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HERBERT LEUNINGER ::: ARCHIV Kirche-Migration 1994 :::

REFERAT

DAS MENSCHENRECHT AUF ASYL
UND DIE AUFGABE ES ZU VERTEIDIGEN

Katholische Fachhochschule Freiburg
Hochschultag zum Thema „Asyl und Solidarität“

REFERAT
Katholische Fachhochschule Freiburg
Hochschultag zum Thema „Asyl und Solidarität“ am 7.12.1994
Herbert Leuninger, PRO ASYL, Bundesweite Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge

RESSOURCEN
siehe auch: Kirche und das Menschenrecht auf Asyl (Kurzform)

Das Grundrecht auf Asyl als Menschenrecht

„Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, so lautete lapidar Artikel 16, Absatz 2, Satz 2 Grundgesetz und räumte damit dem staatlichen Schutz des Flüchtlings Verfassungsrang ein und zwar im Sinne eines individuellen, gerichtlich einklagbaren Grundrechts. Der Artikel wurde ohne Einschränkung, vor allem auch ohne einen gesetzlichen Vorbehalt in unsere Verfassung aufgenommen und zwar in den zentralen, über jede tagespolitische Veränderung erhabenen Grundrechtsteil.

Das Grundgesetz geht im Unterschied zur Weimarer Verfassung von vorgegebenen Menschenrechten aus. Diese werden ihrer Natur nach nicht eingeräumt oder großzügig zugestanden, sondern sie können im Prinzip nur deklariert, d.h. in feierlicher Form erklärt werden. Sie gelten unabhängig von jeder Gesetzgebung, normieren diese vielmehr. Während der Weimarer Zeit galten Grundrechte nur nach Maßgabe der Gesetze. Das Grundgesetz hat demgegenüber einen fundamental anderen Ansatz: Alle Gesetze gelten nur nach Maßgabe der Grundrechte.

Der Zusammenbruch der Rechsstaatlichkeit, jeglicher Humanität und einer menschenwürdigen Ordnung im Hitler-Deutschland hat dem Gedanken der Menschenrechte und einer zeitgemäßen Kodifizierung einen mächtigen Auftrieb gegeben. Dabei darf nicht vergessen werden, daß es eine jahrhundertelange Geschichte der Menschenrechte gibt oder besser gesagt der Erkenntnis des Wesens der Menschenrechte, ihrer Deklarierung und vor allem ihrer juristischen und politischen Durchsetzung.

Dabei spielen menschliche Katastrophen und Erfahrungen der Verachtung des Menschen und seiner Würde in konkreten gesellschaftlichen und politischen Situationen eine maßgebliche Rolle. Die Menschenrechte fallen nicht als formulierter Kanon vom Himmel und sind auch nicht Bestandteil eines kollektiven Menschheitsgewissens. Sie müssen durch massenhaft erlittenes Unrecht ins menschliche Bewußtsein gehoben und unter größten Anstrengungen im politisch-rechtlichen Horizont verankert werden. Es handelt sich u. U. um Entwicklungen aus einer regionalen Erfahrung heraus, die dann die unaufschiebbare Macht einer weltweiten Durchsetzung und Beachtung entfaltet. So muß dies auch für das Menschenrecht auf Asyl mit seiner langen Geschichte gesehen werden. Hier ist dem Nachkriegsdeutschland eine historische Aufgabe zugefallen, die es sich nicht aussuchen und der es sich auch nicht entziehen konnte. Es ist also keine deutsche Anmaßung dieses Menschenrecht in ähnlicher Form zu internationalisieren, sondern eine von der Geschichte und der Menschheit aufgegebene Verpflichtung.

Die Eltern des Grundgesetzes haben mit Artikel 16 ganz bewußt eine spezifische Konsequenz aus der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft ziehen wollen. Es war eine Art Dank an die Völkergemeinschaft für die Aufnahme von 800.000 Flüchtlingen aus Hitlerdeutschland, aber auch eine Selbstverpflichtung dazu, keinesfalls, wie in Tausenden anderen Fällen in der Nazi-Zeit auch geschehen, Flüchtlinge aus Deutschland an der Grenze abzuweisen. Indirekt aber nicht minder deutlich war dieser Artikel auch eine eindeutige und als endgültig verstandene Absage an Diktatur, Diskriminierung, Folter, Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung von Menschen in Deutschland , schließlich ein nachhaltiger Protest gegen jedwede Gewaltherrschaft, wo in der Welt sie künftig auch ausgeübt werden sollte.

Man kann ohne Übertreibung, erst recht ohne nationale Überheblichkeit sagen, die Bundesrepublik habe mit diesem Artikel über alle geltenden Menschenrechtskonventionen hinaus einen neuen Standard gesetzt, indem sie einzelne Menschen nicht nur als Flüchtlinge aufnimmt und schützt, sondern ihre Aufnahme zu einem Recht ausgestaltet, das mit allen Rechtsweggarantien, die ein heutiger Rechtsstaat seinen Bürgern gewährt, versehen ist.

Das Menschenrecht auf Asyl ergibt sich eigentlich in selbstverständlicher Weise aus dem ersten aller Menschenrechte nämlich dem der Wahrung der Menschenwürde. Denn hiermit ist wesensgemäß das Recht auf Leben und die Unversehrtheit der Person gemeint. Daraus leiten sich weitere Menschenrechte ab, wie das nicht getötet zu werden, keine Folter zu erleiden und vor allem das, sein Leben durch Flucht in ein anderes Land retten zu können.

Die Bedeutung der Menschenrechte liegt darin, daß sie universell gelten und angeborene, unveräußerliche Rechte für jedes Individuum sind. Sie sind für jeden Menschen gültig und zwar unter jeder vorstellbaren historischen Situation. Dieses elementare Recht ist vorstaatlich und vorverfassungsmäßig. Das Grundgesetz beginnt damit, jedem Menschen eine angeborene, unverlierbare, unantastbare und auch durch andere Verfassungsnormen oder Gesetze nicht beschränkbare Würde zuzuerkennen. Artikel 16 Abs.2 ist eine zwingend gebotene Konkretisierung dieser Grundnorm.

Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, die einen bedeutenden Fortschritt für den Schutz von Flüchtlingen darstellt, unterscheidet sich in der Definition, was als politische Flucht anzusehen ist, grundsätzlich nicht von unserer Verfassung. Ihr Kern ist aber das sogenannte „non-refoulement“, das heißt das Verbot, einen Flüchtling in das Land zurückzuschicken, in dem ihm aus begründeter Furcht politische Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugungen droht. Eine Prüfung, ob eine Verfolgungsgefahr besteht, muß auch nach der Genfer Konvention erfolgen; es kann demnach auch nicht einfachhin eine Abweisung an der Grenze erfolgen. Der eigentliche Unterschied liegt in dem durch das Grundgesetz geschaffenen subjektiven Recht und seinen rechtsstaatlichen Auswirkungen. Der politische Flüchtling hat nach dem Grundgesetz ein Recht auf Asyl und ein Recht auf die Überprüfbarkeit jeder behördlichen Entscheidung.

(Artikel 16 unterscheidet sich damit beispielsweise von Artikel 116, mit dem festgelegt wird, wer Deutscher ist. Dieser Artikel gehört nicht nur zu den Übergangs- und Schlußbestimmungen des Grundgesetzes, sondern ist ausdrücklich mit dem Zusatz „vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung“ versehen und enthält damit das, was bei Artikel 16 durch eine substantielle Verfassungsänderung eingefügt werden müßte, nämlich den sogenannten Gesetzesvorbehalt. So kann der einfache Gesetzgeber bei Artikel 116, und zwar ohne ihn zu ändern, ein Gesetz hierzu erlassen oder ein bereits vorhandenes modifizieren. Unkenntnis oder Taktik haben zu dem falschen Eindruck geführt, die Fragen um Artikel 116 und 16 seien in irgendeiner verfassungsrelevanten Weise miteinander vergleichbar oder gar gegeneinandertaufrechenbar.)

