Herbert Leuninger
BISCHÖFLICHES ORDINARIAT LIMBURG
ALS FREMDE ZUHAUSE – ZUHAUSE IN DER FREMDE
DIE MULTIKULTURELLE GESELLSCHAFT AUS KIRCHLICHER SICHT
Referat auf der Tagung der Evangelischen Akademie Bad Boll und der Katholischen Akademie Stuttgart „Auf dem Weg zu einer multikulturellen Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland“ vom 13.-15. März 1981 in der Evangelischen Akademie Bad Boll
INHALT
- Die Kirchen sind herausgefordert
- Absicht des Referates
- Die Kirche glaubt an eine multikulturelle Gesellschaft
- Die Heilshoffnung Israels
- Die Kirche ist als Heilsgemeinde des Neuen Bundes eine multikulturelle Gesellschaft
- Das Selbstverständnis der katholischen Kirche als universale und multikulturelle Gemeinschaft
- Die Kultur in der Auffassung der katholischen Kirche
- Migration und Multikulturalität
Die Kirchen sind herausgefordert
Für Bundeskanzler Helmut Schmidt ist die politische Zielvorstellung klar: „Wir wollen kein Nationalitätenstaat werden“ (unkorrigiertes Manuskript der Pressekonferenz am Donnerstag, 12. Februar 1981 im Bundeskanzleramt). Auf einer Pressekonferenz, die er zusammen mit dem jugoslawischen Ministerpräsidenten Djuranovic abgehalten hat, erteilt er der These, wie sie der ökumenische Vorbereitungsausschuß für den Tag des ausländischen Mitbürgers 1980 formuliert hatte, daß wir nämlich in der Bundesrepublik in einer multikulturellen Gesellschaft lebten, eine eindeutige Absage. Das wird noch deutlicher, wenn der Bundeskanzler seine Vorstellungen von der Integration erläutert. „Wir würden uns freuen“, so schließt Schmidt an den eben zitierten Satz an, „wenn die jungen Menschen später nach ihrer Ausbildung nach Hause, nach Jugoslawien gingen. Wenn sie hier bleiben wollten, würden wir uns freuen, wenn sie deutsche Staatsbürger würden. Entweder das eine oder das andere. In weiche Ausdrücke der Sympathie gehüllt heißt die harte Alternative: Assimilierung oder weg aus der Bundesrepublik. Ich wähle diesen schärferen Ausdruck für den zweiten Teil der Alternative, weil das Wort „Rückkehr“ wohl nur für die erste Generation Geltung haben könnte.
Auch „Die Welt“ versteht die Aussage des Bundeskanzlers in einen Kommentar (15.2.1981) als Absage an jene, die einer „gegenseitigen Integration“ das Wort redeten und von der „multikulturellen Gesellschaft“ träumten. Und die Kirchen? Dort habe man zugunsten einer oft verwaschenen Pseudohumanität klares Denken über Bord geworfen und spreche – logischer Widerspruch in sich – von „ausländischen Mitbürgern“.
Die Kirchen geraten neuerdings in Sachen Integrationspolitik nicht nur stark ins Blick-, sondern sogar ins Schußfeld. Zu erwähnen sind an dieser Stelle auch die Ausführungen des Generalsekretärs des Deutschen Roten Kreuzes, Jürgen Schilling, in der „Zeit“ (Nr. 48 – 21.11.1980). Die Kirchen und die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege seien mit ihren Appellen gescheitert, „der deutsche Bürger möge den Gastarbeiter in der Nachbarschaft positiv annehmen, sich mit seiner Gedanken- und Gefühlswelt auseinandersetzen und die Begegnung mit den Zuwanderern aus fernen Ländern eher als eine Bereicherung denn als eine Belastung empfinden.“ Schilling will wissen, daß Enttäuschung bekennende Pädagogen und Seelsorger nicht abzuschrecken pflegt. Die Befürworter einer umfassenden Ausländerintegration verstärkten die Werbung für mehr Mitmenschlichkeit, so daß die Belehrung gelegentlich in Agitation umzuschlagen beginne. Hand-in-Hand damit gingen massive Forderungen an den Staat, die Planstellen für Sozialpädagogen und Sozialarbeiter drastisch zu vermehren. Es werde aber selbst „den vereinten Anstrengungen der Prälaten und Sozialarbeiter“ nicht gelingen, mit dem Vorwurf, die Ablehnung der Integration sei unchristlich und reaktionär zugleich, die Sperre des Nichtwollens zu durchbrechen. Wörtlich: „Es mag bitter für die Kirchen sein, aber sie werden den störrischen Eigensinn des größten Teils ihrer Gemeinden zur Kenntnis nehmen müssen, der seine eigene Identität behalten und nicht in einen „Völkerbrei“ versinken wolle.
