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Flugblatt

Vom papierenen Frieden
zur sicheren Rückkehr?

Zur Debatte um die Rückkehr bosnischer Kriegsflüchtlinge

Die Tinte der Unterschriften unter dem Abkommen von Dayton war noch nicht trocken, als in der Bundesrepublik eine Debatte über die Rückkehr bzw. Rückführung bosnischer Kriegsflüchtlinge begann. Die Debattenbeiträge vieler Politiker werden der Tatsache nicht gerecht, daß sich Europa im ehemaligen Jugoslawien mit dem größten Flüchtlingsproblem seit Ende des 2. Weltkrieges konfrontiert sieht. Millionen von Menschen sind auf dem Balkan und in andere europäische Länder vertrieben worden. Die historische Erfahrung, aber auch ein Blick auf die Realität zeigen: Die Folgeprobleme eines langjährigen Krieges lassen sich nicht innerhalb weniger Monate und schon gar nicht mit den Instrumentarien des deutschen Ausländerrechts lösen. Nötig ist ein integrierter und umfassender Ansatz. Der Wiederaufbau von Bosnien und die Frage der Rückkehr der Flüchtlinge sind untrennbar verbunden. Über 700 Mio. DM soll allein der deutsche Militäreinsatz zur Sicherung des Friedens kosten. Bisher hat die Bundesregierung jedoch keinen Beschluß gefaßt, ein internationales Wiederaufbauprogramm in mindestens gleicher Größenordnung zu unterstützen. Der Vertrag von Dayton gewährt Flüchtlingen das Recht, frei an ihren früheren Wohnsitz zurückzukehren und ihr früheres Eigentum zurück zu erhalten. Voraussetzung ist, daß die Menschen freiwillig, in Sicherheit und Würde zurückkehren können und in ihrer Heimat eine Lebensperspektive finden. Ohne ein Wiederaufbauprogramm sind die Voraussetzungen für eine freiwillige Rückkehr, wie sie die Hohe Flüchtlingskommissarin der Vereinten Nationen (UNHCR) wiederholt gefordert hat, nicht gegeben.

UNHCR hat nach Artikel 3 des Daytoner Abkommens die Aufgabe, sämtliche Rückkehrvorbereitungen und die Durchführung der Rückkehr zu koordinieren. Die Bundesregierung hat sich somit nach den Vorstellungen des UNHCR zu richten und nicht umgekehrt. Keine andere Organisation hat eine solch hohe Fachkompetenz in den vergangenen Jahren unter Beweis gestellt wie UNHCR, die in der Lage waren, trotz schwierigster Begleitumstände mehrere Millionen Menschen während des Krieges zumindest mit dem Überlebensnotwendigen zu versorgen.

Die im Vertrag von Dayton geforderte freiwillige Rückkehr wird von Herrn Kanther und seinen Innenministerkollegen nicht umgesetzt. Bereits im Dezember 1995 beschlossen sie bei der Innenministerkonferenz, die Bürgerkriegssituation als beendet anzusehen und den entsprechenden Abschiebestopp zum 31.März 1996 auslaufen zu lassen. Die populistische Botschaft der Politiker war deutlich: Die bosnischen Flüchtlinge waren lange genug in Deutschland, haben uns viel Geld gekostet und müssen nun schleunigst zurück.

Die zunehmende Kritik aus dem In- und Ausland an dem sich abzeichnenden deutschen Alleingang blieb nicht ohne Wirkung. Bei der Konferenz zur Rückkehr der Flüchtlinge, die am 16. Januar 1996 in Genf stattfand, erwähnte Minister Kanther kei-nerlei Fristen und betonte seine völlige Einigkeit mit den Auffassungen der Hohen Flüchtlingskommissarin der Vereinten Nationen, Frau Sadako Ogata. Ogata hatte ihrerseits die Konferenz dazu benutzt, davor zu warnen, Druck auf die Flüchtlinge auszuüben, bevor die im Dayton-Abkommen genannten Bedingungen für eine Rückkehr tatsächlich realisiert sind. Noch am 17. Januar 1996 sagte Minister Kanther,

daß die Bundesregierung keinen Zeitplan für die Rückkehr der in Deutschland lebenden bosnischen Flüchtling habe und sich auch nicht an Zahlenvorgaben orientieren werde. Man werde die deutschen Interessen mit denen der Völkergemeinschaft abstimmen.

Nach einer Sonderkonferenz der Innenminister am 26. Januar 1996 wurde klar, daß Minister Kanthers vorübergehend konziliante Haltung auf internationalem Parkett im Widerspruch steht zu der von ihm durchgesetzten Innenpolitik. Die Innenministerkonferenz beschloß – mit wenigen Einschränkungen und zeitlichen Streckungen – ihr Modell vom Dezember 1995: Alleinstehende und kinderlose Ehepaare aus Bosnien-Herzegowina müssen ab dem 1. Juli 1996 als erste in ihre Heimat zurückkehren. Bis spätestens Mitte 1997 sollen demnach etwa 200.000 Personen, etwa zwei Drittel der Kriegsflüchtlinge aus Bosnien, zurückgekehrt sein. In einer zweiten Phase ab Mai 1997 werden dann Familien mit Kindern folgen müssen. Auch für traumatisierte Menschen, Folteropfer, ehemalige Lagerhäftlinge sowie mögliche Zeugen in Kriegsverbrecherprozessen vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag ist nach dem gegenwärtigen Stand der Beratungen kein Bleiberecht vorgesehen. Die Forderungen von Wohlfahrtsverbänden, Kirchen, Flüchtlingsinitiativen und Menschenrechtsorganisationen wurden nur an einigen Stellen aufgegriffen: So sollen sich Flüchtlinge ohne Verlust ihres Aufenthaltsstatus‘ zunächst vor Ort über die Lage orientieren und vorübergehend nach Deutschland zurückkehren können. Über das Schicksal von Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern aus der Teilrepublik Srpska soll erst dann entschieden werden, wenn sich herausstellen sollte, daß für sie keine Amnestie zustande kommt. Die Bundesinnenministerkonferenz geht davon aus, daß für andere »Bosniaken« bereits eine Amnestie gilt. Dies ist so nicht richtig. Eine Amnestie aus dem Jahre 1994 hat lediglich diejenigen bosnischen Deserteure und Kriegsdienstverweigerer begünstigt, die bis zum Stichtag 26. Juni 1995 zurückgekehrt sind. Heute noch in Deutschland lebende Deserteure kommen nicht in ihren Genuß. Zu einer Mitte Februar für die bosnische Föderation verabschiedeten Amnestie liegen bislang noch keine detaillierten Angaben vor. Nach einer ersten Einschätzung des UNHCR wird die Amnestie nicht für ausreichend gehalten.

