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TAG DES FLÜCHTLINGS 2000

Von der Krankheit zum Tode

Ein Sondereinsatzkommando erschießt einen traumatisierten Flüchtling

Bernd Mesovic

Herausgegeben zum Tag des Flüchtlings am 29. September 2000

Herausgeber: PRO ASYL, Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge mit freundlicher Unterstützung von: Deutsche Stiftung für UNO-Flüchtlingshilfe e.V., Deutscher Caritasverband e.V., Interkultureller Beauftragter der Ev. Kirche in Hessen und Nassau, Kirchlicher Entwicklungsdienst der Evangelischen Kirche in Deutschland durch den ABP, Land Hessen.

Der Tag des Flüchtlings findet im Rahmen der Woche der ausländischen Mitbürger/Interkulturellen Woche (24. bis 30. September 2000) statt und wird von PRO ASYL in Zusammenarbeit mit dem Ökumenischen Vorbereitungsausschuß zur Woche der ausländischen Mitbürger vorbereitet.

INHALT

Beispiele und Anregungen

Anfang März 2000. Das Magazin Der Spiegel berichtet über den Freispruch eines New Yorker Gerichts für Polizeibeamte, die einen unbewaffneten Guineer mit 41 Schüssen getötet haben. Berichtet wird über Demonstrationen und Empörung nicht nur unter der schwarzen Bevölkerung über das Urteil, das weithin als Ausdruck von Rassismus verstanden wird.

Kaum über die Schlagzeilen der Lokalpresse hinaus kam der Tod eines Flüchtlings, den Beamte eines Sondereinsatzkommandos bei einer versuchten Festnahme durch Schüsse tödlich verletzten. Und weil er schon fast vergessen ist, sei an dieser Stelle an Dr. Zdravko Nikolov Dimitrov, Physiker aus Bulgarien, der in Deutschland Asyl gesucht hatte, erinnert.

Angeordnet hatte Dimitrovs Festnahme die Ausländerbehörde Braunschweig, obwohl die Behördenvertreter ihm noch etwa zwei Wochen zuvor schriftlich mitgeteilt hatten, es würden bis zu einer amtsärztlichen Untersuchung keine Zwangsmaßnahmen eingeleitet. Als Beamte ihn festnehmen und in die Abschiebungshaftanstalt transportieren wollten, drohte der durch Foltererfahrungen in Bulgarien traumatisierte Flüchtling, sich mit einem Küchenmesser zu töten. Anstatt an dieser Stelle die Situation zu deeskalieren und auf die Festnahme zu verzichten, wurde das Sondereinsatzkommando (SEK) verständigt, das die Wohnung des Bulgaren mit einer Blendgranate beschoss und stürmte. Dr. Dimitrov stieß mit dem Küchenmesser um sich und wurde schließlich »in Notwehr« von zwei Schüssen der SEK-Beamten getroffen.

Der Ausländerbehörde war Dimitrovs Vorgeschichte und die Suizidgefahr bekannt. Sie geht auf Misshandlungen und Folterungen durch die bulgarische Polizei und Ärzte in einem psychiatrischen Gefängnis im Jahr 1992 zurück. Dimitrov hatte mehrfach erklärt, er werde nicht zulassen, dass man ihn lebend nach Bulgarien abschiebe. Am 9. August 1999 wurde der Ausländerbehörde eine ärztliche Bescheinigung eines Braunschweiger Arztes übermittelt, der die Suizidgefahr bestätigte. Die Ausländerbehörde ordnete eine amtsärztliche Untersuchung an. Dr. Dimitrov erschien nicht zum angesetzten Termin. Er war erfüllt von einer tief sitzenden Angst »für verrückt erklärt zu werden und in eine Anstalt eingewiesen zu werden« (O-Ton Dimitrov). Vor dem Hintergrund seiner Psychiatrisierungserfahrung in Bulgarien misstraute er staatlich bestellten Medizinern. Am 27. August 1999 wandte sich der Niedersächsische Flüchtlingsrat an die Ausländerbehörde und bat, in Anbetracht des Krankheitsbildes Herrn Dr. Dimitrov Zeit zu geben und auf eine amtsärztliche Untersuchung zumindest vorerst zu verzichten.

»Die Einleitung der Abschiebung zum jetzigen Zeitpunkt könnte verheerende Folgen nach sich ziehen«, heißt es in dem Schreiben des Flüchtlingsrates. Ende August begab sich Dr. Dimitrov zum renommierten »Behandlungszentrum für Folteropfer« in Berlin. Dessen leitender Arzt, Dr. med. Sepp Graessner, nahm ausführlich Stellung, wies auf die Unmöglichkeit einer adäquaten Behandlung in Bulgarien hin und schätzte Dr. Dimitrov als traumatisiert ein: »Die unzureichende Anerkennung der traumatischen Erfahrungen haben zumindest eine Reaktualisierung (wenn nicht Retraumatisierung) der Foltererfahrungen (hier: als körperliche und seelische Schmerzen, vorsätzlich herbeigeführt durch staatliche Instanzen) befördert.« In weiteren Schreiben weist Dr. Graessner immer wieder darauf hin, wie ernst Indizien für einen möglichen Suizid zu nehmen sind.

