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TAG DES FLÜCHTLINGS 1999

Woran wir uns nicht (wieder) gewöhnen dürfen

Die organisierte Unmenschlichkeit der Abschiebungshaft in Deutschland

Heiko Kauffmann

Materialheft zum Tag des Flüchtlings am 1. Oktober 1999

Herausgeber: PRO ASYL, Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge
mit freundlicher Unterstützung von: Deutsche Stiftung für UNO-Flüchtlingshilfe e. V., Deutscher Caritasverband e. V., Interkultureller Beauftragter der Ev. Kirche in Hessen und Nassau, Kirchlicher Entwicklungsdienst der Ev. Kirche in Deutschland, durch den ABP, Land Hessen

Der Tag des Flüchtlings findet im Rahmen der Woche der ausländischen Mitbürger/ Interkulturellen Woche (26. September bis 2. Oktober 1999) statt und wird von PRO ASYL in Zusammenarbeit mit dem Ökumenischen Vorbereitungsausschuß zur Woche der ausländischen Mitbürger vorbereitet.

INHALT

Wieder einmal – der Tod in Abschiebehaft. Zum Tode des jungen Harvinder Singh Cheema im November 1998 erklärte die Anstaltsleitung (laut Agenturmeldungen), bei dem jungen Inder habe es »keine Anzeichen für eine Selbstmordgefahr« gegeben. Der Notarzt, der zu dem erhängten Jungen gerufen wurde – da war dieser schon mehrere Stunden tot – erklärte, der junge Inder habe bereits früher versucht sich umzubringen. Damals – so der Arzt gegenüber dem Mitteldeutschen Rundfunk – habe er sich die Pulsadern aufgeschnitten.

»Damals« – wie lange kann ein 16jähriger in Deutschland allein in Abschiebungshaft sitzen?! Er saß dort fast 8 Wochen – ganz genau seit dem 20. September 1998! Welche schreckliche Symbolik ist das: Der 20. September ist der von der UN kreierte Internationale Tag des Kindes, der die Gesellschaften, besonders aber die Regierungen, an die Rechte der Kinder erinnern soll: Also auch an Artikel 37 in Verbindung mit Artikel 3 der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, nach denen Haftunterbringung von Kindern in jedem Fall zu vermeiden, weil sie mit dem »Wohl des Kindes« nicht zu vereinbaren ist.

Der Tod dieses Jungen ist ein eklatantes Versagen des Staates und der deutschen Behörden und eine beispiellose Verletzung ihrer Fürsorgepflichten. Auch gegenüber dem 12jährigen Senegalesen (der inzwischen abgeschoben wurde) und dem 15jährigen Sudanesen (der mehr als 5 Monate in Abschiebungshaft saß), die zunächst mit ihm in einer Zelle untergebracht waren.

Nirgendwo zeigen sich die inhumanen Auswirkungen des neuen Asylrechts so deutlich wie in den gegenwärtigen Bedingungen der Abschiebungshaft und der Durchführung der Abschiebungen selbst.

Verantwortlich und schuldig gemacht werden allenfalls die Flüchtlinge selbst:

»Ich bin in Deutschland nicht aus Hunger und Armut, sondern um Schutz zu haben und als Mensch beachtet zu werden. Leider habe ich das andere Gesicht Deutschlands kennengelernt … mein Pech, daß das alles mir zu spät erkennbar wurde, weil ich bin nie in Konflikt mit Gesetzen geraten, weil ich bin immer von Natur aus korrekt. Und nun ich gehe in ein Asyl – keiner kann es mir wegnehmen. Ich bin nicht das erste und nicht das letzte Opfer.«

Dies schrieb der syrische Kurde Yousef D. an seine Freundin, ging in einen Wald und erhängte sich, nachdem er unmittelbar zuvor die Abschiebungsandrohung der Ausländerbehörde erhalten hatte.

» … Wir sind auf die Welt gekommen, um zu leben und alle Rechte zu haben, die wir verdienen. Aber in Gefängniszellen zu sitzen, ohne etwas begangen zu haben, das will Gott nicht, wie soll das ein Mensch akzeptieren?

Ich habe mich schuldig gemacht, weil ich die Menschen in Deutschland um Asyl bat. Zur Strafe behandelten sie mich wie einen Schwerverbrecher und sperrten mich ein. …«

Dies schrieb ein Abschiebungshäftling aus der Haftanstalt Coesfeld.

Menschen wurden und werden in Deutschland inhaftiert, ohne eine strafbare Handlung begangen zu haben.

Abschiebungshaft in Deutschland wird auch heute noch zu schnell, zu häufig und für zu lange Zeit verhängt. Abschiebungshaft ist nicht mehr Mittel zur Sicherstellung der Ausreise im Ausnahmefall. Sie ist immer mehr zum Regelfall und für Flüchtlinge zur Endstation in Deutschland geworden.

Abschiebungshaft ist ein Instrument der Abschreckungsmaxime geworden, Flüchtlinge zu entmutigen und sie so schnell wie möglich außer Landes zu bringen: Abschiebungen – egal wohin, mit allen Mitteln, um fast jeden Preis.