Deutschland muß sich beim Wort nehmen lassen

Die Innenminister haben sich in ihrem Beschluß vom 26. Januar 1996 nicht vollends festgelegt und beschlossen: »Alle Schritte einer gestaffelten Rückführung – auch die Fragen ethnischer Zugehörigkeit – sind der künftigen Entwicklung vor Ort und dem Ergebnis weiterer Vereinbarungen mit dem UNHCR sowie den verantwortlichen Stellen in Bosnien-Herzegowina anzupassen.« Trotz dieser Öffnungsklausel ist der Beschluß der Innenminister im Ausland zurecht auf deutliche Kritik gestoßen. Das norwegische Innenministerium kritisierte es als »äußerst unglücklich, daß Deutschland hier einen Sololauf gestartet hat« und befürchtet ein »Wettrennen« zwischen den Staaten, möglichst als erste Flüchtlingskontingente nach Hause zu schicken.

Daß Außenminister Kinkel und Innenminister Kanther im In- und Ausland verkündet hatten, Deutschland werde sich an die Prinzipien des Dayton-Abkommens halten, entlarvt sich nach dem Beschluß der Innenminister als diplomatische Sprachhülse. Bundeskanzler Kohl hatte mit seiner »Zeugen«-Unterschrift unter das Abkommen am 14. Dezember 1995 in Paris eine verbindliche politische Garantie für das Abkommen und seine Inhalte übernommen. Darin ist die »freiwillige Rückkehr« aller Flüchtlinge und Vertriebenen an künftige »Heimatorte ihrer Wahl« festgelegt. Eine »gestaffelte Rückführung« ist nun aber beim besten Willen nicht als freiwillige Rückkehr zu verstehen. Hier geht es nicht um eine Frage der deutschen Innenpolitik, sondern um die Glaubwürdigkeit des Bundeskanzlers und seines Außenministers. Mit den Beschlüssen der Innenministerkonferenz ist Deutschland dabei, als eine der Garantiemächte des Dayton-Abkommens den Vertrag an einer entscheidenden Stelle zu unterlaufen. Wir fordern deshalb, daß die Zuständigkeit für die Verhandlungen mit dem Hohen Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen über eine Rückkehr der Flüchtlinge vom Bundesinnenministerium auf das Auswärtige Amt verlagert wird.

Mit den Beschlüssen der Innenministerkonferenz ist eine Debatte nur vorläufig zu einem Ende gekommen, die über den Kopf der Betroffenen hinweg geführt wurde und sie sehr verunsichert:

Flüchtlingsberatungsstellen erleben seit Anfang dieses Jahres einen Ansturm von Menschen, die Angst haben, kurzfristig in ihre zerstörte Heimat zurückgeschickt zu werden und die sich nicht vorstellen können, wie es mit ihnen weitergehen soll. Sie sind verunsichert, wenn sie gleichzeitig in der Zeitung lesen und von ihren noch in Bosnien lebenden Verwandten hören können, daß das Chaos des Krieges noch kein Ende gefunden hat. Die Debatte hat aber auch Reaktionen unter der deutschen Bevölkerung ausgelöst. Viele Flüchtlinge werden von ihren deutschen Bekannten mit der Frage bedrängt, ob und wann sie denn nun endlich zurückkehren wollten.

Die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien ist mit der breiten Unterstützung der deutschen Bevölkerung geschehen. Dieses positive Klima wird verspielt, wenn in der Öffentlichkeit der Eindruck erweckt wird, es sei schon bald völlig problemlos möglich, in die Heimatorte zurückzukehren.

Ein Nachdenken über die Rückkehr bosnischer Flüchtlinge erfordert Realismus und Augenmaß.

Die Voraussetzungen für eine Rückkehr müssen erst noch geschaffen werden

Der Friedensvertrag von Dayton ist international mit Erleichterung aufgenommen worden. Auch in Bosnien sind die Menschen froh, daß nur selten noch geschossen wird. Noch aber ist der Vertrag in entscheidenden Punkten nicht umgesetzt. Er enthält Absichtserklärungen, deren Umsetzung durch die ehemaligen Kriegsparteien erst den Frieden ausmachen wird. Zwar haben Flüchtlinge das Recht, an ihren früheren Wohnsitz zurückzukehren. Die Vertragsparteien werden aufgefordert sicherzustellen, daß Flüchtlinge und intern Vertriebene die Erlaubnis erhalten, in Sicherheit zurückzukehren, ohne jedes Risiko der Verfolgung, Diskriminierung oder Einschüchterung. Wie dies in der Praxis geschehen soll, läßt das Abkommen in vieler Hinsicht offen. Die Menschen in Bosnien und die hier lebenden Flüchtlinge sind skeptisch.