Es müßte jetzt noch die Sprache auf die wachsende Fremdenfeindlichkeit und das verstärkte Herausstellen des nationalen Gedankens kommen. Dies sei aber nur als wichtige Tendenz erwähnt.
Absicht des Referates
Ich halte die Ausgangslage für hinlänglich skizziert, um die kirchliche Sicht einer multikulturellen Gesellschaft darzulegen. Im Rahmen dieser Tagung brauche ich mich nicht auf die Auseinandersetzung über das Faktum selbst einzulassen. Ich möchte theologische Gedanken vorlegen, die das Verhältnis der Kirche zu einer multikulturellen Gesellschaft und ihrer Verantwortung in einer solchen beschreiben. Vielleicht gelingt es mir zu zeigen, daß eine multikulturelle, multiethnische, multirassische oder multinationale Gesellschaft in der Kirche ihr eschatologisches Pendant hat und daß gerade die Kirche von ihrem Glauben an eine universale Heilszusage Gottes die Institution ist, die wie kaum eine andere zur Gestaltung einer solchen Gesellschaft beitragen kann und ihrem Auftrag entsprechend beitragen muß.
Die Kirche glaubt an eine multikulturelle Gesellschaft
Ich verwende „multikulturelle Gesellschaft“ als Synonym für eine Gemeinschaft, die aus Menschen verschiedenster ethnischer, nationaler, sprachlicher, religiöser, weltanschaulicher, sozialer und politischer Herkunft besteht. Dabei ist die Aufzählung möglicher Verschiedenheiten nicht vollständig, weist aber in die Richtung des von mir undifferenziert und undefiniert verwendeten Kulturbegriffs. Mit multikultureller Gesellschaft verbinde ich nicht nur die Umschreibung der besonderen Qualität, die ein Einwanderungsland wie die Bundesrepublik neben vielen anderen Ländern kennzeichnet, sondern nehme multikulturelle Gesellschaft auch als eschatologischen Begriff. Das in dieser Doppelverwendung liegende Bedeutungsschillern nehme ich nicht nur in Kauf, vielmehr lege ich es aus meinem Verständnis von Eschatologie als unaufhaltsames Andrängen der Gottesherrschaft in unsere Welt meinen Ausführungen zugrunde. Dies ist bereits, wenn Sie so wollen, eine Art theologisches Programm, das ich zur Diskussion stelle.
Wenn ich sage, die Kirche glaubt an eine multikulturelle Gesellschaft, dann meine ich den Glauben an eine Heilszusage und das Glaubenszeugnis einer Heilserfahrung.
Die Heilshoffnung Israels
Dieser Glaube steht in der messianischen Kontinuität der Heilshoffnung des Volkes Israel, die in einer Spannung sondergleichen eine national-messianische und eine universal-eschatologische Komponente hatte. Beide Komponenten waren ursprünglich und über lange Zeit hinweg selbständige Glaubenstraditionen, die erst allmählich zu einer Einheit zusammengeführt werden konnten, was allerdings nie restlos gelungen zu sein scheint (vgl. Schnackenburg, Gottesherrschaft und Reich).
Als exemplarischen Beleg für Israels universalen und damit multikulturellen Glauben mag Jesaia 2,2 – 4 gelten“:
„In der Folge der Tage wird es geschehen: Da wird der Berg des Hauses Jahwes fest gegründet stehen an der Spitze der Berge und erhaben sein über die Hügel. Zu ihm strömen alle Völker. Dorthin pilgern viele Nationen und sprechen:
Auf, laßt uns hinaufziehen zum Berge Jahwes, zum Hause des Gottes Jakob ! Er lehre uns seine Wege, und wir wollen auf seine] Pfaden wandeln. Denn von Zion wird ausgehen das Gesetz und das Wort Jahwes von Jerusalem.
