der wahlberechtigten Bundesbürger „ein ideologisch geschlossenes rechtsextremes Weltbild“. Als typische rechtsextreme Einstellungen ermittelten die Sozialforscher Hass gegenüber Menschen, die „anders“ sind. Dazu gehörte die Sorge vor einer Überfremdung der Deutschen durch Ausländer. Angst vor ihnen als Bedrohung der deutschen Rasse hatten sogar 37 % der Befragten. In ihren Aussagen wiesen sie eine dem rechtsextremen Denken verwandte „autoritäre Einstellungsskala“ auf. Pegida und Co. lassen grüßen!

Die geistige Auseinandersetzung um Fremdenfeindlichkeit und Rassismus verlief allerdings auf einer höheren, auf einer intellektuellen Ebene. Denn vor der Sinusstudie war das „Heidelberger Manifest“ veröffentlicht worden. Es war von 15 Professoren, die sich als Mitglieder eines „Schutzbundes für das deutsche Volk“ verstanden, unterzeichnet worden.

Sie sahen sich als verantwortungsbewusste Deutsche und Christen, die „aus tieferem Einblick in die Geschichte und in die genetischen Gesetze von ihrem Gewissen gedrängt, angesichts des Schicksals kommender Generationen nur für den Schutz unserer ererbten deutsch-christlich-abendländischen Kultur und die Wertvorstellungen vor der Überrollung durch eine Flut aggressiven Asiatentums eintreten.“

Die Forderung nach völliger Freiheit der Ein- und Auswanderung bedeutete für sie, dass dies „bei uns praktisch zu einer unerträglichen Einbahn von Orient und Mittelmeer führt, auf der hauptsächlich proletarische Massen einströmen und damit den sozialen Aufbau unseres Landes, in dem es keinen eigentlichen Proletarier mehr gibt, und damit auch die Wertskala zu unserem Nachteil verändern“.

Die sozialdarwinistische Gedankenwelt von Dreien der mitunterzeichnenden Professoren ist mir über den Text des Manifestes hinaus und noch vor dessen Bekanntwerden vertraut gewesen. So konnte Professor Theodor Schmidt-Kaler die Thesen bereits 1980 in einem großen Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlichen. Mit ihm führte ich auf einem Seminar für ZDF-Redakteure in Berlin die wohl für mich härteste Diskussion, bei der ich der Verlierer war. Bis auf eine Redakteurin schienen die übrigen Teilnehmer die Auffassungen von Schmidt-Kaler für plausibler zu halten.

Von zwei anderen Mitunterzeichnern des Manifestes lagen mir Briefe und Unterlagen vor, so ein Schreiben von Professor Ferdinand Siebert aus Mainz. Diesem Schreiben beigegeben war ein von ihm verfasster „Aufruf an meine deutschen Landsleute für eine sinnvolle Ausländerpolitik, die gleichzeitig dem Schutze unserer deutschen und christlichen Kultur dienen soll“. Professor Helmut Schröcke von der Universität München, der eigentliche Verfasser des Manifests, hatte dem Bischof von Limburg geschrieben. Sein Brief gipfelte in den Sätzen: „Wenn Pfarrer Leuninger die Forderung nach Herstellung multirassischer Gesellschaften in Deutschland aus zeitopportunen Gründen übernimmt, so ist das recht kurzsichtig. Wenn er sie aber aus den Zeugnissen des christlich-jüdischen Gottes ableitet, so kann dieser Gott nicht der Schöpfer der Allnatur gewesen sein. Dann sind die christlichen Religionen ein mehrtausendjähriger Irrglaube.“

Bei einem internationalen Symposium zur Migration an der Politischen Akademie Tutzing versuchte Schröcke, seine Ideen an den Mann zu bringen. Ich konnte durch eine Meldung zur Tagesordnung erreichen, dass der Tagungsleiter Professor Klaus Bade ihm das Wort entzog, und er wütend den Konferenzraum verließ. Die anwesenden Wissenschaftler aus der DDR waren sehr überrascht. Mit so etwas hatten sie im Westen nicht gerechnet.

Kurze Zeit nach der Artikel von Schmidt-Kaler, erscheint in der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ ein umfangreicher Beitrag von Jürgen Schilling, dem Generalsekretär des Deutschen Roten Kreuzes, mit der Überschrift: „Sind wir fremdenfeindlich, provinziell, vermufft oder gar rassistisch?“ Der Handlungsvorschlag am Ende seines unsäglichen Artikels läuft auf die Repatriierung von Ausländern in ihre Heimat hinaus, wobei Schilling an die Rückführung des größten Teils der Gastarbeiter aus den europäischen Randgebieten bzw. außereuropäischen Randgebieten – wieder sind es die ,Asiaten‘ – denkt. In etwas abgemilderter Form erschien dieser Artikel in dem von den katholischen Bischöfen finanzierten, sehr konservativen „Rheinischen Merkur – Christ und Welt“.