In Bosnien-Herzegowina herrscht noch kein Frieden. Die kämpfenden Parteien, Milizen und marodierende Banden sind nicht völlig unter Kontrolle und nicht entwaffnet. Über eine Million Minen liegen noch in Bosnien. Allein die Anwesenheit von 60.000 IFOR-Soldaten in Bosnien zeigt, daß zur Zeit immer noch der Waffenstillstand gesichert werden muß und ein erneutes Aufflackern von Kriegshandlungen nicht ausgeschlossen ist. Wie brüchig der Friede ist, zeigen etwa der Granatenangriff auf eine Straßenbahn und die Geiselnahmen in serbisch besetzten Stadtteilen Sarajewos.

Die IFOR-Truppen sind noch nicht vollständig im Lande. Die vorgesehene internationale Polizeitruppe (IPTF) soll erst aufgebaut werden. Da die IFOR ein befristetes Mandat hat, wird es eine zentrale Frage sein, ob lokale Polizeikräfte und die internationale Polizeitruppe das notwendige Gewaltmonopol künftig in einer Weise wahrnehmen können, die ein Zusammenleben der ehemaligen Kriegsgegner erst möglich macht. Die Situation in der seit etwa zwei Jahren zwischen Kroaten und Muslimen geteilten Stadt Mostar zeigt, wie schwierig der Übergang vom »Nicht-Krieg« zu einem neuen Zusammenleben und zu einer Zivilgesellschaft sein kann.

Das Abkommen von Dayton enthält zwei wichtige Vereinbarungen, die bei seiner Unterzeichnung von allen am Friedensprozeß beteiligten Staaten besonders gepriesen wurden: das Recht von Flüchtlingen und Vertriebenen, an ihre früheren Wohnorte bzw. Orte ihrer Wahl zurückzukehren, sowie das Recht von Menschenrechtsbeobachtern und Vertretern des internationalen Tribunals in Den Haag, Srebrenica und andere Orte mutmaßlicher Kriegsverbrechen aufsuchen zu können. Allen am Friedensprozeß von Dayton beteiligten Staaten mußte klar sein: Diese beiden Punkte werden wesentlich mitentscheiden, ob sich Flüchtlinge in Bosnien sicher fühlen können. Doch die Durchsetzung dieser Bestimmungen wurde im Abkommen weder der IFOR noch der internationalen Polizeitruppe ausdrücklich übertragen. Klar ist aber, daß die UN-Polizei bei ihrer Unterstützung der entstehenden lokalen Polizeikräfte selber keinerlei Durchsetzungsgewalt besitzt.

Ebenso unklar ist die Frage, wer dafür zuständig ist, Menschenrechtsbeobachtern und Vertretern des internationalen Tribunals von Den Haag den Zugang zu Orten mutmaßlicher Kriegsverbrechen zu bahnen oder gar, ihnen zu helfen, gesuchter Kriegsverbrecher habhaft zu werden. Kaum zu glauben: Die Friedenstruppe IFOR soll sie nur festnehmen, wenn sie ihr zufällig über den Weg laufen. Die internationale Polizei soll sich vorwiegend auf Überwachung beschränken. Wer nicht handeln wird, weil er kein Mandat hat, scheint also festzustehen. Die Flüchtlinge würden lieber wissen, wer statt dessen zum Handeln verpflichtet ist. Daß insbesondere in der serbischen Teilrepublik Personen, die Kriegsverbrechen im Sinne des Haager Tribunals begangen haben, unbehelligt leben können, während gleichzeitig immer neue Massengräber gefunden werden, macht verständlich, daß viele Menschen kein Vertrauen in die Ernsthaftigkeit des Friedensprozesses haben.

Damit aber ist auch klar, daß sich die zentrale Frage, die sich den meisten der in Deutschland lebenden Kriegsflüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina stellt, zur Zeit nicht zu beantworten ist: Wie steht es um die Sicherheit? Zu Recht fordern deshalb Flüchtlingsinitiativen, Wohlfahrtsverbände und nicht zuletzt die Flüchtlinge selbst, die Debatte über eine Rückkehr bzw. »Rückführung« mit mehr oder minder sanftem Druck solange völlig auszusetzen, bis sich das Friedensabkommen als tragfähig erweist.

Viele Bosnier befürchten, daß sich die Völkergemeinschaft über kurz oder lang um die Frage, ob die Bedingungen von Dayton wirklich eingehalten werden, nicht mehr scheren wird – und daß diejenigen, die auf ihrem Recht beharren, in die Heimatorte zurückzukehren, als lästige Mahner oder Spinner betrachtet werden, die den Lauf der Geschichte lediglich aufhalten. Sie befürchten, daß der Dayton-Vertrag die Eroberungen des Krieges dann lediglich festschreibt. Dayton wäre dann nur ein Waffenstillstand, der die Bildung nationalistischer Teilstaaten absegnet, in denen die Menschen streng nach Ethnien getrennt leben und denen sich Rückkehrer mangels Alternative zuzuordnen haben. Viele von denen, die geflohen sind, wollten sich niemals solchen falschen Identitäten unterwerfen. Sie haben Freundschaften und Partnerschaften über Ethnien und Religionsgrenzen hinweg über den Krieg gerettet. Wird der vollkommene ethnische Separatismus als Ergebnis des Krieges hingenommen, so wird es gerade diesen Menschen schwerfallen, etwas zu finden, das sie als ihre Heimat ansehen können.