Wie hoch dieser Preis ist, zeigt sich an der psychischen Situation vieler Menschen in Abschiebungshaft, die aufgrund der Umstände und Bedingungen von Unsicherheit, Angst, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit bestimmt ist. Den meisten ist überhaupt nicht klar, warum sie im Gefängnis sitzen. Blieb ihnen schon das vorausgegangene komplizierte Verfahren undurchsichtig und unklar, so verstößt die Inhaftierung gegen ihr Gerechtigkeitsgefühl. Sie können nicht ver stehen, daß sie inhaftiert werden, ohne daß sie eine Straftat begangen haben. Die so empfundene Sinnlosigkeit der Haft, die unbestimmte Dauer und die Angst davor, daß an ihrem Ende möglicherweise die Abschiebung in ein gefährliches Herkunftsland oder ein unbekanntes Drittland steht, machen die erzwungene Inhaftierung unerträglich. Angst, Depressionen, Verzweiflung, Ungeduld, Langeweile, Aggressionen, Nervenzusammenbrüche, Selbstmordversuche. Das ist die Realität des Lebens in Abschiebungshaft, den finstersten Orten der Demokratie.

Über 30 Menschen haben sich seit Inkrafttreten der Änderung des Asylrechts 1993 in der Abschiebungshaft oder aus Angst vor der Abschiebung selbst das Leben genommen; 100 weitere versuchten es; viele überlebten nur schwerverletzt.

waren die Worte, die Apedo LossouGavo immer wieder sprach, bevor er sich Ende April 1996 aus Verzweiflung über die Ablehnung seines Asylantrags im Bezirkskrankenhaus Landshut erhängte.

»Ich habe Angst. Angst, die euch draußen fremd ist und hoffentlich fremd bleiben wird. Die Angst lebt bei mir im Bauch, im Kopf, in den Füßen, in den Händen. Meine Hände zittern und sind naß und kalt wie die Hände meiner Großmutter, ehe sie starb. Die Angst verläßt mich auch nicht im Schlaf. Ich kann sie mit niemandem teilen und niemandem mitteilen …« schrieb ein junger Mann aus der Abschiebungshaft Berlin Kruppstraße, der vier Tage nach dieser »Botschaft« nach China abgeschoben wurde.

»… Ich bin jetzt schon so lange hier, daß es für mich bald gar keine Welt mehr außerhalb dieser Abschiebungshaft gibt. Ich habe schon soviel geschrieben, aber kann irgend jemand verstehen, was ich sagen will? Ich weiß nicht, was soll ich noch schreiben, ich kann mich selbst nicht mehr verstehen. Ich habe so lange gewartet, seit so langem gehofft, hier heraus zu kommen. Ich kann nicht mehr, es ist wie sterben, denn das Leben ist am Ende, es geht nicht weiter. Welche Schuld lastet auf mir? Ich habe Angst vor dem Sterben, aber meine Zelle ist meine Zeugin: Ich kann nicht mehr! Und auch das Leben macht mir Angst. Ich will nicht mehr leben. So viele Verletzungen, Du weißt nicht, wie viele Verletzungen jeden Tag hinter diesen Mauern, das wird man nie wieder vergessen …«

Dies schrieb der Libanese Ali Kamal nach 11 Monaten Abschiebungshaft in Berlin an einen Freund.

Muß nicht, wer in deutscher Abschiebungshaft lieber den Freitod wählt als sich in sein Herkunftsland zwangsweise zurückfliegen zu lassen, triftige und wichtige Gründe für einen Asylantrag gehabt haben?

Generell verstoßen die gegenwärtige Praxis der Abschiebungshaft und die Bedingungen ihrer Durchführung in Deutschland gegen die Menschenwürde.

Die zentrale Forderung von PRO ASYL: Die Abschiebungshaft als Haft muß weg!

Es kann nicht sein und darf nicht so bleiben, daß Menschen, die nichts Strafbares getan haben, wie Kriminelle in Gefängnisse gesperrt werden und oft über Monate Maßnahmen und Restriktionen ausgesetzt sind, die in einem Rechtsstaat gewöhnlich denen vorbehalten sind, die eine Straftat begangen und zu verbüßen haben.

Die Gewöhnung an Unrecht muß ein Ende haben!

Ordnung für den Abschiebungsgewahrsam im Land Berlin (Gewahrsamsordnung) der Senatsverwaltung für Inneres vom 1. Dezember 1998 (Auszug)

1.4 Wesen der Verwahrung

(1) Die Verwahrung in den Abschiebungsgewahrsamen dient der vorübergehenden sicheren Unterbringung der Abschiebungshäftlinge. (…)

1.5 Kosten

(3) Abschiebungshäftlinge sind verpflichtet, dem Betreiber der Gewahrsame Aufwendungen zu ersetzen, die sie durch vorsätzliche oder grob fahrlässige Selbstverletzung oder Verletzung eines anderen Gefangenen oder Beschädigung von Sachen verursacht haben. (…)

2.8 Verkehr mit der Außenwelt

2.8.1 Besuche

(3) Informationsbesuche der Abschiebungsgewahrsame von Abgeordneten und Vertretern anerkannter, auf dem Gebiet der Flüchtlingshilfe tätiger Organisationen stehen in jedem einzelnen Fall unter dem Vorbehalt der Zustimmung des Senators für Inneres. Liegt eine Zustimmung vor, ist den angekündigten Abgeordneten der Besuch bzw. die Besichtigung der Gewahrsame zu ermöglichen. (…)


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