Bei den internationalen Verträgen von Schengen und Dublin, in denen es um die sogenannte Harmonisierung der Asylverfahren bestimmter Länder in der Europäischen Gemeinschaft ging, hat die Bundesregierung eine deutliche „Harmonisierung“ nach unten betrieben. Sie hat nicht das geringste Interesse daran gezeigt, den durch das Grundgesetz geschaffenen menschenrechtlichen Standard in Europa durchzusetzen oder doch wenigstens diesen Standard für die Bundesrepublik zu verteidigen. Mit dem Argument, die anderen Länder dächten nicht daran, sich den Verpflichtungen von Artikel 16 anzunähern, und mit dem Hinweis in anderen Ländern abgelehnte Asylbewerber hätten durch Artikel 16 GG nach Herstellung der innereuropäischen Freizügigkeit das Recht noch einmal einen Asylantrag in der Bundesrepublik zu stellen, ging es nur darum Artikel 16 auszuhebeln. In der Zwischenzeit ist noch das gefährliche Argument dazu gekommen, Artikel 16 Grundgesetz müsse nun auch deswegen geändert werden, damit Platz für die Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina geschaffen werden könne.

Das neue Asylrecht als Entrechtung des Flüchtlings

Seit dem 1. Juli 1993 ist das neue Asylrecht in Kraft. Dazu wurden mit einer Zweidrittelmehrheit des Bundestages die Verfassung geändert und mit einfacher Mehrheit Begleitgesetze verabschiedet. Hierbei handelt es sich um die Novellierung des Ausländer- und Asylverfahrensgesetzes und um die Schaffung eines neuen Gesetzes, das die sozialen Leistungen für Asylbewerber regelt und am 1. November 1993 in Kraft getreten ist. Inzwischen hat der Bundesgrenzschutz per Gesetz noch größere Kompetenzen für die Festnahme von illegal einreisenden Flüchtlingen und ihren Helfern erhalten.

Das neue Asylrecht stellt den vorläufigen Endpunkt einer längeren Entwicklung dar. Sie setzte 1977 ein und führte dazu , daß mehr als 30mal Gesetze und Verordnungen geändert wurden, mit denen die Rechte von Flüchtlingen eingeschränkt werden sollten. Dahinter stand im Rahmen steigender Zahlen von Asylbewerbern ein Konzept der Abschreckung.

Entrechtung durch die faktische Aufhebung eines Grundrechts

Die faktische Abschaffung des Grundrechts auf Asyl durch den neuen Artikel 16a stellt eine Entmündigung des Flüchtlings und die weitgehende Aufkündigung seines Status als Rechtssubjekt dar. Flüchtlinge werden künftig wieder stärker Objekte des Staates. Der Staat will in eigener Machtvollkommenheit darüber entscheiden, welche und wieviele Flüchtlinge er aufnimmt und wie er sie behandelt.

So schließt Art. 16 a II aus dem dem Wortlaut nach erhaltenen Grundrechtsschutz des Art. 16 a I alle Flüchtlinge aus, die auf dem Landwege über ein Nachbarland einreisen. Sie werden zu „sicheren Drittländern“ erklärt, in denen eine politischer Flüchtling per definitionem ausreichenden Schutz genießt. Reguläre Chancen auf ein Verfahren hat nur noch, wer über See oder auf dem Luftweg in die Bundesrepublik kommt. Dabei darf er den Boden eines sicheren Drittlandes nicht berührt haben. Sogenannte sichere Drittstaaten sind alle EU-Staaten, die skandinavischen Länder, Österreich, die Schweiz, Polen und die Tschechische Republik.

Des weiteren gibt es eine Liste sogenannter „Nichtverfolgerstaaten“. Das sind nach Art. 16 a III Länder, „bei denen aufgrund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse gewährleistet erscheint, daß in diesen Staaten politische Verfolgung oder unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung nicht stattfindet.“ Wer aus solch einem Land kommt, kann nur ein stark verkürztes Verfahren durchlaufen. Auf der Liste der sicheren Drittstaaten stehen derzeit Bulgarien, Ghana, Polen, Rumänien, Senegal, die Slowakische und Tschechische Republik und Ungarn.

Entrechtung im Verfahren

Das Herzstück des Asylverfahrens ist die Anhörung. Deswegen müßte bei seiner Gestaltung das größte Gewicht auf sorgfältige und möglichst erschöpfende, am Grundrecht auf Asyl und am Menschenrechtsschutz orientierte Aufklärung, gelegt werden.

Die Anhörungsprotokolle und die Asylbescheide lassen aber das Urteil zu, daß in ungezählten Fällen die Antragsteller nicht ausreichend befragt wurden. Bei vielen Protokollen wird deutlich, daß voreingenommen und zu Lasten der Antragsteller gefragt und entschieden wurde. So wird z.B. bei Kurden aus der Türkei, wenn sie Folterungen angeben, weder nach Einzelheiten noch nach Folterspuren am Körper gefragt. Werden Aussagen bezweifelt, unterbleibt die Nachfrage nach Zeugen. Sind Zeugen benannt, werden sie so gut wie nie gehört.

Mangelhafte Vorbereitung auf die Anhörung und eine unzulängliche Anhörung führen zu fehlerhaften Bescheiden, vor allem wo „offensichtlich unbegründete“ Anträge abgelehnt werden. Dies betrifft 47% aller Sachentscheidungen des Bundesamtes in 1993. Darunter sind Anträge von Flüchtlingen aus Bosnien-Herzegowina, Afghanistan und der Türkei (Kurdistan). In diesen Fällen beträgt die Klagefrist eine Woche, die für den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz ebenfalls eine Woche und die Frist für die Begründung eine Woche.

Ein qualifizierter Anwalt kann – von Ausnahmen abgesehen – einem Flüchtling innerhalb dieses Zeitraums keinen Termin für eine gründliche Befragung mit einem Dolmetscher geben. Ein effektiver Rechtsschutz ist unter diesen Bedingungen nicht mehr möglich.

Die für die Gerichte verkürzten Fristen sind ein Eingriff in die Unabhängigkeit der Justiz. Viele Gerichte überschreiten die gesetzten Fristen um Wochen und Monate.

Auf dem Flughafen Rhein-Main bündeln sich die Probleme der neuen Asylpolitik und ihres Abschreckungscharakters wie in einem Brennglas. Sie seien stellvertretend für das benannt, was verfahrensrechtlich in der Bundesrepublik vor sich geht. Die Flughafenregelung im §18a des Asylverfahrensgesetzes ist neben der Einführung der sicheren Drittstaaten und der sicheren Herkunftsländer ein wichtiger Bestandteil des neuen Asylrechts.

Es setzt dem Bundesgrenzschutz, dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, den Anwälten und Richtern kurze Fristen für die Verfahren von Asylbewerbern. In 48 Stunden sollen Asylanträge beschieden werden, die Einspruchsfrist dauert drei Tage, die Gerichte haben zwei Wochen Zeit. Um Stunden geht es, wenn die „Zurückschiebung“ eines Asylbewerbers in ein „sicheres“ Durchreiseland verhindert werden soll. Eine Datenleitung versorgt das Bundesamt mit aktuellen Informationen aus der Nürnberger Zentrale, Kuriere eilen zwischen Frankfurt und Wiesbaden hin und her, um Archivmaterial beizubringen, Anwaltskanzleien arbeiten bis tief in die Nacht, um Klagen und Einsprüche zu begründen, Richter setzen Urteile handschriftlich ab, um sie anschließend an den diensthabenden Leiter des Grenzschutzes zu faxen, Bundesverfassungsrichter greifen zum Telefon, um in letzter Minute zu verhindern, daß ein Flüchtling mit dem nächsten Flugzeug ins „sichere“ Drittland und von da in sein Verfolgerland zurückverfrachtet wird.

Dem Streß bundesdeutscher Rechtspflege entspricht ein noch größerer der betroffenen Asylbewerber. Kaum aus dem Flugzeug, sind sie von Polizisten umringt, werden scharf kontrolliert und in ein Gebäude verbracht, das hermetisch abgeschlossen ist. Anhörungen beim Bundesgrenzschutz und dem zuständigen Bundesamt folgen fast auf dem Fuße. Wohl dem, der schnell genug einen Rechtsanwalt findet, der kompetent ist, über die nötige Zeit verfügt und nicht gleich – was durchaus legitim wäre – auf’s Geld schaut.

