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HERBERT LEUNINGER ::: ARCHIV FOTOSERIEN 2000 :::

Zehn Jahre gegen den Strom

Mainzer Flüchtlingsrat 1990 – 2000

FOTOS


Laudatio

21. März 2000

Mainzer Flüchtlingsrat 1990 – 2000

„10 JAHRE GEGEN DEN STROM“

LAUDATIO

Ich bedanke mich für die Einladung und Ehre, zum 10-jährigen Bestehen des Mainzer Flüchtlingsrates die Laudatio halten zu dürfen. An sich scheint die Lage der Flüchtlinge und der mit ihnen verbundenen und für sie tätigen Menschen kein Fest zuzulassen. Wäre es nicht eher angezeigt, sich in Trauer zu hüllen und in Wehklagen auszubrechen?

Behrouz Asadi hat mich als Festredner eingeladen. Bin ich nicht eher ein Bußprediger und eine männliche Kassandra? Wie dem auch sei, ich nehme die Gelegenheit, zum Dekadenfest des hiesigen Flüchtlingsrates zu sprechen, gern wahr. Eine Laudatio soll ich halten, eine Lobpreisung. Wenn es mir denn zukäme, und ich das Zeug zum Poeten und Sänger hätte, würde ich gern als Troubadour der Asylszene auftreten.

Bei den höfischen Troubadourgesängen des Mittelalters gab es nämlich die besonderen Sparte der sogenannten „Sirventes“. Sie wurden aus der Perspektive der Diener, also aus einer Perspektive der kleinen Leute vorgetragen. In deutscher Sprache nannte man sie „Rügelieder“, was zu den Mainzer Hofsängern passt.

Das Lied, das ich gern als fahrender Sänger vortragen möchte, sollte in drei Strophen drei Botschaften vermitteln. Zu wirklicher Dichtung reicht’s aber nicht. Ich bleibe also bei Prosa.

Ich komme zur ersten Strophe

und rühme die Flüchtlinge als Botschafter. 1988 hat es die Stuttgarter Erklärung des ÖKUMENISCHEN FORUMS FÜR GERECHTIGKEIT, FRIEDEN UND BEWAHRUNG DER SCHÖPFUNG gegeben, einer europaweiten kirchlichen Veranstaltung. Darin werden Flüchtlinge als „Botschafter“ bezeichnet, und zwar als „Botschafter weltweiten Unrechts“.

„Botschafter“. Damit werden Flüchtlingen in den Rang von Diplomaten erhoben, die mit der Vertretung der Interessen ihrer Herkunftsländer betraut sind. Verstünden wir Flüchtlinge – durchaus im übertragenen Sinn – als Botschafter, würden wir sie mit allen Ehren empfangen, besonderer Vorrechte einräumen und ihren Aussagen große Aufmerksamkeit schenken. Ihr Aide-mémoire ist die Botschaft von der globalen Situation der Welt. Gemäß der Stuttgarter Erklärung ist es die Botschaft über weltweites wirtschaftliches und politisches Unrecht.

Ich glaube, daß der Mainzer Flüchtlingsrat auf der Basis der Menschenrechte eine Vorstellung vom Flüchtling verteidigt hat, die diesen Gedanken sehr nahe kommen. Es war ein Zusammenschluß, in dem von Anfang an Flüchtlinge als Partnerinnen und Partner einbezogen waren und eine gleichrangige Rolle spielen konnten. Ich denke beispielsweise an Mehdi Jafari Gorzine und an Behrouz Asadi, der mir persönlich einen tiefen Einblick in das persönliche, familiäre und kollektive Schicksal eines Flüchtlings vermittelt hat. Sein Engagement war von diesem Schicksal durchdrungen und seine Sympathie mit den Asylbewerberinnen und -bewerbern war eher Mitleiden als Mitleid. Das gilt sicher für alle geflüchteten Persönlichkeiten, die in den vergangenen 10 Jahren im Flüchtlingsrat mit gearbeitet haben. Ist mein Eindruck falsch, daß der Mainzer Flüchtlingsrat durch seine Partnerschaft mit Flüchtlingen einen besonderen Charakter und eine besondere Kompetenz besaß?