Von der Diskussion um die Ansichten von Jürgen Schilling verdient der vergebliche Versuch des für Ausländerfragen zuständigen Bischofs der Deutschen Bischofskonferenz Wittler von Osnabrück, einen Gegenartikel in der Wochenzeitung zu veröffentlichen, Erwähnung. Immerhin war der Artikel von Jürgen Schilling von der Wochenzeitung als Diskussionsbeitrag gedacht. Der zuständige Redakteur Haug von Kuenheim wollte allerdings vorher wissen, was denn der Bischof wohl schreiben werde. Auf diese unglaubliche Vorzensur konnte der Bischof natürlich nicht eingehen. Ich wusste um diese Auseinandersetzung, weil mich der Bischof zuvor um einen Entwurf für seine Antwort auf Schilling gebeten hatte.

Schließlich hat die Süddeutsche Zeitung Prof. Eibl-Eibesfeldt, dem bekannten Schüler des berühmten Wildgänse-Forschers Konrad Lorenz ihre Spalten geöffnet, um ähnliche Ansichten wie Schilling und Schmidt-Kaler artikulieren zu lassen. Der Chefredakteur Hans Heigert hat mir auf meinen geharnischten Protest hin geschrieben, es gäbe inzwischen bereits einen Gegenartikel von der Redaktion. Außerdem kenne er Eibel-Eibesfeldt persönlich und er halte ihn nicht für einen Fremdenfeind. All diese Ideen haben in Bonn, München und auch in Frankfurt tiefe Spuren hinterlassen.

1982

Im Juni 1982 sah sich der oberste Repräsentant der katholischen Kirche in der Bundesrepublik, Kardinal Joseph Höffner von Köln, zu einer Erklärung mit dem Titel „Kirche und Fremdenangst“ gedrängt. Darin wendet er sich gegen die grassierende Fremdenfeindlichkeit. Er betont, dass sich die Kirche von ihrem Auftrag her vor allem der Fremden und Bedrängten anzunehmen und als Anwalt und Verteidiger ihrer Rechte aufzutreten habe. Dabei umfasse der soziale Dienst der Kirche alle Fremden und Bedrängten ohne Ausnahme und Unterschied von Herkunft und Religion, auch die türkische Bevölkerung.

Insbesondere wendet sich der Kardinal gegen die von der Regierung Schmidt vorgesehenen Maßnahmen zur Behinderung der Familienzusammenführung. Dazu erhebt er in größter Verbindlichkeit die Forderung nach dem uneingeschränkten Recht der Ehegatten, Eltern und Kinder auf Zusammenleben. Er tut dies „in der Einheit mit dem Papst, mit der gesamten Kirche und den Europäischen Bischofskonferenzen namens der deutschen Bishöfe“. Wörtlich heißt es: „Ehegatten haben das Recht zusammenzuleben. Dies gilt auch für die ausländischen Arbeitnehmer. Es widerspricht diesem Recht, wenn neuverheirateten Ehegatten der Nachzug aus dem Heimatland erst nach einem oder drei Jahren gestattet wird. Eltern haben das Recht, ihre Kinder zu erziehen, und Kinder haben einen Anspruch, in der Familie ihrer Eltern zu leben. Das gilt nicht nur für Kinder unter sechs Jahren, sondern auch für heranwachsende Kinder. Diese Rechte dürften aus ideologischen, wirtschaftlichen oder politischen Gründen nicht eingeschränkt werden“. Mir war der Entwurf zu dieser Erklärung angetragen worden.

1984

Damit Sie keinen falschen Eindruck bekommen. In meiner Kirche herrschte in Sachen Integration und Einwanderung keineswegs Harmonie. Nur ein Beleg: 1984 fand in München der Katholikentag statt. Bei einer Podiumsdiskussion hat mich der bayerische Kultusminister Professor Hans Maier, der gleichzeitig Präsident des Zentralkomitees der Katholiken war, in aller Schärfe für meine doch eigentlich kirchentreuen Auffassungen angegriffen. Damals hat mich Liselotte Funcke (FDP), die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, die das Podium moderierte, verteidigt. Sie selbst hat übrigens nach zehn Jahren ihren Auftrag zurückgegeben. Sie kam nicht mehr zurecht mit der restriktiven Ausländerpolitik von Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann von der CSU.

