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HERBERT LEUNINGER ::: ARCHIV RADIO KURZPREDIGTEN 1970 ::: ARCHIV KIRCHE 1970 :::
Zuspruch am Morgen

Hessischer Rundfunk Frankfurt
Woche vom 27. Juli – 1. August 1970

RADIO KURZPREDIGTEN

Sündenböcke


Nach der Fußballweltmeisterschaft in Mexiko wurden in der Sowjetunion und in Bulgarien Sündenböcke gesucht, die dafür verantwortlich gemacht werden konnten, daß beide Mannschaften so schlecht abgeschnitten hatten. Das wäre bei uns nicht viel anders gewesen. In solchen Fällen wird immer ein Schuldiger gesucht, über dem sich der ganze Zorn entladen kann, und der selbstverständlich auch bestraft wird. In der Sowjetunion mußten die beiden Trainer herhalten, in Bulgarien traf das Strafgericht auch die 22 Spieler. Sie wurden wegen Fahnenflucht aus der Nationalmannschaft ausgestoßen. Die Bestrafung wird allen eine Genugtuung sein, die durch das schlechte Abschneiden ihrer Mannschaft in ihrem nationalen Selbstbewußtsein getroffen waren.

Daß Sündenböcke gesucht werden, die oftmals unschuldig zu büßen haben, ist ein Vorgang, der sicher so alt ist wie die Menschheit selbst. Wir kennen es aus dem politischen Geschäft, wir kennen es aus dem täglichen Leben und aus der Geschichte der Völker. Dort sind es vornehmlich die Fremden, die kulturell und rassisch Andersartigen, die Minderheiten. Auf sie werden die eigene Unzulänglichkeit oder uneingestandene Schuldgefühle abgewälzt. Bis auf den heutigen Tag sind es die Juden, die etwa in Israel ihre nackte Existenz zu verteidigen haben. In Südafrika und Nordamerika kämpfen die dunkelfarbigen Menschen um Gleichberechtigung. Bis in die Träume hinein spielen sie bei Weißen die Rolle des dunklen Schattens, der ein Hinweis auf unbewältigte Schuldgefühle ist. Die vermeintliche oder wirkliche Schuld wird also vom Unterbewußtsein auf die Farbigen übertragen. Hier liegen die Wurzeln von Abneigung und Haß. Aus der unbewußten Angst vor dem Sexuellen, das sich im Weiblichen symbolisiert, werden Frauen als Hexen verurteilt und hingerichtet. Die eigenen Probleme werden auf Kosten anderer in rigoroser Weise zu lösen versucht.

Die Vorstellung vom Sündenbock besitzen wir aus der Bibel. Dort versuchte der Hohepriester, auf rituelle Weise das Volk von seiner Schuld zu befreien. Am großen Versöhnungstag wurde ein lebender Bock vor den Altar gestellt. Der Hohepriester sollte ihm beide Hände auf den Kopf legen und „über ihm alle Verschuldungen der Israeliten und alle ihre Übertretungen, die sie irgendwann begangen hatten, bekennen, sie auf den Kopf des Bockes übertragen und ihn durch einen bereitstehenden Mann in die Wüste schicken“. So hatte das Tier alle Schuld des Volkes auf sich zu nehmen und sie in eine abgelegene Gegend zu tragen. Es selbst würde irgendwo in der Wüste umkommen.

Sicher erlebte das Volk diesen Vorgang als befreiend und erlösend, insofern es diesem Ritual voll vertraute. Wir haben solches Vertrauen längst verloren, wenigstens in unserem bewußten Verhalten. Allerdings stehen wir in der ständigen Versuchung, Sündenböcke zu suchen. Die Psychologie, die diese innerseelischen Abläufe entdeckt hat, nimmt uns aber das Recht dazu. Die Entlastung von Schuld und Schuldgefühlen muß auf andere Weise erfolgen. Der Glaube sieht die eigentliche Entlastung von Schuld in der Person Jesu gegeben. Er habe, so heißt es im Brief an die Hebräer, die Sünden aller auf sich genommen, um sie auf das Kreuz zu tragen. Die Parallele zum Sündenbock der vorchristlichen Zeit ist offensichtlich. Die Schuld der Menschheit – unsere Schuld – liegt auf ihm. Die Wüste, in die er hinausgeführt wird, ist das Kreuz. Soweit die Parallele. Das Neue liegt darin, daß die Schuld im Zentrum einer Person überwunden wurde und nicht in einem magischen Ritus. Ausschließlich nach diesem Gesetz wird auch eigene Schuld zu bewältigen sein.


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