Dann wird er richten zwischen den Völkern und vielen Nationen Schiedsrichter sein. Sie werden umschmieden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Speere zu Winzermessern. Nimmer wird Volk gegen Volk zum Schwert greifen; üben wird man nicht mehr zum Krieg,“
Der Text bietet eine Fülle eschatologischer Aussagen und vor allem Symbole:
- Der Berg des Hauses Jahwes, der Zion, als der Berg des wahren Gottes, der alle anderen Götterberge überragt.
- Dieser Berg als Ziel der Wallfahrt aller Völker, die sich unter die einigende Herrschaft Jahwes begeben.
- Das Haus des Gottes Jahwe, Jerusalem als das universale Zuhause aller Völker.
- Lehre, Gesetz, Wort Jahwes als für die gesamte Welt geltende Lebensordnung.
- Das Gericht über alle Völker.
- Der Übergang vom Nationalismus zu einem universalen Friedensreich
- Die Einheit aller Völker, die als solche nicht eliminiert werden; eine Friedensordnung; die Relativierung des Nationalen zugunsten des Universalen.
- Verständigung und Versöhnung unter der Herrschaft Gottes und die prinzipielle Gleichheit aller Völker vor diesem Gott: Das ist die multinationale Weltgesellschaft oder die multikulturelle Gesellschaft.
Mit dieser Vision der unter der Herrschaft Gottes geeinten Völker ist die Versuchung, menschliche Macht und Selbstbehauptung ins Unermeßliche zu steigern und durch eine Aufgipfelung im Turm zu Babel zu symbolisieren, überwunden und die Ruinierung menschlicher Einheit durch heterolinguale Kommunikationslosigkeit in der Verständigung des Friedens aufgehoben.
Die Kirche ist als Heilsgemeinde des Neuen Bundes eine multikulturelle Gesellschaft
Der Übergang vom Glauben eines kleinen Volkes an die multikulturelle Endgesellschaft zum Glauben des neuen Volkes Gottes, diese Gesellschaft bereits auf sakramentale Weise darzustellen, erfolgt, wie die Schriften des Neuen Testamentes belegen, unter größten Spannungen und Zerreißproben.
Jesus sieht seinen Verkündigungsauftrag in einer prophetischen Tradition, wobei er die Zeit als erfüllt und die Herrschaft Gottes als nahe gekommen erklärt. Obwohl dies ohne eine universale und multikulturelle Dimension nicht möglich ist, sieht sich Jesus in seinem Verkündigungsauftrag auf Israel beschränkt und trägt seinen Jüngern auf, nicht zu den Samaritern und Heiden zu gehen (Mt 10,6), sondern nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel.
Seine Hinweise auf eine universale Heilsgemeinschaft sind in prophetischen Drohreden eingekleidet, die gegen die bekehrungsunwilligen Juden gerichtet sind. So etwa wenn er sagt: „Viele werden vom Aufgang und Niedergang kommen und mit Abraham, Isaak und Jakob im Himmelreich zu Tische liegen. Die Söhne des Reiches aber werden hinausgeworfen werden in die äußerste Finsternis (Mt 8,11f.). So, kann er die Bewohner von Ninive, die Königin von Saba, die heidnische Bevölkerung von Tyrus und Sidon, die Samariter und Sodomiter in die prophetische Entgrenzung jüdischen Heilsdenkens einbeziehen.
Die eschatologische Gerichtsszene (Mt 25), die auf den Glaubensvorstellungen des Alten Bundes von der Endzeit basiert, Jesus aber als den universalen Messias auf dem Gerichtsthron sieht, versammelt alle Völker vor dem Richterstuhl des Herrn. Diese multikulturelle Gesellschaft wird nun nicht nach unterschiedlichen Kriterien beurteilt, vor allem nicht nach einer Zugehörigkeit zum Volke Israel. Einziges Beurteilungskriterium dafür, wer zur endzeitlichen Heilsgemeinschaft gehört, ist die Liebe zum Christus im leidenden Nächsten. Dies möchte ich als die eschatologische Kultur bezeichnen, die alle religiösen und sonstigen Kulturdifferenzen, die sich aus der Multikulturalität der Menschheit ergeben, relativiert und die für jede Gemeinschaft notwendige gemeinsame Basis darstellt. Dies ist die neue Mono- oder Metakultur.