Ich komme zum Inhalt der zweiten Strophe

Dabei möchte ich mit großem Respekt auf all die Menschen zu sprechen kommen, die, ohne selbst unmittelbar betroffen zu sein, sich auf die Solidarität mit Flüchtlingen eingelassen haben. Ich habe in der Bundesrepublik kaum etwas Eindrucksvolleres erlebt als diese Verbundenheit mit fremden, geflüchteten Menschen. In diese Beurteilung beziehe ich den Mainzer Flüchtlingsrat ausdrücklich mit ein. Dabei handelt es sich nicht nur um Hunderte, sondern um Tausende, die sich mit dem Schicksal von Flüchtlingen identifiziert haben. Es waren und sind in der Mehrzahl Frauen!

Der unmittelbare Kontakt mit Flüchtlingen ist für diese Art der Solidarität selbstverständlich, aber auch unerlässlich. Ich hatte ganz vergessen, dass Günter Burkhardt, von Anfang an Geschäftsführer von „Pro Asyl“, neben Pfarrer Friedrich Vetter und Mehdi Jafari Gorzini die ersten Presseerklärungen herausgegeben hat. Unter der Nr. 90-1116 habe ich die vom 30.8.1990 aus meinem Archiv geholt. Sie kritisiert die Unterbringung von Asylbewerbern in Zelten und erwähnt ebenso ablehnend die bereits früher erfolgte auf Schiffen. Die lagen ja damals im Mainstream oder auch Rheinstream, wenngleich sie gegen den Strom verankert waren. Günter Burkhardt, und darauf möchte ich hinaus, hat mit der Arbeit auf der lokalen Ebene die für Bundesebene unerlässliche Erdung gehabt. Sie drückt sich etwa darin aus, dass er dieser Tage bei der Diskussion um die Greencard von Tausenden hochqualifizierten Asylsuchenden spricht, die durch ein Arbeitsverbot gehindert werden, ihre Talente dem digitalen Entwicklungsland Deutschland zugute kommen zu lassen.

Der Mainzer Flüchtlingsrat, der sich aus Flüchtlingen, Mitgliedern des Ausländerbeirates und Initiativgruppen, aus Mitarbeitern der Kirchen, Wohlfahrtsverbände und Menschenrechtsorganisationen, und nicht zuletzt aus juristischen Fachleuten zusammensetzt, hat sich von Anfang an auf höchst schwierige und bisweilen aussichtslos erscheinende Aufgaben eingelassen, auf ein Schwimmen gegen den Strom.

Der hauptamtliche und ehrenamtliche Einsatz, der hier zu leisten war, ging oft über das Menschenmögliche hinaus und dürfte auch bei Mainzer Helferinnen und Helfern nicht nur zu Depressionen, sondern unter Umständen auch zu psychischen Dauerschäden geführt haben. Sie und erst recht die Flüchtlinge mussten irre werden an dieser Gesellschaft.

Wer zur Lobby für Flüchtlinge gehört, muss ständig gegen den Strom schwimmen, braucht ein großes Durchhaltevermögen und die Fähigkeit, sich trotz minimalster Erfolgsaussichten nicht beirren zu lassen. Nach wie vor muss bei den verbliebenen rechtlichen Möglichkeiten das herausgeholt werden, was noch irgendwie herauszuholen ist. Wohl dem – und das wird auch aus Mainz berichtet – wer in der Verwaltung und bei den Behörden Menschen findet, die zwar die Gesetze und Verordnungen nicht ändern können, aber kleinste Spielräume zum Schutz von Flüchtlingen zu nutzen bereit sind.

„Wer gegen den Strom schwimmt, braucht Rückenwind“. Am wichtigsten ist der Rückenwind durch die Akzeptanz der Flüchtlinge. Rückenwind kommt aber durch die Vernetzung auf der städtischen Ebene selbst, die sich über den Arbeitskreis Asyl Rheinland-Pfalz bis zu „Pro Asyl“ erstreckt und von dort in die europäische Ebene reicht. Ähnlich wichtig sind die Querverbindungen zu allen anderen Sektoren der Bürgerrechtsbewegung. Sie gewinnt lokal und global in dem Maße an Bedeutung, wie der Staat zur Agentur des Kapitals verkommt.

So ist die Arbeit des Mainzer Flüchtlingsrates – natürlich nicht ohne die angemessene finanzielle Unterstützung – notwendiger denn je. Notwendig zu allererst für die unmittelbar betroffenen Flüchtlinge selbst. Das brauche ich nicht näher zu beschreiben. Den Einsatz für Menschlichkeit haben aber auch wir selbst notwendig, um vor uns bestehen zu können. „Wer zur Quelle will, muß gegen den Strom schwimmen!“ Die Quelle, das ist unser Wertekanon, das ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, das ist unsere Verfassung, das ist die Bibel oder jedes andere heilige Buch, vielleicht auch unser Gewissen.