Unter der Oberfläche hektischen Funktionierens stehen entscheidende Fragen der Rechtsstaatlichkeit an. Zu befinden ist u.a. darüber, ob das neue Asylrecht mit der Einführung sogenannter sicherer Drittstaaten verfassungsgemäß ist, ob Gerichte entgegen dem Wortlaut des Begleitgesetzes die „Zurückschiebung“ in ein Durchreiseland verhindern können, ob der allseitige Termindruck mit Erfordernissen der Rechtsstaatlichkeit in Einklang zu bringen ist. Dabei ist vor allem auch zu klären: Ist der internierte, psychisch derangierte und desinformierte Flüchtling im Transitbereich das für die Wahrnehmung seiner Interessen rechtsfähige Subjekt?

Entrechtung durch Ausgrenzung

Als eines der Begleitgesetze hat der Bundestag das sogenannte Asylbewerberleistungsgesetz verabschiedet. Während bisher die Leistungen der Sozialhilfe für die Asylbewerber durch das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) geregelt waren, wird nun für diesen Personenkreis ein eigenes Gesetz geschaffen. Dabei ist eine deutliche Absenkung der bisherigen Leistungen für Asylbewerber vorgesehen, die im Regelfall als Sachleistungen zu erbringen sind.

Das BSHG ist seinerzeit geschaffen worden, um allen Menschen, die in der Bundesrepublik leben die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht. Die Sozialhilfe ist eine staatliche Leistung, auf die Menschen in Not einen Anspruch haben, die sich nicht selbst aus eigener Kraft und eigenen Mitteln helfen können. Artikel 1 des Grundgesetzes verpflichtet den Staat zur Wahrung und zum Schutz der Menschenwürde. Der Standard des Menschenwürdigen darf nicht unterschritten werden. Bei der Gewährung von Sozialhilfe ist jeweils vom aktuellen Bedarf auszugehen. Die Hilfe zum Lebensunterhalt hat das notwendige Existenzminimum zu sichern. Laufende Leistungen zum Lebensunterhalt werden nach sogenannten Regelsätzen gewährt. Deren Höhe muß nicht nur ein physisches sondern auch ein soziokulturelles Existenzminimum gewähren.

Im Nationalsozialismus wurde der gerade auch in der Weimarer Demokratie universalistisch verstandene Sozialbürger durch den Volksgenossen ersetzt. Ihm entsprach eine Umpolung des Leistungssystems vom Bürger zum „Volksgenossen“. Diesem stand der „Gemeinschaftsfremde“ gegenüber, der aus den sozialen Leistungen ausgegrenzt wurde. Hierbei ging es um die Dehumanisierung im Rahmen von Anstalts- und Lagerunterbringung, Versorgung an der Hungergrenze, minimale medizinische Betreuung und Zwangsarbeit und schließlich die physische Vernichtung. Insgesamt wurden die Individualrechte durch eine stärkere staatliche Zuteilung von Lebenschancen eingeschränkt.

Das Nachkriegs-Deutschland hat sich mit seiner Verfassung und Sozialgesetzgebung von diesen Tendenzen eindeutig abgesetzt und an die bedeutsame sozialpolitische Entwicklung v o r Hitler angeknüpft. Das jetzige Asylbewerberleistungsgesetz verläßt diesen Weg, indem es eine bestimmte Gruppe aus der allgemeinen sozialrechtlichen Versorgung ausgrenzt und zwar zum Zwecke der Abschreckung und der Kostenersparnis:

  • Der Individualisierungsgrundsatz wird zugunsten pauschaler Regelungen aufgegeben.
  • Die Leistungen werden unter die in der Bundsrepublik geltende Armutsgrenze abgesenkt.
  • Die Entfaltung der Persönlichkeit wird durch das Sachleistungsprinzip erheblich beschränkt.
  • Die medizinische Minimalversorgung gefährdet das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.
  • Die im bisherigen Asylverfahrensgesetz vorhandenen Regelungen einer restriktiven Lagerunterbringung werden durch Arbeitszwang ergänzt.

Entrechtung durch Abschottung

Die Grenzsicherung wurde erheblich verstärkt.

Der Bundesgrenzschutz – so heißt es in einem Bericht der Bundesregierung operiert an den Ostgrenzen in zwei gestaffelten Linien. Nachdem eine Erprobung erfolgreich abgeschlossen werden konnte, erfolgt seit Juli 1993 der Einsatz von 66 Wärmebildgeräten zur Erkennung von unerlaubten Grenzübertritten. Sie stammen aus Beständen der Armee der ehemaligen DDR. Der Endausbau ist auf insgesamt 105 Geräte geplant.

Mit insgesamt 200 Diensthunden soll ein zusätzliches Instrument polizeilicher Aufgabenbewältigung eingesetzt werden. „Die Tiere sind im Rahmen des Eigenschutzes, zur Aufspürung und zur Durchsetzung polizeilicher Anordnungen vorgesehen“.

Aufgrund der Drittstaatenregelung wurden im 2.Halbjahr 1993 1.306 Personen an den Land- und Seegrenzen die Einreise trotz eines Asylgesuches verweigert. Wieviele der 91.000 Personen, die an den Grenzen zurückgewiesen oder zurückgeschoben wurden, einen Asylschutz oder wenigstens einen Schutz als Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge hätten beanspruchen können, ist nicht bekannt. 14 Menschen sind nach Angaben der Grenzbehörden seit Jahresbeginn an der deutschen Ostgrenze ertrunken. Nach offzieller Ansicht ereigneten sich solche Unfälle, wenn Tausende von Menschen Gewässer überquerten.

Die Abschottung findet allerdings im wesentlich größeren Umfang weit vor den Grenzen der Bundesrepublik statt.

Der erste Wall, der legal gesehen unüberwindlich ist, ist die schon seit Jahren die äußerst restriktive Visaerteilung, die in den Schengen-Staaten bzw. in der EU für mehr als hundertzwanzig Staaten gilt, vor allem für die, aus denen möglicherweise Flüchtlinge kommen könnten.

Dann sind es die diversen Rücknahmeübereinkommen, die Deutschland mit seinen Nachbarn geschlossen hat. Sie verpflichten diese Staaten, Flüchtlinge, die über ihr Staatsgebiet nach Deutschland einreisen wollten bzw. eingereist sind, zurückzunehmen. Dies führt bei diesen Ländern – mit der finanziellen Unterstüztung Deutschlands – zu ähnlichen Abschottungsmaßnahmen. Polen hat Rücknahmeabkommen mit der Tscechischen und Slowenischen Republik, mit Rumänien, Bulgarien, den baltischen Ländern und der Ukraine. Weitere Abkommen sind mit Ungarn, Österreich und Weißrußland vorgesehen. Wir haben es mit einem regelrechten Domino-Effekt zu tun.

Weißrußland z.B. hat zur Bekämpfung illegaler Grenzübertritte im Grenzgebiet zu Polen wieder speziell bewachte Grenzzonen wie in der sowjetischen Zeit eingerichtet hat. Die Einwohner der grenznahen Gebiete erhalten besondere Stempel in ihren Personalausweisen. Gäste müssen Genehmigungen des Innenministeriums einholen, wenn sie die Grenzbereich betreten wollen. Als Grund für diese Maßnahme wird der Andrang von Flüchtlingen aus Asien, die versuchten, mit gefälschten Papieren oder auf andere Weise illegal über die polnische Grenze und dann weiter in den Westen zu gelangen, angegeben. Danach sei Brest ein Umschlagplatz für illegale Emigranten aus Pakistan, Afghanistan, Vietnam und anderen asiatischen Ländern.

Ungarn hat in den Jahren 1992/3 zwei Millionen Menschen an den Grenzen zurückgewiesen und in 1993 16357 Personen ausgewiesen.