Die Gerichtsszene bei Matthäus ist bereits geprägt vom Auferstehungs- und Himmelfahrtsglauben, der den nationalen Heilsrahmen auf ein universales Verständnis hin gesprengt hat. So sollen die Jünger Zeugen des Messias sein, in Jerusalem, in ganz Judäa und Samaria, ja bis an die Grenzen der Erde (Apg 1,8).
Der Geist Jesu führt die Urgemeinde zur pfingstlichen Erfahrung, daß sie selbst bereits im Ansatz eine multikulturelle Gesellschaft ist, die in zeichenhafter Pro-Existenz auf die multikulturelle Endgesellschaft hin lebt. In dieser Gemeinschaft sind die verschiedenen Sprachen nicht mehr wie nach dem Turmbau zu Babel unübersteigbare Grenzen, sondern der Ansatz für die Erfahrung, daß gerade in dieser Verschiedenheit und ohne ihre Aufhebung eine neue Art von Communio und Kommunikation möglich ist. Vielleicht verdanken wir es Paulus, daß die junge Kirche dieser Weite standgehalten hat und nicht in eine eindimensionale Monokulturalität zurückgefallen ist. Ein entscheidender Satz in Kol 3,11: „Da heißt es nicht mehr: Heide oder Jude, beschnitten oder unbeschnitten, Barbar, Skythe, Sklave oder Freier, nein, da ist Christus alles und in allen.“
Das Selbstverständnis der katholischen Kirche als universale und multikulturelle Gemeinschaft
Im II. Vatikanischen Konzil hat die katholische Kirche ihr Selbstverständnis neu umschrieben. Ich beziehe mich darauf, weil es sich um für die katholische Kirche maßgebende dogmatische Grundsätze handelt, und ich tue dies in der Überzeugung, daß die wesentlichen, das Thema meines Referats berührenden Auffassungen der katholisch Kirche der ökumenischen Christenheit gemeinsam sind. Diese Überzeugung entspricht auch meiner Erfahrung in der ökumenischen Arbeit auf dem Feld der Integrationspolitik.
Dem zweiten Kapitel der „Dogmatischen Konstitution über die Kirche“ entnehme ich folgende Aussagen (s. Konrad W. Kraemer, Vatikanum II, Osnabrück, 1966, S. 70-170):
- Zum neuen Gottesvolk sind alle Menschen berufen.
- Darum muß sich dieses Volk als eines und einziges über die ganze Welt und durch alle Zeit hin ausbreiten.
- Damit erfüllt sich der Wille Gottes, der die Menschheit als eine gegründet und beschlossen hat, seine Kinder aus der Zerstreuung wieder in eins zu versammeln.
- In allen Völkern der Erde wohnt das eine Gottesvolk, da es aus allen seine Bürger nimmt.
- Alle über den Erdkreis hin verbreiteten Gläubigen stehen mit den übrigen im Heiligen Geist in Gemeinschaft.
- Zu dieser katholischen Einheit, dem Zeichen und der Förderin allumfassenden Friedens, sind alle Menschen berufen.
- Die Eigenschaft der Weltweite, die das Volk Gottes auszeichnet, ist Gabe des Herrn selbst.
- Die Kirche strebt danach, die ganze Menschheit mit all ihren Gütern unter das eine Haupt Christus zu fassen.
- Die Kirche fördert und übernimmt die Anlagen, Fähigkeiten und Sitten der Völker (also Kulturen!) soweit sie gut sind, reinig kräftigt und erhebt sie.
- In der kirchlichen Gemeinschaft gibt es zu Recht Teilkirchen, die aus ihrer eigenen Überlieferung leben.
- Kraft der Katholizität steuern die einzelnen Teile ihre eigene Gaben den übrigen Teilen und der ganzen Kirche bei, so daß das Ganze und die einzelnen Teile wachsen aus allen, die Gemeinschaft miteinander halten und zur Fülle in Einheit zusammenwirken.
- Der Primat des Stuhles Petri schützt die legitimen Verschiedenheiten und wacht darüber, daß die Besonderheiten der Einheit nicht nur nicht schaden, sondern ihr vielmehr dienen.