1989

Und jetzt ein Zeitsprung in das Jahr 1989. Es war für Frankfurt ein wichtiges Jahr. In diesem Jahr hat die Stadt nämlich als erste ein Amt für multikulturelle Angelegenheiten eingerichtet. Initiator war der ehrenamtliche grüne Dezernent und spätere Europapolitiker Daniel Cohn-Bendit. Von ihm stammt wohl auch die herrliche Sprachschöpfung „Multikulti“. Dieses heiter klingende Wort war indes für die Gegner einer multikulturellen Gesellschaft ein gefundenes Fressen. Weil es als nicht besonders seriös eingeschätzt wurde, musste es für die abschätzige Kritik der damit verbundenen Ideen herhalten.

Das Amt wurde personell großzügig ausgestattet und repräsentierte über Regierungswechsel hinweg in seiner multiethnischen Zusammensetzung bereits das neue Frankfurt, die deutsche Großstadt mit dem wohl bis heute höchsten Anteil an nichtdeutschen Einwohnern. Das war beispielhaft für die ganze Republik.

Erste Amtsleiterin war Rosi Wolf-Almanasreh, die übrigens den Verband binationaler Familien und Partnerschaften gegründet hat und als dessen Vorsitzende Mitglied des Initiativausschusses war. Ihren 60. Geburtstag feierten wir mit ihr im Frankfurter Ratskeller. Dabei machte ich einige Fotos u.a. von Ülkü Gürkan und dem damaligen Vorsitzenden des Volkshauses Ismael Ercan.

Was eine multikulturelle Gesellschaft anlangt, hatte ich mich bereits auf Studienreisen 1977 in den USA und 1978 in London zu informieren versucht.

Der Begriff stammt aus dem angloamerikanischen Sprachraum. Er kennzeichnet seit Mitte der sechziger Jahren eine Wende in der Einwanderungspolitik der USA, Kanadas und Australiens. Die klassischen Einwanderungsländer hatten sich von der Vorstellung des „Schmelztiegels“ abgewandt. Der Schmelztiegel galt als Bild für eine Gesellschaft, in der die unterschiedlichsten Kulturen und Traditionen zu einer einheitlichen Legierung verschmolzen werden sollten. Diese Politik, die Politik der Assimilierung, galt als gescheitert. Bei der Suche nach einem neuen Bild für das Zusammenleben wählte man die „Salatschüssel“. Sie stand für die verschiedensten Ingredienzien, die trotz ihrer Mischung als solche weiterbestehen und dann gemeinsam den Wohlgeschmack des Ganzen ausmachen: „Die Frankfurter Mischung“ (so Feldmann).

Thesen zur multikulturellen Gesellschaft hatte es bei uns bereits 1980 gegeben. Der bereits erwähnte interkonfessionelle Vorbereitungsausschuss für den Tag des ausländischen Mitbürgers hatte sie beschlossen. Meine Aufgabe war es seinerzeit, anlässlich eines Symposions im Dominikanerkloster von Frankfurt die neun Thesen der Öffentlichkeit vorzustellen. Die innerhalb und außerhalb der Kirchen sehr umstrittene erste These lautete: „Wir leben in der Bundesrepublik in einer multikulturellen Gesellschaft.“

Das multikulturelle Selbstverständnis möchte ich als besonders charakteristisch für das Türkische Volkshaus ansehen. 2009 hat der Vorsitzende Ibrahim Esen dem Amt für multikulturelle Angelegenheiten zum 20-jährigen Bestehen gratuliert und auf die erfolgreiche Zusammenarbeit hingewiesen. „Wir konnten uns während der gesamten Zeit des Bestehens des Amtes darauf verlassen, dass unser Anliegen der Anerkennung und der Gleichberechtigung von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unterstützt wird, und dass wir in kritischen Situationen ausländerfeindlicher Anfeindungen und Benachteiligungen auf Solidarität zählen konnten und können.“

Dabei denke ich auch daran, dass die Türkei ein Vielvölkerstaat ist. Ein britischer Völkerkundler (Peter Andrews) listete sogar neben der mehrheitlich türkischen Bevölkerung 51 größere und kleinere ethnische Gruppen auf. Hier stellte sich die besondere Aufgabe, den nationalen Zusammenhalt zu fördern. 1932 wurden die Volkshäuser geschaffen, die eine bewegte Geschichte hatten. Es ging bei ihnen – zu besten Zeiten waren es viertausend – um die Verbesserung der Bildungssituation und, bei allem Respekt vor den Herkunftskulturen, um die Pflege einer gemeinsamen modernen Kultur. So gehörten zum Programm u.a. Theateraufführungen, Konzerte, Filmvorführungen, Ausstellungen und Vorträge. In dieser Tradition sehe ich das Türkische Volkshaus stehen. Es war und ist auf seine Weise für Frankfurt ein multikulturelles Modell, ein unverzichtbares.