Zur Situation von Flüchtlingen in Rußland teilt der Hohe Flüchtlingskommissar im Juli mit, daß Asylsuchende weder eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten noch in irgendeiner Form Schutz genießen. Sie werden vielmehr als illegale Ausländer eingestuft und sind nicht vor Abschiebungen ins Heimatland geschützt. Nach Angaben der russischen Einwanderungsbehörde halten sich eine halbe Million aus dem „fernen Ausland“ im Land auf. Von ihnen werden die 2,5 Mio russischstämmige Übersiedler aus den Nachbarrepubliken unterschieden. Moskau betrachtet sich nur als Transitland für Flüchtlinge, von denen die meisten nach Skandinavien oder Deutschland wollten.

Osteuropa ist zum „Hinterhof“ der europäischen Asylpolitik geworden. In diesem Raum leben hunderttausende Menschen, die keinen Flüchtlingsschutz genießen und sich in einem mehr oder weniger rechtlosen Zustand befinden. Wir stehen damit in Europa vor dem Zusammenbruch des internationalen Asylrechts, wie es die Genfer Flüchtlingskonvention zu garantieren versuchte.

Entrechtung durch Abschiebung

Der beschleunigten Abschiebung abgelehnter Asylbewerber wird in der Asylpolitik eine erhöhte Bedeutung beigemessen. Die Möglichkeiten aus humanitären Gründen ein Bleiberecht zu gewähren, wurden drastisch beschnitten. Die Abschiebungen erhöhten sich von 1990 mit 5.861 bis 1993 mit 36.358 um das 6-fache.

Das neue Asylrecht führt zur verstärkten Inhaftierung von Flüchtlingen, bei denen die Vermutung besteht, daß sie sich einer Abschiebung entziehen wollen. Dies führt aber dazu, daß der Freiheitsentzug zu schnell, zu häufig und über einen zu langen Zeitraum angewendet wird.

Das Gesetz sieht die Schaffung eigener Abschiebehaftanstallten vor. Soweit sie geschaffen wurden, erfüllen sie nicht einmal den Mindeststandard, wie er im normalen Strafvollzug immer noch selbstverständlich ist. Zur Bewachung wird Personal eingesetzt, das für diese Aufgabe keinerlei Voraussetzungen hat. Es fehlt an Sozialdiensten, Dolmetschern und den Möglichkeiten der Hafterleichterung. Auch verfügen die Flüchtlinge über kein Geld für Telefon oder Genußmittel Es ist ihnen kaum möglich, mit Familienangehörigen oder sozialen Diensten Kontakt zu halten. Besonders bedenklich ist es, daß es den Flüchtlingen praktisch verwehrt ist, durch Anwälte ihre Rechte zu verteidigen. In den letzten Monaten ist es in diesen Hafthäuseren, aber auch in Gefängnissen seitens der Abschiebegefangenen zu heftigen Protestaktionen gekommen. Sie mnüssen als Ausdruck großer Verzweiflung betrachtet werden. Flüchtlinge, die nichts anderes „verbrochen“ haben, als einen Asylantrag zu stellen und keine Ausweispapiere zu besitzen, fühlten sich als Verbrecher eingesperrt und behandelt.

Die Abschiebepolitik ist verknüpft mit der Ablehnung von Abschiebestopps für Flüchtlinge aus Kriegs- und Krisengebieten. Ein Abschiebeschutz, wie er bisher häufiger gewährt wurde, basiert auf den national und international geltenden Prinzipien, nach denen Menschen weder der Gefahr für Leib und Leben, noch der der Folter und anderer menschenrechtswidrigen Behandlung ausgesetzt werden dürfen.

Ein Schlüsseltext für die staatlichen Vorstellungen, die hinter der forcierten Abschiebepolitik stehen, ist das Schreiben des Parlamentarischen Staatssekretärs im Bundesinnenministeriums an den Oberbürgermeister von Bielefeld vom 9. November 1993. Dieser hatte sich gegenüber der Bundesregierung für einen zeitlich befristeten Abschiebestopp für Kosovo-Albaner eingesetzt und ein Bleiberecht für diesen Personenkreis gefordert, solange die Unterdrückungssituation im Heimatland fortbestehe.

Der Staatssekretär schreibt in seinem Brief zur Situation in Rest-Jugoslawien:

„Es ist sicherlich zutreffend, daß in Serbien und Montenegro für die Kosovo-Albaner ebenso wie für andere ethnische Minderheiten und auch die muslimische Bevölkerungsgruppe eine sehr bedrängte Lage besteht, welche auch von Repressalien und Diskriminierungen gekennzeichnet ist.“

Aufgrund dieser Beurteilung der Lage wäre ein Abschiebestopp angezeigt. Diesen lehnt aber die Bundesregierung nach wie vor und zwar mit folgender Begründung ab:

„Da derzeit nicht absehbar ist, wann es künftig den Minderheiten in Serbien und Montenegro wieder möglich sein wird, frei von Repressalien und Diskriminierungen zu leben, ist auch nicht absehbar, wann ein jetzt beschlossener Abschiebestopp wieder aufgehoben werden könnte. Ein Abschiebestopp würde aus diesem Grund nicht nur eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung, sondern die Eröffnung einer Zuwanderungsmöglichkeit für unbestimmte Zeit bedeuten.“

Eine indirekte Einwanderung über über die Aufnahme von Flüchtlingen soll also mit allen Mitteln, auch unter der Preisgabe humanitärer Prinzipien verhindert werden. Denn es ist eine der politischen Maximen der Bundesregierung: „Die Bundesrepublik ist kein Einwanderungsland“.

Die „Erfolge“ des neuen Aslyrechts

Die Bundesrepublik versteht sich als Teil der „Festung Europa“ mit dem Ziel, möglichst viele Flüchtlinge aus den Kriegs- und Krisenländern des eigenen, erst recht anderer Kontinente daran zu hindern nach (West-)Europa zu gelangen. Auf den Punkt gebracht hat es für sein Land aber auch für Europa der ehemalige französische Staatspräsident Valery Giscard d’Estaing: Frankreich stehe nicht mehr der Immigration sondern der „Invasion“ gegenüber. Die Feinde Europas sind damit wehrlose Flüchtlinge, denen „wehrhafte“ Demokratien den Zugang mit Recht und Gewalt zu versperren suchen. Vieles deutet darauf hin, daß der Flüchtling der Zukunft der „Rechtlose“ schlechthin ist, der „Illegale“, den es abzuwehren gilt.

Die Auswirkungen des neuen Asylrechts werden von der Bundesregierung als großer Erfolg betrachtet. Statistisch gesehen hat das neue Asylrecht dazu geführt, daß die Zahl der Asylbewerber in diesem Jahr gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres um fast zwei Drittel zurückgegangen ist. Schärfere Grenzkontrollen haben die Chancen in die Bundesrepublik zu gelangen, erheblich verschlechtert. Ein Indiz hierfür sieht die Bundesregierung im Rückgang der Festnahmen von Menschen, die heimlich die Grenze überschritten haben. Diese Zahl hat sich mit 19.943 für die ersten sieben Monate gegenüber 38.680 im gleichen Zeitraum des Vorjahres fast halbiert. An den Grenzen wurden Im 2.Halbjahr 1993 91.000 Personen zurückgewiesen bzw. nach einer Festnahme im Grenzbereich in das Nachbarland zurückgeschoben.

30% aller Asylbewerber, die von Januar bis September 1994 einen Asylantrag gestellt haben, kamen aus Rest-Jugoslawien und Bosnien-Herzegowina. Zu weiteren Hauptherkunftsländern von Flüchtlingen gehörten die Kriegs-und Krisenländer Türkei, Afghanistan, Sri Lanka und Algerien. Flüchtlinge aus diesen Ländern stellten 25% der Asylbewerber. Nur ein verschwindend kleiner Teil von ihnen erhält eine Asylberechtigung.