- So sammelt sich das Volk Gottes nicht nur aus den verschiedenen Völkern, sondern wird in sich selbst aus verschiedenen Ordnungen verschmolzen.
Wer die vorkonziliare katholische Kirche kennt, hört aus diesen fast selbstverständlich klingenden Grundsätzen einen neuen Ton heraus. Er liegt nicht in der Formulierung des universalen über die ganze Erde und auf alle Völker hin bezogenen Gottesvolkes, sondern in der Formulierung der Einheit in der multikulturellen Vielfalt. Kirche bezeichnet sich hier als eine multikulturelle Gemeinschaft, in der Eigenständigkeit garantiert, die Vielfalt bejaht und dies nicht als Gegensatz, sondern als Förderung der Einheit betrachtet wird. Dieser Pluralismus ist der Versuch, die starke römische Uniformität zugunsten eines größeren spirituellen Reichtums, nicht zuletzt auch im Blick auf die Weltverantwortung zu formulieren. Die katholische Kirche, die über Jahrhunderte versucht hat, eine Art kirchliche Mono-Kultur zu pflegen, entscheidet sich endgültig für eine auch innerkirchlich geltende Pluralität und Multikulturalität.
In dem Maße wie sie dies versucht, erfährt auch die ökumenische Bewegung, insoweit sie die katholische Kirche mit einbezieht, eine wesentliche Förderung. Wenn die ökumenische Bewegung ins Stocken und Stottern geraten ist, hängt dies sicher auch mit der Tatsache zusammen, daß die nachkonziliare Kirche die im Konzil geforderte und akzeptierte Pluralität nur schwer aushält. Die Angst vor den zentrifugalen Kräften der Verschiedenheit ist größer als das Vertrauen auf die eschatologisch garantierte Einheit. Geht man über den innerchristlichen Dialog und die ökumenische Suche nach der Einheit aller Kirchen hinaus und reflektiert die Verantwortung der Kirche für die endzeitliche Gesellschaft, so ist der Belang, wie Multikulturalität in der Kirche gesehen, ausgehalten und ausgestaltet wird, von maßgeblicher Bedeutung.
Die Kultur in der Auffassung der katholischen Kirche
Auch hierüber hat sich das letzte Konzil umfassend geäußert. So wird Kultur vom Vatikanum II verstanden als alles, wodurch der Mensch seine vielfältigen geistigen und körperlichen Anlagen ausbildet und entfaltet; sich diese ganze Welt durch Erkenntnis und Arbeit zu unterwerfen trachtet; das gesellschaftliche Leben, das familiäre und politische, durch den sittlichen Fortschritt und den Ausbau von Institutionen menschlicher gestaltet; wodurch er schließlich seine großen geistigen Erfahrungen und Bestrebungen im Laufe der Zeit in seinen Werken ausdrückt, mitteilt und bewahrt zum Segen vieler, ja, des ganzen menschlichen Geschlechts (a.a.O., S. 311). Wir haben es also hier mit einem umfassenden Verständnis von Kultur zu tun, bei dem Kultur im künstlerischen und engeren Sinne nur ein Element ist.
Akkomodation ist ein zentraler Begriff der Missionstheologie der Kirche. Geschichtlich gesehen hat die Kirche von Anfang an gelernt, die Botschaft Christi mit Hilfe von Begriffen und Sprache der verschiedenen Völker auszudrücken (a.a.O.,Vatikanum II, S. 296). Das Konzil meint, daß in jeder Nation die Fähigkeit, die Botschaft Christi auf eigene Weise auszudrücken, geweckt worden sei und zugleich ein lebhafter Austausch zwischen der Kirche und den verschiedenen Kulturen der Völker gefördert würde.
Das Verhältnis der Kirche zur jeweiligen Kultur wird sogar in den Zusammenhang der Inkarnation gestellt. Die Kirche müsse sich mit der gleichen Motivation, wie sich Christus selbst in der Menschwerdung von der konkreten sozialen und kulturellen Welt der Menschen einschließen ließ, unter denen er lebte, ganz und gar in die jeweilige Umwelt inkarnieren. Die Christen müßten sich als Glieder der Menschengruppe, in der sie leben, betrachten; in verschiedenen Beziehungen und Aktivitäten des menschlichen Lebens müßten sie an den kulturellen und sozialen Angelegenheiten teilnehmen. Sie sollten auch mit den nationalen und religiösen Traditionen vertraut sein.