Daß ein Bosnien dauerhaft separierter Teilstaaten den Keim weiterer Konflikte in sich trägt, hat auch der Deutsche Bundestag gesehen. In einer Resolution vom 28. November 1995 wird betont: »Eine dauerhafte Konfliktlösung gerade auf dem Balkan kann nur auf der Basis des friedlichen Zusammenlebens der Menschen verschiedener ethnischer, kultureller und religiöser Zugehörigkeit entstehen.«

Ob nun diese düstere Perspektive oder eine hellere: Zur Zeit lassen sich die Fragen der Zukunft noch nicht wirklich stellen. Als Konsequenz aus dem Friedensschluß schaffen die Kriegsparteien erst einmal Fakten. Abziehende Truppen hinterlassen verbrannte Erde und Häuser. Der Entmischungsprozeß der Bevölkerung, der den brutalen Vertreibungen während der Kriegshandlungen folgt, setzt sich fort. Kaum jemand glaubt daran, daß Vertriebene und Flüchtlinge in den nächsten Jahren in großer Zahl in ihre Herkunftsorte zurückkehren können, wie das Abkommen von Dayton dies vorsieht. Die, die dies eigentlich wollen, sehen nicht, wie eine Truppe von 1.600 internationalen Polizisten ihre Sicherheit garantieren könnte.

Die UN-Flüchtlingshochkommissarin Sadako Ogata hat in ihrer Rede bei der Genfer Konferenz vom 16. Januar 1996 nochmals klar benannt, welche sich aus dem Dayton-Vertrag ergebenden Bedingungen erfüllt sein müssen, wenn die Aufnahmestaaten für bosnische Flüchtlinge den von ihnen gewährten Schutz aufheben wollen: Die volle Umsetzung der Punkte des Friedensvertrages, die das Militär betreffen, die Proklamation einer umfassenden Amnestie, die Einrichtung von Menschenrechtsstrukturen auf lokaler Basis und internationale Überwachungsmechanismen. Frau Ogata hat vorgeschlagen, die Erfüllung dieser Minimalbedingungen zum Maßstab zu nehmen, nicht aber einfach Daten für eine Rückkehr zu setzen. Das Versprechen des Friedens müsse erst vor Ort Realität werden, »bevor wir einen Schritt tun, der das Leben Hunderttausender von Menschen betrifft, die schon in der Vergangenheit enorme Härten aushalten mußten«.

Eine übereilte Rückkehr gefährdet den Frieden

Der Krieg hat bislang ca. 250.000 Tote und 350.000 Verletzte hinterlassen. 4 Millionen Menschen aus den Republiken des ehemaligen Jugoslawien befinden sich auf der Flucht, darunter mehr als 2 Millionen Menschen aus Bosnien. Von diesen wiederum leben 1 Million als im Lande selbst Vertriebene. Mehr als 320.000 Bosnier sind nach Deutschland geflohen.

Die Industrieanlagen und die Infrastruktur sind in großen Teilen des Landes zerstört. Die Minimalversorgung der Bevölkerung wird Bosnien auf absehbare Zeit nicht aus eigener Kraft sichern können. Kriegshandlungen, »ethnische Vertreibung« und Kriegszerstörungen haben dazu geführt, daß die wenigen Städte in relativ sicheren Regionen ihre Einwohnerschaft innerhalb kürzester Zeit vervielfacht haben und viele Menschen abseits ihrer Heimatorte provisorisch untergebracht und versorgt werden müssen. Ihre Rückkehr steht zur Zeit noch nicht in Aussicht, weil viele Wohnungen zerstört sind. Zum Teil sind in die Wohnungen Geflohener Menschen eingezogen, die andernorts vertrieben worden sind. Es ist nicht zu verantworten, diese schwierige Situation durch eine erzwungene Rückkehr von Flüchtlingen aus Deutschland noch zu verschärfen.

Die niederländische Regierung hat nach einer parlamentarischen Debatte Mitte Dezember 1995 beschlossen, daß der Friedensvertrag von Dayton nicht dazu führen soll, daß als Flüchtlinge nach der Genfer Konvention anerkannten Bosniern dieser Status entzogen wird, der ihnen in den Niederlanden vergleichsweise großzügig gewährt wurde. Die Verfestigung eines provisorischen Flüchtlingsstatus‘ wird weiterhin möglich sein. Menschen aus bi-ethnischen Ehen und Kriegsdienstverweigerer sollen im Einzelfall weiterhin die Möglichkeit haben, den Konventionsstatus zu bekommen. Wenn Herr Kanther also behauptet, die Beschlüsse der Innenministerkonferenz seien »den Menschen zugewandt«, so muß er sich am Maß der europäischen Nachbarn messen lassen.

Mit der geplanten Rückführung von zwei Dritteln der Flüchtlinge bis Mitte 1997 schafft die Bundesrepublik Fakten, die die bisherigen Planungen des UNHCR, der nach Artikel 3 des Daytoner Abkommens für die Koordination der Rückkehr von Flüchtlingen zuständig ist, über den Haufen werfen. Der UNHCR hatte die Auffassung vertreten, daß bei der Rückkehr erste Priorität den intern Vertriebenen zu geben ist, in zweiter Linie den Flüchtlingen, die in den direkten Nachbarstaaten unter häufig sehr schwierigen Bedingungen Zuflucht gefunden haben, und erst danach Flüchtlinge aus den anderen Aufnahmeländern zurückgeführt werden sollten. Etwa eine Million Binnenvertriebene gibt es in Bosnien selbst. Selbst ihre provisorische Unterbringung bereitet große Schwierigkeiten, umso mehr eine Wiederansiedlung oder ihre Dauerunterbringung im Rahmen von Wiederaufbauprogrammen. Kroatien als einer der Hauptaufnahmestaaten für bosnische Flüchtlinge drängt auf eine zügige Rückkehr und schiebt zum Teil rücksichtslos ab, weil kriegsvertriebenen Kroaten Priorität im eigenen Lande eingeräumt wird. Solange Flüchtlinge innerhalb Bosniens kein oder nur ein provisorisches Dach über dem Kopf haben, werden sie schwer Verständnis dafür aufbringen können, daß aus westeuropäischen Ländern zurückkehrende Flüchtlinge mit ihnen um Unterkunftsplätze und Wohnung konkurrieren.