Die Aufgabe das Menschenrecht auf Asyl zu verteidigen

Die Entwicklung der Flüchtlingssolidarität

Der schleichenden Aushöhlung des Asylrechts und der kontinuierlichen Absenkung humanitärer Standards, wie sie seit Jahren im Gange ist haben sich die Kirchen und Wohlfahrtsverbände, vor allem aber auch eine wachsende Zahl lokaler Asyl-Initiativen entgegengestellt. Während das öffentliche Engagement der Kirchen und mancher Verbände immer mehr zurückging, ist das der Asyl-Initiativen immer stärker geworden. Diese empfanden eine gemeinsame Erklärung der Kirchen zum Asylrecht im November 1992 als eine Abkehr von derem bisherigen Engagement. In verschleierenden Formulierungen gaben sie dem Asylkompromiß, der zur Änderung des Asylrechts führte, ihren Segen. Dies empfanden alle Menschen, die sich für Flüchtlinge einsetzten, als einen schweren Rückschlag. Caritas und Gewerkschaften blieben die wichtigsten Großorganisationen, die sich dem Abbau des Asylrechts widersetzten.

Die Entwicklung der Flüchtlings-Solidarität verlief in spontaner und unterschiedlicher Weise. Eine irgendwie geartete Animation hierzu, öffentliche Aufrufe oder Kampagnen, die verstärkte Zusammenschlüsse zugunsten von Flüchtlingen propagiert häten, gab es anfangs wohl nicht. Sie sollte es erst im Zuge der wachsenden Fremdenfeindlichkeit im 2.Halbjahr 1991 durch die Gewerkschaften geben, insofern diese vor allem zu Patenschaften für Flüchtlingswohnheime aufriefen und sich dem wachsenden Terror von Rechts entgegenstellten. Tatsächlich hat der „heiße Herbst“ 1991 mit den ungezählten Angriffen auf Flüchtlinge und ihre Unterkünfte dieser Bewegung einen weiteren Auftrieb gegeben und den Kreis der Solidarität noch einmal deutlich ausgeweitet.

Kirchliche Einrichtungen und Gruppen spielen entgegen der kirchenamtlichen Entwicklung eine gewichtige Rolle. Dies bezieht sich auch auf Funktionsträger der lokalen und regionalen Ebene. Dabei zeigt es sich, daß die evangelische Kirche wesentlich stärker als die katholische das personelle, finanzielle und organisatorische Rückgrat der Asylarbeit bildet und damit wesentliche Voraussetzungen für die Vernetzung geschaffen hat. Die gesellschaftliche Breite der Solidarisierung mit Flüchtlingen wird damit nicht beeinträchtigt, sondern nachhaltig unterstützt. Sie bleibt eines der herausragenden und wohl auch für die weitere Entwicklung einer Bürgergesellschaft wichtigen Merkmale dieses Teil der Neuen Sozialen Bewegungen.

Den Schwerpunkt der Arbeit bildet eine ständige Auseinandersetzung mit den Behörden und den Regierungen um Bleibe-, ja um Lebensrechte von Menschen, die in der Bundesrepublik Zuflucht gesucht haben. Dabei gewinnt der Schutz vor Abschiebungen eine herausragende Bedeutung. Die Zahl der von Abschiebung bedrohten Menschen war durch den Wegfall der Abschiebestopps für Tamilen aus Sri Lanka und Kurden aus der Türkei steil angestiegen. Massenabschiebungen werden geplant und wie bei den Roma aus Rumänien in der Größenordnung von vielen Tausenden bereits vollzogen. Die Neuregelungen des Asylrechts, und zwar die erst im Jahre 1993 voll in Kraft getretenen von 1992 und die des Jahres 1993, haben die Abschiebungszahlen in ungekannte Höhen getrieben.

Mit dem neuen Asylrecht nimmt die Zahl der Menschen zu, die keinen oder einen unzureichenden Bleibeschutz erhalten. Solidarität mi ihnen heißt auch Teilnahme an der „Illegalität“. Die Suche nach, das „Aufgreifen“ und „Abschieben“ von Flüchtlingen, die keinen legalen Status mehr haben oder ihn je erhalten können, wird das innenpolitische Klima beeinflussen und zu größerer Repression und Überwachung führen. Die behördliche und politische Bereitschaft wird wachsen, rechtliche und soziale Solidarität zu kriminalisieren.

In den Stadtstaaten des alten Griechenland galt der als wirklicher Bürger (Bürgerin), der imstande war, sein Gemeinwesen an einem anderen Ort neu zu gründen. Eine ähnliche Kompetenz ist auch in der Bundesrepublik erforderlich. Es sind Bürgerinnen und Bürger gefragt, die diese Republik zwar nicht neu gründen, aber vor ihrem Verfall bewahren. Im Mittelpunkt steht die Aufgabe zu beeinflussen, wie in Deutschland künftig die Würde des Menschen, aller Menschen gewahrt wird. Es geht um den Artikel 1 unserer Verfassung und damit um die Substanz dieses Staates. Vielfältig bedroht war diese Substanz immer, so mußte sie auch jederzeit verteidigt werden. Mittlerweile reicht die Bedrohung aber tiefer. Die Würde des Menschen steht zur Disposition. Exemplarisch bei diesem Vorgang ist der Umgang mit dem Artikel 16 des Grundgesetzes, exemplarisch deswegen , weil der politische Rechtsruck keineswegs nur die Flüchtlinge ins infrarote Visier nimmt, sondern auch auf sozial schwächere Gruppen und ihre Lebensrechte zielt.

Dieser Entwicklung, die zu einer großen Rechtskoalition treibt, stellt sich eine neuartige Bürgerbewegung entgegen. Erkennbar war diese bereits im Herbst 1991. Damals gab es auch eine pausenlose Asyldebatte um die Einschränkung von Zugangsmöglichkeiten und Verfahrensrechten für Flüchtlinge und die wie ein Flächenbrand sich ausbreitenden gewalttätigen Angriffe auf Flüchtlinge. Die Straße suchte auf eine Weise Abwehrpolitik umzusetzen, die zur Lebensbedrohung für Flüchtlinge, aber auch für andere „Fremde“ wurde. Das Erschrecken hierüber hat dann nicht nur die Flüchtlingsinitiativen zu außerordentlichen Schutzmaßnahmen wie etwa Wachen an Wohnheimen und die Organisierung von Demonstrationen veranlaßt, sondern erstmals auch weitere Teile der Gesellschaft zu Initiativen angeregt.

Was sich 1991 deutlich zeigte, war eine erweiterte Sensibilität der Bürgerrechtsbewegung, die dem bis dahin doch sehr begrenzten Kreis der Flüchtlingssolidarität zugute kam. Dies war im Rahmen der Vernetzung der neuen sozialen Bewegungen ein großer Fortschritt. Die Flüchtlingssolidarität wurde Bestandteil der größeren Bürgerrechtsbewegung. Unmittelbar zeigte es sich daran, daß die Asyl-Solidarität in die Vorhaben der Friedensbewegung, wie sie sich im Netzwerk Friedenskooperative organisiert hat, einbezogen wurde und sich ihre Kontakte mit anderen Initiativen gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit verstärkten.

Bedeutungsvoll war auch die größere Beachtung, die die Themen Flüchtlinge und Fremdenfeindlichkeit bei den Gewerkschaften gefunden haben. Sie haben sich 1991 mit einer bisher nicht gekannten Deutlichkeit in die Auseinandersetzungen eingeschaltet. Das gilt für den Deutschen Gewerkschaftsbund als Zusammenschluß aller Einzelgewerkschaften auf Bundes- und Bezirksebene wie auch etwa für die Industriegewerkschaft Metall, die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft und die Gewerkschaft der Polizei. Dabei waren sich die Verantwortlichen in den Arbeitnehmerorganisationen völlig im klaren darüber, daß Überzeugungsarbeit nicht nur nach außen sondern auch nach innen zu leisten war. Sie stellten sich aber ihrer gesellschaftlichen und verbandsinternen Aufgabe in eindrucksvoller Weise. Dabei stellten die vergleichsweise mächtigen Organisationen ihre früheren Bedenken zurück, nicht mit Bürgerbewegungen, die vom Organisationsgrad, von der Struktur und den Mitgliederzahlen mit den Gewerkschaften so vergleichbar waren wie der Elefant und die Maus, zu kooperieren. Es zeichnet sich überhaupt – und zwar nicht nur im Asylbereich – bei den Gewerkschaften ein Trend ab, sich in einer Gesellschaft, die wohl nur noch über eine verstärkte Bürgerverantwortung im Sinne der civil society zu formieren oder auch zu reformieren ist, selbst neu zu orientieren.