Die Gemeinschaft der Gläubigen soll durch ihre Ausstattung mit den kulturellen Reichtümern der eigenen Heimat tief im Volk verwurzelt sein. So unterschieden sich die aus allen Völkern in der Kirche versammelten Christen nicht von den übrigen Menschen durch Staatsform, Sprache oder Gesellschaftsordnung (vgl. Türk, S. 93f.).
Wenn auch die Kirche Kultur sehr ernst nimmt, und wie später darzulegen ist, ein Recht auf Kultur reklamiert, relativiert sie ihr Verhältnis zu den einzelnen Kulturen im Hinblick auf ihre universale und eschatologische Sendung. Sie will an keine besondere Form menschlicher Kultur oder an besondere politische, wirtschaftliche oder gesellschaftliche Systeme gebunden sein (a.a.O., S. 291). Als zu allen Völkern, gleich welcher Zeit und welchen Landes entsandte Gemeinschaft fühle sie sich an keine Rasse oder Nation, an keine besondere Art der Sitte, an keinen alten oder neuen Brauch ausschließlich und unlösbar gebunden (a.a.O., S. 318). Dafür könne die Kirche wegen dieser ihrer Universalität ein ganz enges Band zwischen den verschiedenen menschlichen Gemeinschaften und Nationen bilden. Ich möchte dies als den eschatologischen Vorbehalt gegenüber den Ansprüchen jedweder Kultur bezeichnen, die den umfassenden Auftrag der Kirche im Hinblick auf die Einheit der Menschen beeinträchtigen könnte. Für das Vatikanum II sind die Lebensbedingungen des modernen Menschen in sozialer und kultureller Hinsicht so tief verändert, daß man von einer neuen Epoche der Menschheitsgeschichte sprechen dürfe. Von daher eröffneten sich neue Wege, die Kultur zu vervollkommnen und weiter zu verbreiten. Es bilde sich allmählich eine universalere Form der menschlichen Kultur, die die Einheit der Menschheit umso mehr fördere und zum Ausdruck bringe, je besser sie die Besonderheiten der verschiedenen Kultur beachte. Das Konzil verwendet den Begriff Massenkultur. In dieser neuen Weltkultur, auch dies ist eine Konsequenz des bisher Gesagten, sollten die verschiedenen Einzelkulturen nicht völlig aufgehen: Also die umfassende Kultur einer multikulturellen Gesellschaft.
Migration und Multikulturalität
Das bisher über Kirche, Kultur und Multikulturalität Gesagte könnte leicht so verstanden werden, als ginge es um die Anerkennung geographisch getrennter und für sich bestehender Kulturen, die erst auf einem höheren Koordinationsniveau miteinander in Verbindung kämen und eine Einheit zu bilden hätten. Das zu akzeptieren, würde in der Bundesrepublik kaum jemandem schwerfallen. Respekt vor der Kultur der nichtdeutschen Arbeitnehmer und ihrer Angehörigen wird sogar als Grund angegeben, um Rückkehrprogramme und Repatriierungsvorschläge zu legitimieren, etwa unter der Devise: Laßt jedem seine Kultur in seinem Land! (Homelands!)
Aber es geht um mehr, es geht um die durch die Migration in der Welt seit eh und je und heute in besonderem Maße erfolgende Zusammenführung von Menschen unterschiedlichster Herkunft. Angesichts gerade dieser Lage muß sich zeigen, was der Kirche Kultur und Multikulturalität bedeutet und wie sie ihre eigene Multikulturalität ins Spiel bringt.
Um die Pastoral der Migranten nach dem Konzil auf eine neue Grundlage zu stellen, hat Papst Paul VI. 1969 neue Richtlinien erlassen (Pastoralis Migratorum Cura in: Velasio de Paolis, Die Seelsorge für die Menschen unterwegs, Rom, 1981, S. 134-170). Er sieht in der Migration ein ambivalentes Phänomen. Aus der Mobilität der Völker entsteht ein neuer, breiter angesetzter Anstoß zur Einigung aller Menschen, des ganzen Universums. Dies wird sogar auf den Geist Gottes zurückgeführt, der das Antlitz der Erde erneuert. Die Migration begünstigt das gegenseitige Kennenlernen und die weltweite Zusammenarbeit, fördert, bezeugt und vervollkommnet dadurch die Einheit der Menschheitsfamilie. Sie bekräftigt klar und deutlich jene brüderliche Verbindung unter den Völkern, bei der beide Teile geben und empfangen.
