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01.10.1997

Tag des Flüchtlings: 3. Oktober 1997
PRO ASYL fordert Schutz für verfolgte Frauen
„Wer Menschenrechte vergißt, vergißt sich selbst!“:
Deutsche Politik ignoriert Menschenrechte von Frauen


Schutz für verfolgte Frauen und die Anerkennung geschlechtsspezifischer Menschenrechtsverletzungen an Frauen und Mädchen als Asylgrund fordert die bundesweiter Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge PRO ASYL anläßlich des diesjährigen Tags des Flüchtlings am 3. Oktober. Er steht unter dem Motto: „Wer Menschenrechte vergißt, vergißt sich selbst!“

Über 19 Millionen – mehr als 80 Prozent der Flüchtlinge in der Welt – seien Frauen und Mädchen, erklärte der Sprecher von PRO ASYL, Heiko Kauffmann. In den meisten Fällen seien Frauen auch vor einer geschlechtsspezifischen Verfolgung geflohen. Dazu zählt PRO ASYL: drohende Verfolgung wegen frauenpolitischen Engagements (z.B. gegen den Zwang von Kleidervorschriften oder zum Verschleiern), sexuelle Gewalt gegen Frauen, Verfolgung und Folter wegen politischer Betätigung von Frauen beziehungsweise ihrer Familienangehörigen, gezielte Verfolgung von Frauen aufgrund ethnischer, religiöser oder sozialer Gründe, Traumatisierungen durch gezielte und systematische Vergewaltigungen im Krieg, genitale Verstümmlungen.

Kauffmann warf der Bundesregierung und der Regierungskoalition mangelnde Sensibilität und die Vernachlässigung des Menschenrechtsschutzes für verfolgte Frauen vor: „Wenn die Bundesregierung und die sie tragende Koalition – trotz entsprechender Vorschläge des UN-Flüchtlingshochkommissariats, des Europarates und eines einstimmigen Votums des Deutschen Bundestages (von 1990) für den Schutz verfolgter Frauen bisher noch keine dieser Empfehlungen umgesetzt haben, ist dies auch als Ausdruck der Mißachtung und Ignoranz von Menschenrechten für Frauen zu werten und stellt schon eine eklatante Form politischer, staatlicher und rechtlicher Diskriminierung von Frauen dar.“

PRO ASYL nennt dafür mehrere Beispiele:

  1. Die existierende Schutzlücke für Flüchtlingsfrauen verdeutlicht etwa ein typischer Bescheid des Bundesamtes im Fall einer somalischen Asylantragstellerin. Sie hatte vorgetragen, daß im Rahmen der Auseinandersetzungen in Somalia Angehörige eines anderen Stammes drei ihrer Brüder erschossen und später sie und ihre Schwester vergewaltigt hätten. Aus der Entscheidung des Bundesamtes: „Die von der Antragstellerin vorgetragenen Repressalien und Schikanen durch Angehörige … sind allein Auswirkungen der bürgerkriegsähnlichen Verhältnisse in denen es neben den militärischen Auseinandersetzungen auch zu einzelnen Übergriffen auf die Zivilbevölkerung kommt… Nach einhelliger Auffassung der Rechtsprechung ist somalischen Asylantragstellern die Asylgewährung im Sinne des Artikel 16a, Abs. 1, Grundgesetz, zu versagen, da politische Verfolgung grundsätzlich staatliche Verfolgung ist… Auch der Verfolgungsbegriff des § 51, Abs. 1, Satz 1 Ausländergesetz … als staatliche Verfolgung die effektive Gebietsgewalt eine Staates voraus und ist somit für die Situation in Somalia auch nicht zutreffend… Auch Abschiebungshindernisse nach § 53 Ausländergesetz sind zu verneinen, da die hierfür erforderliche individuell konkrete Verfolgung nicht vorliegt, vielmehr von einer lediglich allgemeinen Gefährdung aufgrund der Bürgerkriegssituation auszugehen ist.“ (Az: E 2003 231-273 vom 23. Februar 1996)
  2. Entgegen aller Erfahrungen aus dem Krieg in Bosnien werten deutsche Gerichte Vergewaltigungen im Rahmen von Kriegshandlungen oft noch als nicht asylrelevante Exzesse einzelner. Beispiel Sri Lanka: „Die vorwiegend bei der Großoffensive… verübten Vergewaltigungen sind … nicht dem Tatbestand an dem Staat zuzurechnenden Verfolgung, sondern dem Bereich der Exzesse einzelner zuzuweisen. Auch wenn die Kampfführung der Truppen insbesondere bei der Großoffensive allgemein durch Rücksichtslosigkeit und Brutalität gegenüber der Zivilbevölkerung bestimmt war, werden die Vergewaltigungen nach übereinstimmenden Auskünften den unteren Rängen der Streitkräfte zugeschrieben und mit – auch alkoholbedingter – Disziplinlosigkeit in Zusammenhang gebracht.“ (OVG NRW, Urteil vom 14.06.1996, 21 A 5046/94.A)
  3. Eine Frau aus Afghanistan gibt zur Begründung ihres Asylantrages an, sie habe sich nach dem Einmarsch der Taliban in Kabul nur noch zu Hause aufhalten und nicht mehr zur Arbeit gehen können, nachdem eine Kollegin geschlagen und verschleppt worden sei. Das Bundesamt prüfte überhaupt nicht die Frage, ob Frauen in Taliban-Gebieten besondere Verfolgungsmaßnahmen drohen oder etwa im Fall der Berufsausübung akut gefährdet sind (Entscheidung des Bundesamtes Februar 1997).