Insgesamt haben die Asyl-Gruppen in der Bundesrepublik ihre Lähmung überwunden, in die sie durch die Änderung des Asylrechts geraten waren. Mit den Hiobsbotschaften, die aus der ganzen Republik eintreffen, sind vielfach auch die Informationen darüber verbunden, daß sich neue Initiativen bilden und die bestehenden sich der Kraft der Vernetzung bewußter werden. Die Gruppen und Initiativen haben sich auf schwierige Aufgaben eingelassen. Dabei geht es nicht nur um die Verhinderung unmenschlicher Abschiebungen, sondern auch um den Protest gegen die Unterversorgung der Flüchtlinge nach den neuen Leistungsgesetzen. Es hat ja nicht nur eine Kürzung der Sozialhilfe und eine Umstellung auf Sachleistungen stattgefunden. Es wurde ein ganzes Bündel von Gesetzen geändert, um Asylbewerber schlechter zu stellen. Geändert wurden das Bundeserziehungsgeldgesetz, das Bundeskindergeldgesetz und das Unterhaltsvorschußgesetz. Die Änderungen der früheren Jahre seine hier nicht einmal aufgeführt. Ein weiteres Feld für die Intervention sind die kritikwürdigen Bedingungen, unter denen Flüchtlinge, die in Abschiebehaft genommen wurden, leben müssen.

Dabei darf in keinem Augenblick vergessen werden, daß das, was Flüchtlingen widerfährt, – darauf wurde in der Auseinandersetzung um das Grundrecht auf Asyl immer wieder hingewiesen – ihnen exemplarisch widerfährt. So geht es nicht nur die Fremden im staatsrechtlichen Sinne, sondern um alle „Fremdlinge“, die als randständig eingestuft werden und nicht in den nationalen Bezugsrahmen des Standorts Deutschland passen. Entsprechende Warnungen im Zusammenhang mit der Asylrechtsänderung sind nur von einzelnen Gruppierungen verstanden worden. Weder sie noch wir konnten allerdings voraussehen, wie schnell und rücksichtslos soziale und individuelle Grundrechte zur Disposition gestellt wurden.

Es ist wichtig, den derzeitigen Umgang mit Flüchtlingen in einen größeren gesellschaftspolitischen Kontext zu stellen. Dann wird deutlicher, daß unsere Auseinandersetzung mit der Politik kein isoliertes und nur unter dem Sündenbockmotiv abzuhandelndes Phänomen ist, sondern Teil eines Prozesses, in dem universale Vorstellungen von den Menschenrechten zugunsten nationaler und partikulärer Interessen aufgegeben werden. In dieser Auseinandersetzung, die vielleicht nur an der Oberfläche national drapiert ist, wird Minderheiten, die aus den wirtschaftlich und politisch destabilisierten Zonen der Welt flüchten, die Rechtfertigung für ihr Kommen abgesprochen, sie werden in einer Konsequenz, die mit der Hartherzigkeit von Innenministern allein nicht erklärbar ist, abgewiesen, dehumanisiert und abgeschoben.

Dieser Prozeß wird so lange weitergehen, wie die Wählermehrheit von dem Recht auf eine nationale Privilegierung überzeugt ist und in den Flüchtlingen die Boten für die Forderung nach einer Umverteilung globalen Ausmaßes sieht; sie als diejenigen einschätzt, die in geradezu unverschämter Weise an den mühsam erarbeiteten und durchaus gefährdeten Errungenschaften Westeuropas teilhaben wollen.

Wir befinden uns in einer Phase, in der die Partikularisierung der Menschenrechte und damit ihre Aushöhlung vorangetrieben werden. Dabei ist das Asylrecht untrennbarer Teil einer menschenrechtlichen Sicht des Individuums. Gegen diese Entwicklung sind auf absehbare Zeit keine Mehrheiten mehr zu mobilisieren. Wir müssen im Gegenteil davon ausgehen, daß der Abbau von Rechten, die sich auf Flüchtlinge beziehen, noch nicht an sein Ende gelangt ist. Günter Renner, Vorsitzender Richter am Hessischen Verwaltungsgerichtshof hat in einer Analyse über die ersten Erfahrungen mit dem Asylrecht 1993 weitere Verfassungsänderungen zur endgültigen Beseitigung des Asylrechts nicht ausgeschlossen. Eine breite Mehrheit der Wähler wehre sich gegen die Aufnahme von Flüchtlingen. Er meint, daß die Parlamentarier den einmal eingeschlagenen Weg fortsetzen müßten, um nicht endgültig ihre Glaubwürdigkeit zu verspielen. Renner: „Dabei läuft die Humanität mehr und mehr Gefahr, auf der Strecke zu bleiben.“

Gruppen, die an dem bisherigen Werte-Kanon festhalten, müssen sich ihrer Minderheitenposition bewußt werden und diese auch aushalten. Eine schnelle Veränderung wird es nicht geben, wenn es denn überhaupt in absehbarer Zeit noch einmal zu einer solchen kommt. Wer sich auf die Solidarität mit Flüchtlingen eingelassen hat, braucht einen langen Atem und eine Bereitschaft zum Handeln, die kaum eine Hoffnung läßt, dennoch aber für das eigene moralische und politische Überleben, für das nackte Überleben der Flüchtlinge und für die Revitalisierung bisher geltender Werte unerläßlich ist. Gesellschaftsanalytiker verweisen darauf, daß Minderheiten mehr denn je die ebenso schwierige wie notwendige Aufgabe haben, die Elemente eines gesellschaftlichen Wertekonsenses gegen alle Widerstände lebendig zu erhalten, exemplarisch durchzusetzen und politisch anzumahnen. Der Flüchtlingssolidarität kommt hierbei eine spezifische Aufgabe zu, die sich aus eigener Kompetenz ergibt. Sie rührt her aus dem direkten Kontakt mit Flüchtlingen und deren Willen zum Leben und zu einer lebenswerten Zukunft, aber auch von deren Vorstellungen und Erwartungen an eine gerechte und menschenwürdige Behandlung.

Kirchenasyl

Nach der Änderung des Asylrechts war ich der Auffassung, es bedürfe, um die rigide Asylpolitik von Bund und Ländern zu irritieren, des politischen Instruments des Kirchenasyls und zwar mindestens hundertfach. Erst von diesem Moment an, so war meine Analyse, würden die Medien stark genug einsteigen, kämen die Kirchen nicht an deutlichen Stellungnahmen vorbei, und fühlten sich Politiker, denen Ruhe und Ordnung vor den Wahlen von ausschlaggebender Bedeutung ist, hinreichend herausgefordert.

Es ist alles sehr viel schneller und überraschender verlaufen. Wenn ich dies richtig sehe, hat die Gewährung des Kirchenasyls in der katholischen Gemeinde Gilching für eine kurdische Familie ein überwältigendes Medienecho ausgelöst. Dazu kamen als verstärkende Elemente die Diskussion um die Abschiebung von Kurden, denen bei den Autobahnblockaden Gewalttaten vorgeworfen wurden, die kontroversen Berichte über Folterungen von abgeschobenen kurdischen Menschen in der Türkei, die Auseinandersetzung um den Einsatz deutschen Kriegsgerätes im Südosten der Türkei und die sich überschlagenden Berichte über als inhuman angesehene Abschiebungen oder drohende Abschiebungen von Familien, schließlich eine sich in kirchlichen Gemeinden zeigende Unruhe über die Rücksichtslosigkeit behördlicher Entscheidungen sowie die Hartnäckigkeit von Länderregierungen. All dies, nicht zuletzt auch die Bildung eines bundesweiten Netzes von Kirchenasyl-Initiativen hat dazu beigetragen, daß das Thema Kirchenasyl zu einem Top-Thema der öffentlichen Diskussion werden konnte. Jetzt war es, wie nie zuvor, möglich, die neue Asylpolitik in ihren bedenklichen Auswirkungen für ein Massen-Publikum vermittelbar zu machen.