Jeden Tag kehren bereits Flüchtlinge, insbesondere im Innern Bosniens vertriebene Menschen, an ihre früheren Wohnorte zurück, versuchen, sich ein Bild von der Lage zu machen und das Risiko einzuschätzen, das sie eingehen, wenn sie bleiben. Eine organisierte und von sinnvollen Maßnahmen begleitete Rückkehr hat noch nicht begonnen. An den Versuchen der Vertriebenen, freiwillig heimzukehren, wo dies möglich ist, lassen sich die Probleme ablesen, die bei einem geordneten Rückkehrprozeß zu lösen sind. Wie mit den im Lande selbst Vertriebenen umgegangen wird, wird erweisen, ob die Ziele des Abkommens von Dayton, die Rückkehr in die jeweiligen Heimatorte, die Rückgabe des Eigentums oder entsprechender Schadenersatz, Sicherheitsgarantien usw. durchgesetzt werden können.

Eine übereilte Rückführung von Flüchtlingen aus Drittstaaten würde in dieser ersten Phase Probleme des Mangels nur verschärfen. Nicht einmal Behelfswohnungen werden in ausreichendem Maße kurzfristig zur Verfügung stehen. Ein monatelanger oder gar jahrelanger Aufenthalt in Lagern jedoch ist nicht akzeptabel. Flüchtlinge sind keine »verschiebbare Masse«.

Die Unterstützung der Rückkehr
– eine Aufgabe von gesamteuropäischer Dimension

Die Rückkehr Millionen Vertriebener und Flüchtlinge und ihre Integration in Bosnien-Herzegowina ist eine Aufgabe von gesamteuropäischer Dimension. Für seine Aufgaben im ehemaligen Jugoslawien veranschlagt allein der UNHCR für das Jahr 1996 Kosten von über 500 Millionen DM. Die Kosten für ein über mehrere Jahre hinweg laufendes Rückkehrprogramm werden um ein Vielfaches höher liegen. Zu hoffen ist, daß sich die Bundesrepublik an ihre Zusagen hält und sich an dem durch UNHCR zu koordinierenden Rückkehrprogramm beteiligt und nicht doch noch versucht, als größter Aufnahmestaat von bosnischen Flüchtlingen in Westeuropa im Alleingang mit der Regierung Bosnien-Herzegowinas zu verhandeln, um die hier lebenden Flüchtlinge durch die Zahlung eines größeren Geldbetrages so schnell wie möglich loszuwerden. Zwar hat die Innenministerkonferenz betont, man werde die Entwicklung der Lage in Bosnien weiter beobachten und sei bereit, die eigenen Beschlüsse ggf. zu korrigieren. Mißtrauen ist jedoch geboten: Denn wessen Lagebeurteilungen wird die Innenministerkonferenz Glauben schenken – den Berichten von Flüchtlingen, Verbänden, UNHCR oder den Lageberichten des Auswärtigen Amtes oder den Berichten und Positionen der bosnischen Regierung?

Die besondere Interessenlage der bosnischen Regierung ist dabei nicht zu verkennen. Sie fordert energisch die Rückkehr der Vertriebenen, weil die meisten unter ihnen Muslime sind. Trotz ihrer erheblichen Schwierigkeiten, in den von der bosnischen Regierung kontrollierten Gebieten fast eine Million Vertriebene zu versorgen, fordert sie die westeuropäischen Regierungen auf, aufgenommene Flüchtlinge bald zurückzuschicken. In der Praxis jedoch kann die bosnische Regierung z. Z. die Rahmenbedingungen weder selbst noch mit internationaler Hilfe garantieren. Serbischen und kroatischen Rückkehrern bereiten örtliche Behörden darüber hinaus Schwierigkeiten, wenn sie zurückkommen. Realistisch betrachtet dürfte Bosnien verständlicherweise eher an einer schnellen Rückkehr von Fachkräften, nicht jedoch an einer überstürzten Rückkehr einer großen Zahl von Flüchtlingen interessiert sein, die die infrastrukturellen Probleme verschärfen würde. Geld löst nicht jedes Problem. Dennoch läßt sich nicht ausschließen, daß Bosnien auch in bilateralen Verhandlungen mit der Bundesregierung versuchen wird, die Frage der Rückkehr von Flüchtlingen mit der Bitte um weitere finanzielle Hilfen zu verknüpfen. Die Interessenlage der bosnischen Regierung ist deshalb nicht unbedingt die der bosnischen Flüchtlinge. Für uns jedoch steht im Vordergrund die Perspektive des einzelnen Flüchtlings: Er soll freiwillig unter Wahrung seiner Würde heimkehren können.