    Eine andere Frau, die nach einer Demonstration gegen die Taliban für mehrere Tage festgenommen wurde und zur Begründung des Asylantrags angibt, mit der Herrschaft der Taliban und deren Fundamentalismus nicht einverstanden zu sein und die befürchtet, bei erneuter Aktivität gesteinigt und getötet zu werden, erhält vom Bundesamt kurz und knapp den Bescheid:

    „Die Antragstellerin konnte eine politische Verfolgung nicht glaubhaft darlegen. Soweit sie sich auf eine Festnahme im November 1996 in Kabul durch die Taliban beruft, kann sie daraus weiter nichts für eine Asylberechtigung herleiten, da sie freigelassen wurde und sich verpflichten mußte, nichts mehr gegen die Taliban und deren Vorstellungen zu unternehmen. Befürchtungen der Antragstellerin hielten sich allgemein. Die Antragstellerin hatte sich an die Sharia und die islamischen Regeln, kontrolliert durch die Taliban, zu halten. Eine konkrete Verfolgung ist ihr nicht mehr entstanden. Der Asylantrag war damit abzulehnen.“ (Entscheidung des Bundesamtes, August 1997).

Kauffmann dazu: „Die systematisch betriebene Diskriminierung von Frauen, der erzwungene Verzicht auf Berufstätigkeit und der rigide, mit schwersten Sanktionen belegte Zwang, sich dem fundamentalistischen Vorstellungen der Taliban willenlos zu unterwerfen, wird vom Bundesamt nicht einmal hinterfragt, sondern durch seine Entscheidung als Rechtens anerkannt.“

Laut PRO ASYL scheiterten sehr viele Frauen – wie in den genannten Beispielen – an den „Konstruktionsfallen“ des deutschen Asylrechts, das politische Verfolgung so eng definiert, daß spezielle Verfolgungshandlungen gegenüber Frauen als „nicht asylerhebliche Merkmale“ interpretiert werden.

Auch das Dogma einer ausschließlich vom Staat ausgehenden Verfolgung verursache eine immer größer werdende Schutzlücke, unter der Frauen – vor allem aus Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten – besonders hart zu leiden hätten.

Kauffmann: „Bei frauenspezifischen Verfolgungshandlungen kommt es oft zu gravierenden Fehleinschätzungen etwa in der Bewertung von Gewalttaten oder Verhaltensvorschriften gegenüber Frauen. Darin drücken sich erhebliche Defizite im Bewußtsein und Einfühlungsvermögen von Entscheidern und Richtern aus!“

Als völlig überzogen bewertet PRO ASYL auch die erhöhten Anforderungen an die Glaubhaftmachung. So werde die Aussage von traumatisierten Frauen, die über erlittene Gewalt und Vergewaltigungen nicht unmittelbar in der ersten Anhörung, sondern erst nach einiger Zeit berichten können, als „verspäteter Vortrag“ und „gesteigertes Vorbringen“ abgewertet.

„Völlig abwegig und unerfüllbar“ nennt Heiko Kauffmann den staatlichen Anspruch eines zügigen, minutiösen, detaillierten und möglichst widerspruchsfreien Berichts in den Fällen traumatisierter Frauen: „Hier ist die Politik in der Pflicht, daß die offenkundigen Mängel des Asylverfahrens und die mangelnde Sensibilität der Entscheider und Richter nicht weiter den betroffenen Frauen angelastet wird!“

Dasselbe gelte für die Institution des Bundesbeauftragten, der grundsätzlich in positiven Entscheiden Widerspruch einlege und damit das Leiden der Frauen und ihre Gefährdung noch verstärke.

PRO ASYL ruft Bürgerinnen und Bürger, Initiativgruppen zur aktiven Teilnahme an den vielfältigen Aktionen zum Tag des Flüchtlings auf. Bundesweit finden an diesem Tag über 80 Veranstaltungen statt, in deren Mittelpunkt die Situation von Frauen steht, die aus geschlechtsspezifischen Gründen verfolgt werden. Jede/r einzelne könne durch seine Unterschrift unter den Aufruf von PRO ASYL und dem Deutschen Frauenrat die bundesweite Kampagne „Verfolgte Frauen schützen“ aktiv unterstützen.


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