Die Ausländerbehörde Braunschweig bestand weiterhin auf einer amtsärztlichen Untersuchung und wollte Dr. Dimitrov in Abschiebehaft nehmen lassen. Angesichts der geschilderten Vorgeschichte setzte man so das Leben und die Gesundheit eines gefolterten und traumatisierten Flüchtlings entgegen ärztlichem Rat aufs Spiel. Behörden und Polizei gingen mit Dr. Dimitrov um wie mit einem hochgefährlichen Gewalttäter, nicht wie mit einem Schwerkranken. Die Situation, in der die SEK-Beamten, eigentlich professionell auf solche Einsätze vorbereitet, sich möglicherweise in Notwehr verteidigen mussten, wurde durch eine Kette von Fehlentscheidungen herbeigeführt. Dr. Dimitrov starb nach einer Notoperation.

Abschiebehaftanstalt Büren (NRW)
Überwachungsraum Fotos: Achim Pohl

Blättert man nochmals in der jetzt zu schließenden Akte, so liest sich ein Attest des Behandlungszentrums für Folteropfer in Berlin besonders bitter. Dr. Graessner schreibt dort über die Ereignisse, unter deren Folgen Dr. Dimitrov litt: »Fraglos handelte es sich bei dem Polizeieinsatz in Sofia vom 16.3.1993 um eine inadäquate Gewaltanwendung, die in Verbindung mit der Unmöglichkeit, die Namen der beteiligten Polizisten zu ermitteln, traumatisierend wirken musste.« Dr. Dimitrov wurde Opfer einer weiteren inadäquaten Gewaltanwendung in dem Land, in dem er Schutz suchte. Dies alles als eine tragische Verkettung von Umständen zu bezeichnen, wäre angesichts der Kette behördlicher Ignoranz fast schon ein moralischer Freispruch. Dr. Dimitrov hätte nicht sterben müssen. Tödlich waren nicht nur die Kugeln des Sondereinsatzkommandos.

Auch in diesem Fall wird die rekonstruierbare Verkettung von Verantwortungslosigkeiten nicht dazu führen, dass jemand Verantwortung zu übernehmen hat. Das deutet sich in einer Antwort der niedersächsischen Landesregierung auf eine Kleine Anfrage der PDS vom 29. Februar 2000 an. Habe eine Gefahr für Leib und Leben des Dr. Dimitrov oder Dritter bestanden, so die Landesregierung, dann habe die Polizei auch keinen Ermessensspielraum mehr gehabt, ob sie tätig werden wolle oder nicht. Sie müsse in diesem Fall gefahrenabwehrend tätig werden. »Die Polizei in Braunschweig hat sich u. a. dazu entschieden, das SEK zu alarmieren und später auch einzusetzen. Die Entscheidungen hat die Polizei aus der Situation heraus getroffen. Es ist nicht möglich, diese Situation im Nachhinein nachzustellen, um etwa andere denkbare Lösungsvarianten durchzuprüfen. Die Beamten vor Ort sind in der jeweiligen Situation in der Verantwortung, zu entscheiden und die Verantwortung kann ihnen auch nicht abgenommen werden.« An anderer Stelle heißt es: »Ob andere Entscheidungen zu einem anderen Ergebnis geführt hätten, wären Spekulationen, an denen sich die Landesregierung nicht beteiligt. Die Landesregierung bedauert den tragischen Ausgang des Einsatzes in Braunschweig. Unabhängig hiervon ist aber festzustellen, dass Dr. Dimitrov durch seine massiven Messerattacken die Ursache für den weiteren Geschehensablauf gesetzt hat.«

Abschiebehaftanstalt Büren (NRW)
»Out of Control – Abschiebehaft in Nordrhein-Westfalen« heißt ein 70-minütiger auch als VHS-Videoband erhältlicher Dokumentarfilm, den die gemeinnützige Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender e.V. (GGUA) in Münster produziert hat. Neben der Erläuterung der gesetzlichen und politischen Hintergründe geht es dem Film darum, die unmenschliche Dimension des Systems der Abschiebehaft deutlich zu machen.

Es äußern sich betroffene Flüchtlinge, Verwandte, Unterstützerinnen und Unterstützer über ihre Gedanken und Gefühle zum Thema.

Das Videoband kostet 50,- DM
(für Organisationen und Institutionen) bzw. 30,- DM (für Einzelpersonen). Kontakt: GGUA, Grebener Str. 89, 48159 Münster, Tel. 0251 / 925167.


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