Voraussetzung für eine geordnete Rückkehr zumindest eines großen Teils der hierzulande lebenden Bosnier ist deshalb die Möglichkeit, die Situation im Heimatland und am Heimatort durch Besuche ausloten zu können. Die Sonderkonferenz der Innenminister hat beschlossen, Flüchtlingen diese Gelegenheit zu geben, um ihre freiwillige Rückkehr zu fördern, die ja nach den Vorstellungen der Innenministerkonferenz nun so freiwillig nicht sein soll. Die Innenministerkonferenz hat den Bund aufgefordert, »sich in Verhandlungen mit den Transitstaaten für die Öffnung der Landreisewege einzusetzen«, so als sei die Durchreise ein größeres Problem als die Wiedereinreise nach Deutschland. Zu fordern ist nun, daß diese vorübergehende Möglichkeit der Wiederkehr wenigstens so klar gestaltet wird, daß sie von Ausländer- und Grenzbehörden nicht mißverstanden oder unterlaufen werden kann. Die Idee einer solchen Regelung jedenfalls ist vernünftig: Wer weiß, daß er mit einer Ausreise jede Chance auf eine Wiederkehr verspielt, was auch immer ihm am Heimatort passiert, wird sich in der Regel besonders lange an Deutschland klammern.

Leider haben es die Innenminister versäumt, sich bei ihrer Konferenz damit auseinander zu setzen, daß einige Ausländerbehörden bereits intensiv dabei sind, bosnischen Flüchtlingen den Aufenthalt durch Ausweisungsbescheide und andere Pressionen zu verleiden. Es ist deshalb notwendig, daß Bund und Länder dafür Sorge tragen, daß die engen Regelungen des Beschlusses der Innenministerkonferenz nicht noch weiter unterlaufen werden. In dem geplanten »Mustererlaß zur Ausfüllung der Eckpunkte des IMK-Beschlusses« muß deshalb verhindert werden, daß Flüchtlinge durch die Erteilung noch kurzfristigerer Duldungen und dem häufig damit verbundenen Verlust des Arbeitsplatzes in eine schwierige Situation gebracht werden, die sie zur Ausreise nötigt, bevor die eigentliche Frist abgelaufen ist. Eine solche bundeseinheitliche Regelung des Status‘ der Flüchtlinge für die folgenden Jahre ist wünschenswert, damit verhindert wird, daß lokale Ausländerbehörden, Sozial- und Arbeitsämter Abschiebungen auf kaltem Wege, etwa durch die Verweigerung der Sozialhilfe bzw. entsprechender Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz oder durch die Nichterteilung der Arbeitserlaubnis durchsetzen.

Frauen und Kinder in die Boote?

Das wesentliche Ergebnis der Sonderkonferenz der Innenminister von Bund und Ländern vom 26. Januar 1996 ist der Beschluß einer Massenrückführung ab 1. Juli 1996, wobei zunächst Alleinstehende und kinderlose Ehepaare zurückkehren müssen. Für die Familien bleibt es bei einer Frist bis zum 1. Mai 1997.

Dieses Konzept ist problematisch. Maßstab müssen Probleme und Gefährdungen der einzelnen Flüchtlinge sein. Vor dem Hintergrund des noch brüchigen Friedens in Bosnien-Herzegowina lassen sich Kategorien von Flüchtlingen, wie sie ein stufenweiser Rückkehrplan immer voraussetzt, zur Zeit noch nicht benennen. Es ist völlig unabsehbar, wer in welcher Region sicher leben kann, wer sein früheres Eigentum wiedererlangen kann, wohin diejenigen, die Haus, Wohnung oder Unterkunft bei Verwandten nicht haben, gehen können. Wie aufnahmefähig wird die Infrastruktur der jeweiligen Region in den nächsten Monaten und Jahren überhaupt sein?

Mit ihren Beschlüssen hat sich die Innenministerkonferenz über internationale Prinzipien hinweggesetzt. Die Hohe Flüchtlingskommissarin der Vereinten Nationen, Sadako Ogata, hatte daran festhalten wollen, daß eine Rückkehr unbedingt freiwillig erfolgen muß. Frau Ogata hat darüber hinaus auf die Probleme hingewiesen, die aus einem unkoordinierten und übereilten Rückkehrprozeß mit Zwangselementen entstehen können. Sie hat betont, daß ein solcher Prozeß »das destabilisieren könnte, was noch ein fragiler Friede ist«. Wenn sich

die Innenminister nun daran machen, die gewünschte schnelle Rückkehr auch mit Zwangsmitteln gegen die Flüchtlinge durchzusetzen, so wird es darauf ankommen, dem die Realitäten entgegen zu halten. Wenn Bosniens fragiler Friede im Chaos einer erzwungenen Rückkehr Hunderttausender gefährdet würde, hätte Deutschland dem Friedensprozeß einen Bärendienst erwiesen.

Der gerade erst beginnende Friedensprozeß in Bosnien macht es zur Zeit nicht möglich, diejenigen Personengruppen zu benennen, die in überschaubarer Zeit zumindest in bestimmte Regionen zurückkehren können. Umgekehrt läßt sich aber absehen, daß für einige Gruppen von Flüchtlingen die Rückkehr in absehbarer Zeit nicht oder kaum möglich sein wird:

Bosnische und kroatische Flüchtlinge, die ihren letzten Wohnsitz in der jetzigen »Republika Srpska« hatten, müssen auch über die im Beschluß der Innenministerkonferenz enthaltenen Fristen hinaus von der Rückkehr ausgenommen werden. Entsprechend gilt dies für bosnische Serben, die aus ihren Wohnorten in der jetzigen bosnisch-kroatischen Föderation vertrieben worden sind. Hier ist abzuwarten, ob es tatsächlich zu einer Umsetzung und Verwirklichung des im Abkommen von Dayton verbrieften Rechtes auf Rückkehr kommt.

Bi-ethnische Paare und Familien können erst dann zurückkehren, wenn ihnen ein gemeinsames menschenwürdiges Leben möglich ist, ohne daß sie Bedrohungen, Diskriminierungen und Demütigungen ausgesetzt sind. Nach Schätzungen betrifft dies etwa 20 bis 30% der Ehen. Die Innenminister sehen für diese Personengruppe keine gesonderten Regelungen vor.