Die dritte Strophe meines Gesangs

ist relativ kurz, aber vielleicht nicht ganz unwichtig. Es geht um das gemeinsame Feiern in der Asylszene. Hier erlaube ich mir, persönliche Erfahrungen einzubringen. Ich tue es, weil ich weiß, dass ähnliche Erfahrungen hier in Mainz, aber auch an vielen anderen Orten gemacht wurden. Ich selbst hatte mich vor Jahren in Hofheim einem Friedenskreis „Solidarität mit Flüchtlingen“ angeschlossen. Wenn Sie mich fragen, was ich aus dieser Zeit als besonders wichtig betrachte, so würde ich an erster Stelle die gemeinsamen Feiern nennen.

Festliche Termine, dazu zählten auch die ökumenischen Gottesdienst im Hessischen Erstaufnahmelager in Schwalbach mit anschließendem Zusammensein. Das wird mir der Kollege Vetter sicher bestätigen. Von Menschen, die zwei Stunden zuvor noch namenlose Fremde waren, verabschiedeten wir uns in herzlicher Freundschaft.

Feste, wie sie auch in Mainz dazu gehören, sind wesentlich für das respekt- und würdevolle Umgehen miteinander, sie begründen und festigen Freundschaften, lindern ein wenig seelische Not und tragen dazu bei, die Freude am Leben nicht zu verlieren. Kaum besser als im Fest erfahren wir die universale und gleichrangige Zusammengehörigkeit von Flüchtlingen und Einheimischen. Jedes Fest ist ein Protest gegen die gesetzliche und strukturelle Entwürdigung von Flüchtlingen. Diese Feste geben uns die Kraft, weiter gegen den Strom zu schwimmen.

Ihr seht, die dritte Strophe meines Troubadourgesangs durfte nicht fehlen. Vielleicht versteht Ihr jetzt besser als am Anfang, dass ich zum 10-jährigen Bestehen des Mainzer Flüchtlingsrates nicht nur sehr gern eine Rede, sondern eine Festrede übernommen habe.

Feiert Euer Fest! Feiert feste! Wer Feste feiert, geht nicht unter!


Zeitungsbericht

MAINZER ALLGEMEINE ZEITUNG vom 23. März 2000

Zehn Jahre gegen den Strom

Mainzer Flüchtlingsrat zog Bilanz
Schwenk in Unterbringungspolitik:
Aus Gemeinschaftsunterkünften in Wohnungen

Ein Jubiläum als Indiz für Verfolgung und Vertreibung:
Seit zehn Jahren setzt sich der Mainzer Flüchtlingsrat für die Belange
der Flüchtlinge ein. Am Dienstagabend wurde Rückblick gehalten.
Von Dietmar Buschwa

MAINZ. – Als sich 1990 der Mainzer Flüchtlingsrat gründete, herrschte in Mainz „geordnetes Chaos“. Zahlreiche Asylbewerber lebten in Notunterkünften, warteten in Zelten darauf, in ein Schiff am Feldbergtor umzusiedeln. Andere lagerten im Keller einer Schule. Mit harten argumentativen Bandagen fuhren sich damals der damalige Sozialdezernent Willi Abts (SPD) und Günter Burkhardt (Sprecher des frisch gegründeten Mainzer Flüchtlingsrats) gegenseitig in die Parade. – Am Dienstagabend saßen sie im Valenciasaal des Rathauses friedlich und scherzend nebeneinander. Das politische Klima und der Druck haben sich verändert. Gleichwohl Unterdrückung, Folter und Vertreibung weiterhin Alltag sind auf unserer Erde.

„Zehn Jahre gegen den Strom“, so lautete das Motto des Festabends. Friedrich Vetter, der Flüchtlingspfarrer des Diakonischen Werks, bedankte sich zunächst einmal bei allen, die diesen Kraftakt ermöglicht hatten. Und in Richtung der Verwaltungsmitarbeiter bat er um Nachsicht: „So nett wie heute Abend sind wir nicht immer.“

In Vertretung von Oberbürgermeister Jens Beutel übernahm Dezernent Dr. Hans-Jörg v. Berlepsch (Grüne) die Grußworte. Er attestierte dem Flüchtlingsrat, stets ein unbequemer, aber auch kritikfähiger Mahner gewesen zu sein. Mit seiner Arbeit habe der Rat ein kreatives Gegengewicht gegen den Zeitgeist gesetzt. „Ich wünsche Ihnen und uns, dass Ihnen der Mut nicht ausgeht und Ihr Engagement nicht nachlässt – solange die Welt so ist, wie sie ist. “