Es wird aber auch auf die Spannungen, Leiden, Opfer und Gefahren hingewiesen, vor allem auf die Konflikte, die aus der Verschiedenartigkeit der Mentalität und Tradition entstehen, auf jede Form einer Diskriminierung in den gesellschaftlichen und kulturellen Grundrechten der Person, sei es wegen des Geschlechts oder der Rasse, der Farbe, der gesellschaftlichen Stellung, der Sprache oder der Religion und auf alle Haltungen, die mit historischen Vorurteilen und mit politischer oder ideologischer Intoleranz verknüpft sind.
Zu den fundamentalen Menschenrechten, die Rom in Erinnerung ruft, gehört dann auch das Recht auf Wahrung der Muttersprache um des geistigen Erbes willen, bei denen, die ein- oder auswandern. Dieses fundamentale Recht ist schließlich auch Grundlage für die Bildung sprachenspezifischer Gemeinden in den Aufnahmeländern mit Priestern, die möglichst aus dem Heimatland stammen. Was dies bedeutet, möchte ich jetzt nicht näher erläutern, es ist ein wichtiges kirchliches Datum im Rahmen einer multikulturellen Kirche auf der Basis der Einheit zwischen Gemeinden verschiedener Kultur.
Fast 10 Jahre später gibt die Päpstliche Kommission für die Pastoral am Menschen unterwegs unter Paul VI. ein Dokument mit dem Titel „Die Kirche und die Mobilität des Menschen“ (Päpstliche Kommission für die Auswandererfragen und Tourismus, Kirche und Menschen unterwegs, Vatikanstadt 1978) heraus. Es soll – wieder auf dem Vatikanum II fußend – die Grundprobleme der Pastoral angesichts der Mobilität der Menschen von heute in einem einzigen Text zusammenfassen. Für die kirchliche und gesellschaftliche Bewältigung der Multikulturalität ist dieses Dokument sicher sehr bedeutsam. Ich erwähne nur einige der für unser Thema wichtigen Gesichtspunkte.
Die Mobilität sei ein allgemeines Schicksal geworden und bedeute in ihrer weltweiten Ausdehnung eine tiefgreifende Veränderung. Es folgt eine Beschreibung der sich daraus ergebenden Konsequenzen, die ich als Definition von „multikultureller Gesellschaft“ betrachte. Es sei schlechterdings unmöglich, der durch die Mobilität bedingten Vermischung von Rassen, Zivilisationen, Kulturen und Ideologien gleichgültig gegenüberzustehen, „Viviamo tutti in un solo villaggio“, zu deutsch: „Die Welt ist ein Dorf“.
Ich gestatte mir den Hinweis, daß Johannes Paul II. diesen Satz sehr wörtlich zu nehmen scheint, wenn er die ganze Welt bereist als gelte es überall Freunde, Bekannte, Verwandte und Nachbarn zu besuchen.
Die Kirche, die sich als Zeichen und Instrument der Einheit der ganzen Menschheit betrachtet, sieht sich in eine gesellschaftliche Entwicklung einbezogen, deren bedeutendes Element die Mobilität ist. Sie will sich den Anforderungen dieser neuen Welt stellen, in der sie in gewissem Sinne ihr Spiegelbild als „Pilgerin auf dieser Erde“ erkennt. Das Dokument spricht sogar von einem besonderen Abschnitt auf dem Weg, den die Kirche geht.