Für traumatisierte Menschen, insbesondere Folteropfer, vergewaltigte Frauen, für die eine Rückführung eine erneute Traumatisierung bedeuten würde, für alte, kranke und behinderte Menschen, die in Bosnien-Herzegowina nicht behandelt werden können, muß eine Härtefallregelung getroffen werden. Gegebenenfalls muß ihnen der dauerhafte Verbleib in der Bundesrepublik ermöglicht werden.

Alte, kranke und behinderte Menschen, die weder über familiäre Unterstützung noch soziale Bindungen in Bosnien-Herzegowina verfügen, sollten in jedem Fall bei ihren Familien und Verwandten, die einen Daueraufenthalt in Deutschland haben, bleiben können – auch wenn sie aufgrund ihrer Notlage Sozialhilfe beziehen müssen.

Deserteure und Wehrdienstverweigerer haben sich einem Krieg entzogen, der von der Völkergemeinschaft verurteilt wurde. Sie waren und sind Hoffnungszeichen für ein künftiges friedliches Zusammenleben. Nur die Proklamation einer Amnestieregelung für ganz Bosnien würde es ihnen ermöglichen, ohne Angst vor Bestrafung zurückkehren zu können. Die Einhaltung dieser Amnestie muß international überprüft werden können. Es muß darüber hinaus garantiert sein, daß Deserteure und Kriegsdienstverweigerer am Ort ihrer Rückkehr wirksam gegen Bedrohung und Diskriminierung geschützt werden. Der die Deserteure betreffende Beschluß der Innenministerkonferenz (siehe Punkt 4.4) ist ungenügend, ja sogar in Teilen falsch. Bisher gibt es, entgegen der Darstellung der Innenminister, keine umfassende Amnestie für »Bosniaken«, die Grundlage für eine problemlose Rückkehr sein könnte.

Eine Amnestieregelung und deren internationale Überprüfung müßte auch die Anhänger Fikret Abdics aus der Region Bihac einschließen, die sich auf die Seite der Serben geschlagen und bosnische Regierungstruppen bekämpft haben.

Zeugen des Kriegsverbrechertribunals in Den Haag müssen zu ihrem Schutz ein Dauerbleiberecht erhalten. Dies muß ihnen bereits jetzt zugesichert werden. Es genügt nicht, diese Personengruppe nur von der ersten Phase der Rückführung auszunehmen.

Skandalös ist es, daß das dreistufige Rückführungsprogramm für die bosnischen Flüchtlinge von der Innenministerkonferenz beschlossen worden ist, ohne daß überhaupt ausreichend Daten über die Herkunftsorte der Flüchtlinge, ihre »ethnische Zuordnung« oder gar über ihre Rückkehrabsichten vorliegen. Aus welchen Gebieten stammen die Flüchtlinge, welche ethnische Zugehörigkeit haben sie? Können sie in ihr Heimatdorf zurückkehren? Wie hoch ist der Zerstörungsgrad? Wohin wollen sie zurückkehren, falls eine Rückkehr in ihren Heimatort nicht möglich ist? Solche Daten sind die Voraussetzung für jede sinnvolle Planung einer Rückkehr. Sie liegen jedoch den Innenministern nicht vor und sollen auch nicht erhoben werden. Minister Kanther hat am 26. Januar 1996 gesagt, »wenn jemand nicht zurückkehren kann, wo er hergekommen ist, muß er einen neuen Platz in seinem Heimatland finden« (Reuter, 26. Januar 1996).

Nach einer auf der Auswertung von 10.000 Fällen beruhenden Untersuchung der Arbeiterwohlfahrt Hamburg sind etwa zwei Drittel der in Hamburg lebenden Kriegsflüchtlinge aus Bosnien nicht wegen einer allgemeinen Bedrohung durch die kriegerischen Ereignisse geflohen. Sie sind unmittelbar Opfer ethnisch motivierter Vertreibungen geworden. Andere Quellen schätzen den Anteil dieser Personengruppe auf bis zu 80%. Lassen sich solche Zahlen auf die in Deutschland lebenden Flüchtlinge hochrechnen, so sollte dies Verständnis für die Ängste bosnischer Flüchtlinge wecken. Wer einmal Opfer einer gezielten Vertreibung aufgrund bestimmter Merkmale geworden ist, wer dabei – wie häufig geschehen – Greueltaten mit ansehen mußte, eventuell den Tod von Verwandten erlebt hat, für den liegt die Schwelle für eine Rückkehr sehr hoch. Sie liegt noch höher, wenn, wie für Bosnien vorgesehen, die für die Vertreibung Verantwortlichen mit Ausnahme ausgewählter Kriegsverbrecher im Regelfall nicht bestraft werden.

Es ist zynisch, sich über die Ängste und Bedenken der Flüchtlinge gegen eine übereilte Rückkehr hinwegzusetzen. Die Ängste der bosnischen Flüchtlinge sind real. Wer mit der Sicherheit der Flüchtlinge experimentiert, tritt ihre Menschenwürde mit Füßen.

Zusammenfassende Forderungen:

Beachtung der Prinzipien der Freiwilligkeit und der Würde bei jeder Rückkehrplanung. Jegliche Gefährdung von Rückkehrenden muß ausgeschlossen sein.

Die Rückkehr der Flüchtlinge kann nicht mit den Instrumentarien des deutschen Ausländerrechts gelöst werden. Nötig ist ein umfassender, außenpolitisch orientierter Ansatz, der den Wiederaufbau Bosniens einschließt. Flüchtlinge sind bei den Planungen zum Wiederaufbau zu beteiligen. Sie sind Experten in eigener Sache. Die Zuständigkeit für Verhandlungen mit dem UNHCR über eine Rückkehr von Flüchtlingen sollte beim Auswärtigen Amt und nicht beim Bundesinnenministerium liegen.

