Frankfurter Rundschau
13. Oktober 1998 (Frankfurt)
„Wir kamen aus einem Gefängnis, jetzt sind wir in einem anderen“
Flughafen-Sozialdienst zeigt die Situation
auf Rhein-Main in einer Dokumentation auf
Appell an die neue Bundesregierung
Kirchen fordern Ende des Flughafenverfahrens (FR 12.10.)
Flughafenverfahren – Dokumentation (FR 13.10.)
FR-Interview
Flucht aus Transitbereich
Die jungen Leute aus Algerien haben die grauen Blechspinde mit den Nummern 802 bis 807 belegt, und wenn sie durch die zugeschweißten Fenster ihres kargen Zimmers blicken, sehen sie auf triste Verwaltungsbauten, betonierte Parkflächen und ein paar Vorfeld-Fahrzeuge der Flughafen AG. „Wir sind aus einem Gefängnis gekommen, aber jetzt sind wir wieder in einem anderen Gefängnis“, haben sie in englischer Sprache auf Pappschilder geschrieben. Und auf französisch sagen sie, daß einige von ihnen schon seit drei Monaten hier drin sind. Und warten.
Doch ihre Chance, etwas anderes von Deutschland zu sehen als dieses „Gefängnis“ im Gebäude 182 des Flughafens, sind gering, weiß Clemens Niekrawitz, der Leiter des Flughafen-Sozialdienstes. Denn der Bürgerkrieg, der in ihrem Heimatland tobt, gilt hier nicht als Asylgrund.
Die jungen Algerier werden also wahrscheinlich zu jenen rund 20 Prozent der am Flughafen ankommenden Asylbewerber gehören, die das umstrittene „Flughafenverfahren“ nicht überstehen. Im vergangenen Jahr waren es rund 450 Menschen, Erwachsene und Kinder, deren Antrag auf Asyl von Bundesgrenzschutz (BGS) und Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (BAFl) als „offensichtlich unbegründet“ zurückgewiesen wurde. Sie durften nicht einreisen, um ihr Asylverfahren zu betreiben. Knapp 450 von insgesamt 2312 Flüchtlingen. „Dafür wird ein Riesen-Aufwand betrieben, der ökonomisch unsinnig ist und menschlich tragisch“, sagt Niekrawitz.
Und da weiß er sich einig mit Pfarrerin Esther Gebhardt vom Evangelischen Regionalverband und Hartmut Fritz, dem Frankfurter Caritasdirektor. Beide Organisationen, die den Flughafen-Sozialdienst betreiben, appellieren an die Bundesregierung, sie solle das „Flughafenverfahren“ endlich abschaffen. „Die psychischen Belastungen sind für viele Flüchtlinge unerträglich“, sagt Fritz. „Hochtraumatisiert“ durch die Erfahrungen der Flucht kämen sie am Flughafen an, würden erneut eingesperrt, im einem Fall sogar volle 394 Tage lang, seien oft ohne Kontakt zu Familienangehörigen, von denen viele sich ebenfalls auf der Flucht befänden, ergänzt Gebhardt: „Einige reagieren mit Verzweiflungstaten und Selbstmordversuchen.“
Wie ernst zu nehmen diese Aussagen sind, hat der Flughafen-Sozialdienst in einer umfangreichen Dokumentation jetzt eindrucksvoll belegt. Mitarbeiter beschreiben darin die Situation im Gebäude 182, das fast immer überbelegt ist, in dem noch immer die Waschräume fehlen, das vor allem für Kinder zum lebenslangen Trauma werden könne. Und sie haben Fälle dokumentiert, in denen die Flüchtlinge die Situation psychisch nicht mehr verkrafteten, zum Strick griffen oder zur Medikamentenschachtel oder sich die Pulsadern aufschnitten. Elf Selbstmordversuche gab es allein in diesem Jahr.
Die Hoffnung, sagt Pfarrerin Gebhardt, liege nun auf der neuen rot-grünen Bundesregierung: Die müsse sich endlich dem Thema Abschaffung des „Flughafenverfahrens“ zuwenden – „schon ihres eigenen ethischen Anspruchs wegen.“ mat