Auch Sozialdezernentin Malu Dreier (SPD) schätzt den Flüchtlingsrat als „kritischen Begleiter, konstruktiven Berater und manchmal anstrengenden Partner“, der eine wichtige und starke Lobbyarbeit leiste. Dreyer kündigte als Nahziel an, rund 250 Flüchtlinge aus Gemeinschaftsunterkünften in Wohnungen umzusiedeln. Die Schwierigkeit: Es müssen genügend Wohnungen gefunden werden (Sozialhilfe-Standard).

Diese Wende in der Unterbringungspolitik führt Dreyer auf eine Veränderung des politischen Klimas und auf die gewachsene Einsicht bei Politikern zurück, auf diese Art, sowohl Geld zu sparen als auch die humanitäre Situation der Menschen zu verbessern.

Als Laudator sprach der Mitbegründer von „Pro Asyl“, Herbert Leuninger. Er lobte die Bürgerrechtsbewegungen, die zunehmend an Bedeutung gewännen, wenn der Staat zur Agentur des Kapitals zu verkommen droht“. Den Flüchtlingen zollte er Respekt: Würden die Flüchtlinge an erster Stelle als Botschafter weltweiten Unrechts in den Rang von Diplomaten erhoben, würden wir sie im übertragenen Sinne mit allen Ehren empfangen und ihren Aussagen größere Aufmerksamkeit schenken.“ Seinen Respekt drückte Leuninger aber auch allen aus, die sich solidarisch mit den Flüchtlingen erklärt haben.

Einen hob er besonders hervor: Behrouz Asadi. Der Mitbegründer des Mainzer Flüchtlingsrates scheidet nach zehn Jahren aus seiner Funktion aus. Dessen Sympathie mit den Asylbewerbern und seine tätige Hilfe habe Leuninger immer viel eher als ein Mitleiden denn ein aus Mitleid gesteuertes Handeln erfahren. Asadi will sich auf seine Arbeit als Flüchtlingskoordinator bei den Maltesern konzentrieren.


Presseerklärung des Mainzer Flüchtlingsrates

Mainz, den 30.8.1990

Keine Zelte für Asylsuchende

Flüchtlinge, Mitglieder des Ausländerbeirates und freier Initiativen, Mitarbeiter aus Kirchen, Wohlfahrts- und Menschenrechtsorganisationen haben den Mainzer Flüchtlingsrat gegründet. Der Flüchtlingsrat will sich in der Öffentlichkeit für die Rechte der Flüchtlinge einsetzen und um Verständnis für Asylsuchende werben.

Auf heftige Kritik und Unverständnis stößt beim Flüchtlingsrat die Entscheidung der Stadt Mainz, Flüchtlinge in Zelten unterzubringen. Zelte hätten eine fatale psychologische Wirkung. Schon durch die Form der Unterbringung würden Flüchtlinge zu Menschen zweiter Klasse. Zelte signalisierten Katastrophenstimmung und Abwehr. Niemand dürfe sich wundern, daß solche Stimmungen dann auch in der Bevölkerung durchschlügen. Die Unterbringung von Flüchtlingen in Zelten und Schiffen heize die Stimmung gegen Flüchtlinge unnötig an.

Der Flüchtlingsrat hält die Aufstellung von Zelten für vermeidbar. Er richtet an die Stadt Mainz die Frage, ob es zuträfe, daß sich eine Mainzer Firma vorurteilsbeladen gegen Flüchtlinge aussprach und mit Rücksicht darauf eine vorübergehende Unterbringung von Flüchtlingen in einer nicht genutzten Turnhalle unterblieb.

Mitglieder des Flüchtlingsrates kennen einige leerstehende Wohnungen und Häuser in Mainz. Der Flüchtlingsrat fordert die Stadt Mainz auf, wie bereits in anderen Städten geschehen, solche Wohnungen zu beschlagnahmen und Flüchtlinge sowie andere Wohnungssuchende darin unterzubringen. Das Leerstehen von Wohnungen sei eine grobe Mißachtung der Sozialbindung von Eigentum, die die Stadt nicht länger tolerieren dürfe.

Für den Flüchtlingsrat:

Pfarrer Friedrich Vetter,
Mehdi Jafari Gorzini,
Günter Burkhardt


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