Das Ergebnis dieser Diskussion ist ebenso bedeutsam wie ihr Verlauf. Vom Ergebnis her haben die Kirchen, trotz gewisser Schwankungen erst der katholischen und dann der evangelischen Seite, das Kirchenasyl stabilisiert, ja von ihren programmatischen Grundlagen her, sogar stabilisieren müssen. Die evangelische Kirche hatte an dieser Stelle theologisch und von der Beschlußlage her bereits vorgearbeitet und konnte auf gewisse Eckpunkte zurückgreifen. Die katholische Kirche mußte in den etwas versteckteren Fundus früherer Auseinandersetzungen zwischen Staat und Kirche greifen, um der Gewissensentscheidung zum Schutz der Menschenwürde den erforderlichen Rückhalt zu bieten. Einen wichtigen Beitrag hierzu hat der konservative Kardinal von Berlin Gerhard Sterzinsky geleistet, als er sich zur völligen Überraschung der Berliner Regierung hinter das Kirchenasyl stellte. Damals ging es um die Abschiebung von Menschen nach Angola. Diese Stellungnahme dürfte es dem Vorsitzenden der deutschen Bischofskonferenz Lehmann erleichtert haben, im Spiegel seine ziemlich eindeutig Position zugunsten eines Kirchenasyls zu vertreten. Daß ihm sein eigenes Sekretariat in Bonn danach in den Rücken fiel, dürfte eher mit der Unruhe in CDU und CSU zu erklären sein als damit, daß der Theologieprofessor den Pfad der Rechtgläubigkeit verlassen hätte.

Bereits im März hatte sich eine gemeinsame Linie der beiden großen Kirchen abgezeichnet. In einer Erklärung hatten sie Bund und Länder dringend gebeten Abschiebestopps für Flüchtlinge aus Ländern, in denen sie um Leib und Leben fürchten müssen, zu erlassen. Sie verweisen auf Gewissensbelastungen von Bürgerinnen und Bürgern, wenn sie von bedrohlichen Abschiebungen erführen. Sie kämen in einen ernsten Konflikt zwischen der Bindung ihres Gewissens und ihrer Treue zum Gesetz. Die Bischöfe plädieren dafür entsprechende Gewissensentscheidungen als Anfragen an Inhalt und Form demokratischer Entscheidungen ernst zu nehmen. Das Kirchenasyl als solches erwähnen sie in dem Schreiben nicht.

Mit 10 Thesen zum Kirchenasyl griff der Rat der EKD im September 1994 erneut in die Diskussion ein. Sie lösten in der evangelischen Kirche eine heftige Diskussion aus. Wieder fühlten sich engagierte Christen und Gemeinden von ihrer Kirche verlassen. In den Thesen wird zugestanden, daß es eine christliche Beistandspflicht gebe. Sie gelte auch Menschen gegenüber, die sich durch eine Abschiebung an Leib und Leben bedroht sähen. Ein solcher Beistand sei zunächst nicht rechtswidrig. Allerdings könne nur der Staat und nicht die Kirche Asyl gewähren. Bei rechtswidrigem Verhalten wie etwa beim Verstecken, dürfe die Kirche als Institution nicht in Anspruch genommen werden. Die Kirche ist nur bereit, „Christen, die aus Gewissensgründen bei ihrer Hilfe für bedrängte Menschen gegen gesetzliche Verbote verstoßen, Gebet, Seelsorge, Respekt und Schutz nicht verweigern. Die Kirche hat Sorge, daß es über das Kirchenasyl zu einem grundsätzlichen Konflikt von Kirche und Staat kommen könnte.

In der Diskussion zeichnen sich die grundsätzliche Frage ab: Ab wann ist die Kirche und die Gemeinde und nicht nur der einzelne zum Widerstand gegen den Staat bzw. gegen bestimmte Gesetze und ihre Umsetzung verpflichtet? Die Auseinandersetzung hierüber muß noch geführt werden. Durch ihre Zustimmung zum Asylkompromiß sind die Kirchen in eine schwierige Lage geraten, eine Lage, vor der sie gewarnt waren und in die sie geschlossenen Auges hineingeraten sind.

Auf ihrer Synode im November hat die EKD heftige Kritik an der Asylrechtspraxis geübt. Das Recht auf Asyl sei nach Änderung des Artikel 16 der Verfassung und der nachfolgenden Gesetze angetastet. Diese Kritik basiert auf einem Bericht des Rates über die „Praxis des Asylverfahrens und des Schutzes vor Abschiebung“. In diesem Bericht sind die Erfahrungen aus den Landeskirchen und den Diakonischen Werken zusammengetragen. Dieser Bericht wird die Diskussion um das Kirchenasyl auf eine realistische Grundlage stellen.

Noch einmal zurück zur katholischen Kirche. Interessant hierbei war die Position des Münchener Kardinals Wetter. Er lehnt den Begriff Kirchenasyl ab, weil es ein solches in unserer Rechtsordnung nicht gebe. Gleichzeitig erklärt er aber, Staatsbürger hätten das Recht und die Pflicht, sich gegen mögliches und schweres Unrecht des Staates zu stellen. Es sei weder sittlich erlaubt noch nach staatlichem Recht zulässig, Menschen in Folter und Tod abzuschieben. Wenn sich in einem solchen Fall Bürger gegen eine staatlich geplante Maßnahme stellten, verstießen sie nicht gegen den Rechtsstaat. Sie trügen dazu bei, daß der Staat nicht gegen seine eigenen Grundsätze verstieße. Vor allem ist hier die Diskussion um das Kirchenasyl in einen bürgerrechtlichen Rahmen gestellt. Es geht also nicht um ein in einem demokratischen Rechtsstaat nicht vorhandenen rechtsfreien Raum, sondern um eine bürgerrechtliche Verpflichtung und Kompetenz. Das Kirchenasyl wird somit zu einer Chiffre für einen zivilen Ungehorsam, der für jede Demokratie von herausragender Bedeutung ist und sich als Gegenteil einer Politikverdrossenheit darstellt.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat vor einiger Zeit eine Rezension des Buches von Heinz Kleger, Der neue Ungehorsam mit der Überschrift „Der Bürger als Gesetzesbrecher“ veröffentlicht. In der wissenschaftlichen Arbeit wird davon gesprochen, daß sich der neue Ungehorsam gegen die Widersprüche der Zivilisationsdynamik und die notorischen Mängel ihrer sozialen und politischen Verarbeitung richte. Der Autor setzt sich für eine lernfähige Demokratie ein. Dies sei sie nur, wenn sie von Bürgern getragen werden, die durch Ungehorsam und Widerstand bereit seien, Lernprozesse anzustoßen – bei anderen, aber auch bei sich selbst. Mir reicht die Zeit nicht, um die Lernprozesse zu beschreiben, die dort vor sich gehen, wo ein Kirchenasyl gewährt wurde. Diese fanden gerade auch in Gilching statt, wo schließlich 400 Bürgerinnen bereit waren, einen Sicherungskordon um die Kirche zu bilden, ein Vorgang, den AP in einem weltweit verbreiteten Korrespondentenbericht über Kirchenasyl in Deutschland als bemerkenswert herausstellte.

Kleger kommt ähnlich wie die kirchlichen Stellungnahmen zu dem Schluß, daß der Bürger persönlich für die Kosten seines Handelns aufkommen müsse. Wenn er dennoch in einigen Fragen keine Kosten und Mühen scheut, so sei dies ein starker Indikator dafür, daß es ihn (den Bürger) jenseits aller spättechnokratischen Politikkonzeptionen und selbstreferentiellen Systemperspektiven doch noch gibt: den Bürger, der darauf besteht, in letzter Instanz über seine Geschichte selbst zu verfügen.

Eine fränkische Schloßherrin erbittet dieser Tage die Adresse eines Rechtsanwalts für einen jungen Albaner aus dem Kosovo. Die adelige Dame, Frau eines früheren Botschafters, will sich für den Verbleib dieses Mannes einsetzen. Sie ist der Auffassung, daß ihm bei seiner Rückkehr Folter und Tod drohen. Sollte der Flüchtling dennoch ausgewiesen werden, wäre sie bereit ihn zu verstecken. Wir hätten es dann mit einer neuen Variante zivilen Ungehorsams zu tun. Statt von Kirchenasyl müßte man in diesem Fall von einem Schloßasyl sprechen, ein Faktum, das für Bayern und darüber hinaus sicher noch mehr Aufmerksamkeit erregen würde als das kürzliche Asyl in einer katholischen, bayerischen Kirche. Es paßt aber in den bürgerrechtlichen Kontext, der es nicht ausschließt, daß auch Gewerkschaftshäuser, Universitäten, Schulen oder Vereinshäuser zu Orten des Asyls werden.

