TAG DES FLÜCHTLINGS 1991
„Wir wollen hier bleiben“
Roma-Brief an Rau
INHALT
ZUR DISKUSSION GESTELLT
- Um die Menschenrechte der Amseln ist es schlecht bestellt – zur Flüchtlingskonzeption der Bundesregierung
- Resignation ist keine Alternative: Zu den Ursachen des internationalen Flüchtlingsproblems
- Die Erweiterung des Flüchtlingsbegriffs
- Kinderrechte im Schatten des Krieges
- Die psychischen Folgen von Sammellagern
- Harmonisierungsmaßnahmen von Asylpolitik und Asylrecht innerhalb EG-Europas
- Flüchtlinge in Europa
BEISPIELE UND ANREGUNGEN
- Bausteine für einen Gottesdienst
- Unterbringung von Flüchtlingen durch kirchliche Wohnprojekte
- Aufruf zum Gutscheinumtausch in Recklinghausen
- Wir wollen hier bleiben – Roma-Brief an Rau
- Wo Einheimische und Fremde zueinander finden – das positive Beispiel Reinhardshagen
- Feste feiern mit jungen Aussiedlern
- Die Bundesregierung zur Aussiedlerthematik
- Asyl im Nationaltheater in Weimar
- Keine Abschiebung in die Türkei! Aktionen in Bayern
- Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in Bayern
- Arbeitskreis Flüchtlinge in Sachsen gegründet
- Demonstration für mehr Bewegungsfreiheit
- Wir haben Platz im Boot – Plakataktion gegen Fremdenfeindlichkeit
Sehr geehrter Herr Rau. Wir haben im Fernsehen gesehen, daß Sie jetzt anders reden als am Anfang des Jahres, als wir mit über 1000 Menschen zu Fuß zu Ihnen gekommen sind. Jetzt erinnern Sie sich nicht mehr daran, daß Sie uns das Bleiberecht versprochen haben. Jetzt sollen wir Ihr Land verlassen. Sie haben sich für uns eine neue Flüchtlingspolitik ausgedacht…
- Wir sollen „zurückgeführt“ werden! In welches Vaterland denn? Sie wissen, daß wir und schon unsere Eltern seit vielen Jahren umhergezogen sind. Der Staat, in den Sie uns schicken wollen, hat sich nie um uns gekümmert. Wir haben keinen Staat, aber wir wollen endlich Ruhe, und zwar hier. Unsere Kinder sind hier geboren, unsere Eltern in der Fremde gestorben, unsere Freunde sind hier.
- Sie wollen mit Geld in Jugoslawien Gutes tun? Was hat das mit uns zu tun? Wenn Sie uns helfen wollen, helfen Sie uns hier! Wenn Sie aber meinen, Sie können hier, wo Sie an der Regierung sind, nicht helfen, wie wollen Sie dann in Jugoslawien helfen, wo Sie keine Macht haben? Oder wollen Sie die Jugoslawen mit viel Geld nur dazu bringen, daß sie sagen, sie nehmen uns?
- Wissen Sie, was mit den internationalen Hilfsgeldern geschah, die 1963 nach dem Erdbeben in Skopje der jugoslawischen Regierung gegeben wurden, damit sie die völlig zerstörten Romaviertel wieder aufbaut? Wir Roma haben nie etwas davon gehabt..
- Im Fernsehen sehen Sie jeden Abend, daß in Jugoslawien Krieg ist, daß unsere Söhne zum Militär sollen, um gegeneinander zu kämpfen, daß die Roma in Kosovo und in Serbien von den anderen Völkern in Jugoslawien gegenseitig benutzt werden; dahin sollen wir zurück?
- Es soll Romavertreter in Jugoslawien geben, die mit Ihnen zusammenarbeiten wollen und die vorher mit den Kommunisten paktiert haben. Auch unter Deutschen gibt es viele, die für Geld ihre Landsleute verraten! Haben Sie das vergessen?
- Wir sollen ja nur freiwillig dorthin zurückgehen, sagen Sie. Und wenn wir nicht wollen? Dann dürfen wir warten bis unser Antrag abgelehnt ist – und dann? Sie glauben, daß wir uns dann freiwillig abschieben lassen? Wir werden nach Frankreich gehen oder Italien, und wir werden wiederkommen.
- Stimmt es, was unsere deutschen Freunde sagen: Weil im Januar 1991 das neue Ausländerrecht kommt, müssen Sie, Herr Rau, nur noch zwei Monate abwarten, dann haben Sie nichts mehr mit uns zu tun? Weil dann der Innenminister in Bonn alles entscheidet?
Herr Rau! Wir machen Ihnen einen Vorschlag: Sie helfen Jugoslawien und Rumänien und Polen. Sie bauen Wohnungen, Schulen, Krankenhäuser; und Sie sorgen vor allem dafür, daß die Roma, die dort leben, als eigenes Volk anerkannt werden, daß unsere Menschenrechte nicht mehr verletzt werden … Wenn Sie dann in fünf oder zehn Jahren meinen, Sie haben etwas erreicht (Gott segne Sie und helfe Ihnen dabei), dann schauen wir uns gerne alles an und überlegen dann, ob wir freiwillig in solch ein Land gehen.
Oder glauben Sie, daß Sie so mächtig sind, daß wir jetzt gleich dorthin gehen sollen? Glauben Sie, daß Sie in Jugoslawien mehr Macht haben als in Nordrhein-Westfalen? Hier sind Sie der Chef! Und trotzdem glauben Sie, uns noch nicht einmal hier vor Ihren deutschen Landsleuten schützen zu können. Obwohl wir hier viele Freunde haben und unsere Kinder zusammen mit Ihren Kindern in die Kindergärten und die Schulen gehen! Wie wollen Sie uns denn in einem Staat schützen, wo uns niemand mehr kennt und wo Sie keine Macht haben?