2015

Von den unzähligen und vielseitigen Aktivitäten des Türkischen Volkshauses über die Jahrzehnte hinweg möchte doch wenigstens noch zwei aus jüngerer Zeit benennen:

So soll, wie ich dieser Tage erfuhr, in Abstimmung mit dem Volkshaus am Hülya Genc-Platz in Frankfurt-Bockenheim eine Gedenktafel angebracht werden. Sie wird darauf hinweisen, dass dieser Platz an die neunjährige Türkin Hülya Genc erinnern soll, die mit ihrer Familie in Solingen lebte. In der Nacht des 29. Mai 1993 wurde sie zusammen mit vier weiteren Familienangehörigen durch einen heimtückischen Brandanschlag auf das Haus der Familie getötet. Der Schlusssatz der Gedenktafel lautet: „Der Tod von Hülya warnt vor Fremdenhass und seinen furchtbaren Folgen.“

2013 bin ich der Mutter von Hülya in Köln begegnet. Dort fand zum 20. Jahrestag des Brandanschlags von Solingen eine Gedenkveranstaltung statt. Ich war dazu eingeladen worden, weil ich bei der Solinger Großkundgebung, die eine Woche nach dem furchtbaren Ereignis stattfand, für „Pro Asyl“ gegen den Fremdenhass Stellung zu beziehen hatte. In Köln hat mich Mevlüde Genc tief beeindruckt, wie sie sich in großer Gottergebenheit für Versöhnung und gegen allen Hass aussprach.

2011

Eine weitere Erinnerung:

Nach dem Tod von Detlef Lüderwaldt 2011 hatte das Volkshaus zu einem Erinnerungstreffen eingeladen. Ich zeigte mich in meinem Beitrag überrascht über ein Buch, das Detlef ein Jahr zuvor herausgegeben hatte. Der Titel lautete: „Jesus von Nazareth – Impulse für eine menschliche Erde“. Natürlich, er war ein in der Wolle gefärbter evangelischer Pastor. Ich kann mich aber nicht erinnern, dass wir in unserer Arbeit für den Initiativausschuss miteinander über christliche Themen gesprochen hätten. Waren wir doch eher, wenn man es so sagen kann, ausgesprochene Politpfaffen, denen keine besonders frommen Töne nachgesagt wurden. In seinem Buch bekannte sich Detlef als absoluter Jesusfan, den er als idealen Menschen, allerdings nicht als Gott, verehrte. Wörtlich schreibt er: „Dem Beispiel Jesu zu folgen heißt, Mitarbeiter an einer guten, menschlichen Erde zu sein, auf dass die Erde zu einer Heimstatt für alle Menschen werde.“ Ein weiteres Zitat aus seinem Buch zeigt, warum Lüderwaldt der ideale Geschäftsführer für den Initiativausschuss war, wenn er schreibt. „Woher wir Menschen auch immer die Liebe zum Leben und zu den Menschen gewinnen, aus den Quellen der verschiedenen Religionen, Philosophien, Weltanschauungen oder aufgrund von eigener Lebenserfahrung und Lebenserkenntnis, alle diese Menschen, die Freunde des Lebens, sollten sich vereinen zu einem großen Bündnis gegen die Mächte der Lebenszerstörung.“

Dazu gehört dann nach seiner Definition von Integration, wie er sie in dem Handwörterbuch „Ausländerarbeit“ 1984 formuliert hat: „Integration meint, dass alle in der Bundesrepublik wohnenden Bevölkerungsgruppen in voller Gleichberechtigung einander ihre kulturellen Besonderheiten respektieren, sich wechselseitig beeinflussen und voneinander lernen.“ So hat er die grenzen- und kulturenüberschreitende Arbeit des Initiativausschusses verstanden. So fühlten sich die Mitglieder des Türkischen Volkshauses angesprochen und einbezogen. So konnten sie sich auf überzeugende Weise über 50 Jahre hinweg in Frankfurt einbringen. Was jetzt auf uns zukommt in der Türkei, in Deutschland, in Europa – und nicht erst seit dem Massaker von Paris – , wir wissen es nicht. Wichtig ist, dass wir nichts von dem aufgeben, was unsere Zusammenarbeit bislang geprägt hat.

Ich gratuliere dem Türkischen Volkshaus!

Oberbürgermeister Peter Feldmann und Mitglieder des Türkischen Volkshauses.
Herbert Leuninger (2.v.r.)


Nach oben