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TAG DES FLÜCHTLINGS 1995

Zweierlei Wahrnehmung oder:

Behördliche Auskünfte
und die Realitäten vor Ort

Am 12. Februar 1994 muß die makedonische Roma-Familie Jasarovski nach abgelehntem Asylantrag aus Deutschland in ihr Heimatland ausreisen. Alle Versuche der Familie und ihrer deutschen Unterstützer, eine Abschiebung wegen der behandlungsbedürftigen Epilepsie des Kindes Orhan zu verhindern oder aufzuschieben, waren fehlgeschlagen. Die Ausländerbehörde des Kreises Neuss ordnet die Abschiebung an, nachdem der deutsche Botschafter in Skopje in einem Schreiben versichert, daß jedem der nach Makedonien zurückkehrt, eine Unterkunft zugewiesen und Hilfe zum Lebensunterhalt gewährt wird. Die medizinische und medikamentöse Versorgung sei gewährleistet. Weiter versichert der Botschafter, daß Makedonien durch Hilfslieferungen der EU ausreichend Medikamente erhalte und hervorragende Kenntnisse in der Behandlung der Epilepsie vorhanden seien.

Aus Kirchen, Wohlfahrtsverbänden und internationalen Hilfsorganisationen liegen den Unterstützern der Familie Jasarovski allerdings gegenteilige Informationen vor: Medikamente seien eben nicht ausreichend vorhanden, Hilfe zum Lebensunterhalt gebe es in der Praxis nicht. Aufgrund der wirtschaftlichen Lage in Makedonien könne eine ausreichende Versorgung Orhans nicht gewährleistet werden.

Während viele Abgeschobene in ihren Heimatländern ohne jeden Kontakt nach Deutschland bleiben, geschieht im Fall der Familie Jasarovski Ungewöhnliches. Eine Pastorin und ein Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde Osterath reisen gemeinsam mit einem Krefelder Fotojournalisten und einem Vertreter des Flüchtlingsrates Neuss nach Makedonien und überprüfen dort, was mit Familie Jasarovski geschehen ist. Besucht werden die Romaslums von Skopje. Gespräche werden geführt mit Bezirksbürgermeistern, Klinikchefs, der Caritas und dem Roten Kreuz, der deutschen Botschaft. Gesprochen wird auch mit Menschen, die arbeitslos von einer geringen Sozialunterstützung leben müssen und mit Menschen, die wie viele Roma-Familien ohne Arbeit und Unterstützung sind und Tag für Tag um ihr Überleben kämpfen müssen.

Am Ende der Reise faßt die Delegation die Ergebnisse der Gespräche zusammen.

Ein Auszug:

  • »Die deutsche Botschaft behauptet, Rückkehrern würde seitens Makedonien Unterkunft, ggf. Sammelunterkunft, gewährt. Diese Behauptung ist falsch. Rückkehrern wird nichts zur Verfügung gestellt, dies ist auch angesichts der wirtschaftlichen Lage Makedoniens nicht zu erwarten.
  • Die deutsche Botschaft behauptet, Rückkehrer bekommen eine Art Hilfe zum Lebensunterhalt. Diese Behauptung ist falsch. Richtig ist, daß es eine Sozialunterstützung gibt, doch diese nur in ganz besonderen Härtefällen (eine alleinerziehende Mutter mit einem Kind unter drei Jahren erhält DM 20,-/ Monat, eine ähnliche Leistung erfolgt bei Arbeitsunfähigkeit durch Krankheit). Familien haben i. d. R. keinen Anspruch auf Sozialunterstützung, also auch die Familie Jasarovski nicht.
  • Die deutsche Botschaft behauptet, der medizinische Standard ist in fachlicher Hinsicht ausreichend und genügt z. B. bei Epilepsie sogar höheren Ansprüchen. Diese Behauptung ist richtig, ist allerdings auch von niemandem bezweifelt worden.
  • Die deutsche Botschaft behauptet, eine sog. greencard garantiere eine kostenlose medizinische und medikamentöse Versorgung. Diese Behauptung ist so nicht richtig:
    • Die Aussagen über freie stationäre Behandlung differieren,
    • die greencard gibt es und sie kann ggfs. für Hilfsbedürftige beim Gesundheits- oder Sozialamt beantragt werden, aber sie garantiert keine freie Behandlung, bedingt vielmehr erhebliche Zuzahlungen,
    • viele Medikamente, besonders solche höheren Anspruchs, gibt es nur in privaten Apotheken, bei denen die greencard nicht zum Zug kommt,
    • Therapien wie krankengymnastische Übungen müssen zu hundert Prozent vom Patienten getragen werden; im Falle Orhans ist dies ein Betrag, der dem Monatseinkommen eines ungelernten Arbeiters entspricht.«

Die Realität sieht für die Familie Jasarovski ganz anders aus als aus der Perspektive der deutschen Botschaft. Vater Jasarovski ist nach der Rückkehr arbeitslos.

Die Familie ist bei einem Bruder untergekommen. Dort leben zehn Personen auf etwa fünfzig Quadratmetern. Bis zum Besuch der deutschen Unterstützer erfolgt keine medizinische Behandlung. Orhan hatte jedoch einige Medikamente aus Deutschland mitbringen können.

Durch den Besuch der Delegation und das öffentliche Echo bessert sich die Situation der Familie Jasarovski. Über ein Projekt der Caritas erhält sie eine Wohnung, der Vater eine subventionierte Arbeit.

Abgeschoben werden Roma nach Makedonien ausnahmslos. Schließlich kehren sie nicht in eine Situation politischer Verfolgung sondern »nur« in Armut und Elend zurück. Daß dies heißen kann, ohne medizinische Versorgung zu leiden und zu sterben, interessiert wenig; daß die Rückkehr fast immer bedeutet, am Rande der Gesellschaft einen Kampf ums tägliche Überleben führen zu müssen, überhaupt nicht.

Michael Stoffels, Mitglied der Delegation nach Makedonien, beschreibt seine eigenen Wahrnehmungen im Romaslum von Skopje: »Keiner weiß, wie Shutka die traurigen Rückkehrer aufsaugt, wie es sie ernährt. Den Jahren am Tische der Reichen folgen die Jahre der Not. Kaum zurückgekehrt schweift der Blick zurück in die rettende Ferne.

Erschüttert gibt sich der deutsche Botschafter über das Schicksal einer Roma-Familie, die ihm auf seine Nachfrage hin mitteilte, sie lebe auf der Straße und habe kein Heim. Viele Geschichten, so der Botschafter .in gelösterer Stimmung weiter, könne er über Roma erzählen. Eigentlich seien Roma glückliche Menschen. Hätten sie etwas Geld, legten sie die Arbeit beiseite. Wozu jetzt noch arbeiten, würden sie sagen. Wir aber, seufzte der Botschafter, seien schon unruhig bei dem Gedanken, was in fünf Jahren sei, treffen Vorsorge für Jahrzehnte. Die Roma dagegen lebten in den Tag hinein, nur von heute auf morgen. Eigentlich eine glückliche Kultur.

„Neunzig Prozent hier sind ohne geregelte Arbeit“, sagt Eies Eslim, der Bezirksbürgermeister der Topana. – Wovon leben die Menschen? – „Sie kämpfen ums Überleben Tag für Tag. Heute wissen sie nicht, ob sie morgen zu essen haben. Ich darf ihnen danken, daß sie sich in ihrem Land gegen Abschiebungen einsetzen. Jede Abschiebung hierher verschärft die Unerträglichkeit unserer Lage“.«


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