FLÜCHTLINGE EINE HERAUSFORDERUNG ZUR SOLIDARITÄT

Der Vatikan hat am 2.Oktober 1993 ein Dokument zur Weltflüchtlingsfrage herausgegeben. Dies mußte damals als eine Stellungnahme gewertet werden, die sich auf die aktuellen Diskussionen in allen Zufluchtsländern, nicht zuletzt in der Bundesrepublik bezog. Rom analysiert und argumentiert in diesem Dokument in einer menschenrechtlichen Dimension. Dies ist damit zu begründen, daß sich der Vatikan mit diesem Papier in erster Linie an die Weltöffentlichkeit wende. Seine besondere Bedeutung sehe ich darin, daß es von einer weltweit verbreiteten Großorganisation kommt, für die es hinsichtlich ihres umfassenden Informationsstandes kaum einen Vergleich, vielleicht nicht einmal bei den Vereinten Nationen gibt. Sein Inhalt mußte als eine Bestätigung und Bestärkung für alle angesehen werden, die versuchen, die Realitäten der weltweit anwachsenden Fluchtbewegungen einzuschätzen und daraus – unter dem Gesichtspunkt der Solidarität – entsprechende Konsequenzen ziehen wollen.

Das Dokument trägt die Überschrift: „Flüchtlinge – eine Herausforderung an die Solidarität“. Erst in seinem Teil IV richtet es sich speziell an die Kirche, bis dahin wendet es sich an die internationale Völkergemeinschaft.

Rom geht davon aus, daß die offiziell vom Hohen Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) angegebene Zahl von 17 Millionen Flüchtlingen zu niedrig ist und zwar deswegen, weil hier nur Menschen gezählt werden, die unter eine strenge durch das Völkerrecht, gemeint ist die Genfer Flüchtlingskonvention, vorgegebene Begriffsbestimmung fallen. Diese Zahl verdoppele sich durch Opfer von Vertreibung und einer zwangsweisen Umsiedlung innerhalb des eigenen Landes. Inzwischen arbeitet der UNHCR auch mit einer veränderten Statistik.

Es gibt verschiedene Kategorien von Flüchtlingen:

  • Völkerrechtlich anerkannte Flüchtlinge
    Es sind dies die politischen Flüchtlinge der Genfer Flüchtlingskonvention. Die vielen anderen, deren Menschenrechte genau so mißachtet würden, genössen den Schutz dieser völkerrechtlichen Instrumente nicht. (Hier bietet sich der Vergleich zum bisherigen Artikel 16 Grundgesetz an, der auch nur den sehr begrenzten Kreis politischer Flüchtlinge im strengen und engen Sinn geschützt hat.
  • „De-facto“-Flüchtlinge
    Bei den internationalen Rechtsschutz für Flüchtlinge würden die Opfer einer falscher Wirtschaftspolitik oder von Naturkatastrophen nicht berücksichtigt. Gleichzeitig wird darauf verwiesen, daß der UNHCR verschiedentlich gebeten worden sei, sich um solche Personen zu kümmern, die sich unfreiwillig außerhalb ihres Landes aufhielten. In der Anmerkung wird Bezug genommen auf einen erweiterten Flüchtlingsbegriff der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) aus dem Jahre 1969 und die Erklärung von Cartagena, die sich 1984 mit der Flüchtlingssituation in Mittelamerika befaßte.

    Eine wichtige Unterscheidung wird im Hinblick auf die sogenannten „Wirtschaftsflüchtlinge“ („migranti economici“) getroffen: „Jene, welche wegen wirtschaftlicher Verhältnisse flüchten, die so schlecht sind, daß ihr Leben und ihre physische Sicherheit bedroht sind, müssen anderes behandelt werden als jene, die letztlich nur deswegen auswandern, um ihre persönliche Situation weiter zu verbessern.“

  • Vertriebene innerhalb des eigenen Landes (5)
    Eine weitere Kategorie von Flüchtlingen sind Menschen, die innerhalb des eigenen Staates aus ihrer Heimat vertrieben werden und bei Revolutionskriegen zwischen die Fronten geraten. Rom fordert, daß diese Flüchtlinge auch als Flüchtlinge der Genfer Flüchtlingskonvention betrachtet werden.

Veränderungen des Flüchtlingsbegriffs
Rom kritisiert, daß einige Staaten, die Kriterien für die Einlösung internationaler Verpflichtungen willkürlich bestimmten, daß Länder, die bisher zu einer großzügigen Aufnahme von Flüchtlingen bereit gewesen wären, politische Entscheidungen träfen, um die Zahl der Asylsuchenden möglichst niedrig zu halten und Anträge auf Asyl zu erschweren, daß möglicherweise niedergelegte Mauern an anderer Stelle neu aufgebaut würden.

Die Wahrnehmung des Asylrechts „darf nicht durch Abschreckungs- oder rigorose, strafähnliche Maßnahmen behindert werden“. Ebenfalls wird eine Internierung von Asylbewerbern abgelehnt (13).

Die Katholische Kirche setzt sich gegen alle Bestrebungen zum Abbau des Asylrechts für einen erweiterten Flüchtlingsschutz ein (6ff). Das „Grundrecht auf Asyl“ („fondamentale diritto d’asilo“) „darf niemals verweigert werden, wenn das Leben im Heimatland des Asylsuchenden ernsthaft bedroht ist.“

Rom macht in der ganzen Diskussion den international überfälligen Schritt und fordert die Erweiterung des Flüchtlingsbegriffs. Die internationalen Abkommen müßten überarbeitet werden, und „der Schutz, den sie garantieren, muß auch auf andere Gruppen ausgedehnt werden“. Diese Erweiterung ergebe sich aus der Analyse der politischen Instabilität, die auf „die Armut, die Ungleichheit in der Verteilung von lebenswichtigen Ressourcen, die Auslandsschulden, galoppierende Inflation, strukturelle wirtschaftliche Abhängigkeit“ zurückzuführen sei. Hier übernimmt die katholische Kirche voll und ganz eine Kritik, die bisher als linke apostrophiert und abgewehrt werden konnte. Eine wichtigen Faktor für die „politische Instabilität“ wird dann aber auch in dem Phänomen der Naturkatastrophen gesehen.

Wie weit Rom in seinem Flüchtlingsbegriff geht, kommt da zum Ausdruck, wo es heißt: „Jede Person, die sich in Gefahr befindet und (sich) als solche an einer Landesgrenze zu erkennen gibt, hat ein Recht auf Schutz“(10). Auch sollten die internationalen Vereinbarungen die Verpflichtung enthalten, „daß diejenigen, die vor systematischer Unterdrückung und schweren sozialen Konflikten flüchten nicht als ‚Wirtschaftsflüchtlinge‘ betrachtet werden“ (13).
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Schließlich dürfe niemand „in ein Land zurückgeschickt werden, wo er oder sie diskriminierende Handlungen oder ernste, lebensbedrohende Situationen zu befürchten hat“. Im Falle der Ablehnung von Asylbewerbern werden die Behörden verpflichtet, sicherzustellen, daß den Betroffenen „eine sichere und freie Existenz anderswo garantiert“ wird.

Das Dokument hat in der ganzen bundesdeutschen Asyldiskussion bezeichnenderweise keine Rolle gespielt. Bei allen Vorbehalten, die man gegen den Papst und Rom in vielen Fragen haben kann, dies ist das wichtigste Dokument, das wir derzeit in der Kirche und in der Welt zur Asylfrage haben. Es sollte wenigstens in der Zukunft noch eine Rolle spielen.


Office: Postbox: 101843, 60018 Frankfurt a. Main
Herbert Leuninger, coordinator of European refugee policy


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