Sie will Anwalt der Menschlichkeit sein und sieht sich verpflichtet, feierlich die grundlegenden Rechte des Menschen zu verkünden und ihre prophetische Stimme zu erheben, wenn diese Rechte mit Füßen getreten werden. Hier geht es um die Würde des Menschen unter Ausschluß jeglicher Diskriminierung. Zu dieser Würde zählt dann auch das Recht, das dem Menschen das ihm eigene ethnische, kulturelle und sprachliche Gut bewahren und weiterentwickeln hilft. Die praktische Umsetzung eines solchen wie der anderen Rechte umfasse die ganze Völkerfamilie und stehe über jeglichem Klassen- und Nationalegoismus. Auch gehe es nicht nur um die Einzelperson, sondern ebenso um Gruppen und Minderheiten.
Wie sieht nun die pastorale Aufgabe für die Ortskirche – hiermit sind die Bistümer in erster Linie gemeint – aus? Sie wird unter das Thema „Streben nach universaler christlicher Brüderlichkeit“ gestellt. In der Ortskirche verwirklicht sich die Einheit in der Pluralität. Diese Einheit ist nicht Uniformität, wohl aber Übereinstimmung. Bei dem gemeinsamen Streben nach Einheit werden alle legitimen Verschiedenheiten aufgenommen. Dies ist die Übernahme der für die Gesamtkirche im Konzil geltenden Einheitsdefinition für die Ortskirche.
Eine herzliche Aufnahme der Migranten in der Kirche ist Ausdruck der Liebe der Kirche in ihrer ganzen Tiefe und Universalität. Die Pastoral habe in jeder Weise die nationale, sprachliche und kulturelle Verschiedenheit zu berücksichtigen. Dafür würden spezielle Initiativen erforderlich, die allerdings die Ortskirche und die Gemeinden in ihrer genuinen Verantwortung nicht entlasteten. Wiederholt wird betont, es gäbe in der Kirche wegen ihrer Universalität keine Fremden oder Außenstehenden. Die angesichts der Mobilität notwendige Pastoral sei eine „ohne Grenzen“.
Damit begibt sich der Text auf die Ebene der Ortsgemeinde, der Pfarrei. Sie ist der Ort, der über die Grenzen hinausreicht, wo die Eucharistie, das Sakrament der Einheit, in Freude und Verbundenheit gefeiert wird. Man könnte auch sagen, eine über die eigenen Grenzen hinausreichende Pfarrei ist nichts anderes als ein Mikrokosmos, als eine multikulturelle Gesellschaft im Kleinen. Johannes Paul II. hat unter anderem auf seinem Treffen mit den Katholiken anderer Muttersprache in Mainz, einem pfingstlichen Ereignis, das der Bedeutung der ökumenischen Begegnungen in Mainz in nichts nachstand, die Gläubigen anderer Muttersprache auf die Gemeinschaft der katholischen Christen, wie sie sich am Wohnort, in der Pfarrgemeinde darstellt, verwiesen. Sie gäbe Raum für eine Vielfalt von Menschen, vereint im selben Glauben an unseren Herrn Jesus Christus. Bei dieser Ansprache hat der Papst auch noch einmal die Legitimität der eigenen Kultur, Muttersprache, ja sogar des Heimatdialektes, der in der Bundesrepublik lebenden Familien der nichtdeutschen Arbeitnehmer betont. Er verwies auch auf einen tiefgreifenden Wandel für die Lebens- und Bevölkerungsstruktur der Bundesrepublik Deutschland zusammen mit etlichen anderen westeuropäischen Ländern und die Tatsache, daß ein großer Teil der nichtdeutschen Arbeitnehmer und ihrer Familien im Aufnahmeland heimisch geworden sei und ständig dort leben möchte.
Die Botschaft des Papstes (Johannes Paul II) zum „Tag des Emigranten“ für das liturgische Jahr 1980/81 spricht sich dagegen aus, daß die Einwanderer sich in einem eigenen Ghetto verschließen. Integration heißt, dem Land zu dienen, in dem der Einwanderer lebt, für es arbeiten, zu seinem Fortschritt beitragen, indem der Einwanderer seine Menschlichkeit und all das zu entfalten sucht, was in seinem Innern ist, was ihn formt und bildet, und ohne die Spuren zu verwischen, die zurückweisen. Die Botschaft unterstreicht die nun schon hundertjährige Erfahrung: Integration erfolgt um so leichter und umso glaubwürdiger, je mehr sie sich in der Freiheit vollzieht, je mehr die Emigranten sich angenommen und geachtet fühlen in ihre Eigenart, in ihrer Kultur und Tradition.