Eine erhebliche deutsche Beteiligung bei der Gestaltung und Finanzierung von Wiederaufbauprogrammen ist – eingebunden in gemeinsame europäische Aktivitäten – erforderlich. Bisher gibt es seitens der Bundesregierung hierfür keine konkreten Zusagen, sie verweist auf die in der Vergangenheit angefallenen Kosten für die Aufnahme der Bürgerkriegsflüchtlinge. Im Haushalt der EU sind für 1996 weniger als 200 Mio. DM für den Wiederaufbau im ehemaligen Jugoslawien eingeplant. Allein der Einsatz der Bundeswehr wird nach Schätzungen über 700Mio. DM kosten. Wir fordern, daß der Etatansatz für eine deutsche Beteiligung an einem zivilen Wiederaufbauprogramm mindestens den Kosten des Militäreinsatzes angeglichen wird. Jede Reduzierung des militärischen Engagements muß zusätzliche Mittel für den zivilen Friedensprozeß freimachen.

Eine ungleiche Behandlung von Binnenvertriebenen und Flüchtlingen, die in europäischen Ländern wie Deutschland aufgenommen wurden, muß verhindert werden. Gemeinwesenbezogene Aufbauprogramme sollten in Abstimmung mit UNHCR so gestaltet sein, daß die Bedingungen für die im Lande Gebliebenen und die Rückkehrer aus allen Aufnahmeländern gleich sind. Die Betroffenen müssen an allen Planungen beteiligt werden.

Priorität muß die Wiederansiedlung der Menschen haben, die als Binnenvertriebene und in den unmittelbaren Anrainerstaaten in menschenunwürdigen Lagern und behelfsmäßigen Unterkünften leben.

Auch weiterhin darf es bei der Planung von Wiederaufbauprogrammen keine deutschen Alleingänge, etwa in Form der Verknüpfung mit einem bilateralen Rückkehrabkommen, geben.

Seit Jahren haben Nichtregierungsorganisationen versucht, mit Friedensgruppen im ehemaligen Jugoslawien zusammenzuarbeiten und noch während des Krieges Schritte zur Versöhnung zu unternehmen. Diese Ansätze sind auszubauen und zu fördern.

Informationen über die Situation in den einzelnen Orten Bosniens müssen erhoben und Flüchtlingen, Behörden und Initiativen zugänglich gemacht werden. Die von der Innenministerkonferenz vorgesehene Möglichkeit, daß Flüchtlinge die Situation vor Ort durch Besuche erkunden und danach zurückkehren, muß unmißverständlich gestaltet werden und darf nicht durch Behörden unterlaufen werden. Statt komplizierter Sonderregelungen ist die Erteilung von Aufenthaltsbefugnissen sinnvoll.

Rechtssicherheit für die betroffenen Flüchtlinge ist auch nach dem Auslaufen des Kriegsflüchtlingsstatus‘ zum 31. März 1996 nötig. Abschiebungen auf kaltem Wege durch behördliche Pressionen, lediglich kurzfristige Verlängerung von Duldungen bzw. Aufenthaltsbefugnissen, Verweigerung sozialer Leistungen, Nichtverlängerung von Arbeitserlaubnissen, müssen verhindert werden.

Es ist der Öffentlichkeit zu vermitteln, daß eine große Gruppe von Flüchtlingen auf absehbare Zeit, zum Teil auf Dauer, nicht nach Bosnien zurückkehren kann. Dazu gehören insbesondere:

  • Flüchtlinge, die aufgrund ethnischer Säuberungen fliehen mußten,
  • Folteropfer, Vergewaltigungsopfer,
  • Alte, Kranke und Behinderte, die in Bosnien nicht behandelt werden können,
  • bi-ethnische Ehepaare und Familien,
  • Deserteure und Wehrdienstverweigerer, solange es keine rechtsverbindliche Amnestieregelung für ganz Bosnien gibt.

Jugendliche in Ausbildung müssen diese vor einer Rückkehr abschließen können. Dasselbe gilt für zeitlich absehbare Schulabschlüsse. Zur Wahrung der Familieneinheit muß in diesen Fällen den Familienmitgliedern ein Bleiberecht bis zur Beendigung des Ausbildungsabschnitts eingeräumt werden.

Flüchtlinge, die Weiterwanderungsanträge gestellt haben, müssen bis zur Entscheidung darüber in der Bundesrepublik bleiben können.

Zeugen von Kriegsverbrecherprozessen beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag müssen die Vorabzusage eines dauerhaften Bleiberechtes erhalten.

Das vorschnelle Gerede von einer raschen Rückkehr von bosnischen Flüchtlingen hat dazu geführt, daß die Akzeptanz der Aufnahme von Flüchtlingen aus den Bürgerkriegsgebieten schwindet. Eine sich abzeichnende Diskrepanz zwischen der öffentlichen Ankündigung einer schnellen Rückkehr und der Realität in Bosnien, die eine schnelle Rückkehr ausschließt, fördert Fremdenfeindlichkeit.

Die Perspektive der Betroffenen muß bei der Planung eines Rückkehrprogrammes im Mittelpunkt der Überlegungen stehen. Dies bedeutet, daß eine Rückkehr unter Beachtung der Grundsätze der Freiwilligkeit, der Sicherheit und der Wahrung der Würde der Betroffenen zu erfolgen hat.

Was Sie tun können:

  • Werben Sie in Ihrer Stadt/in Ihrer Gemeinde für einen weiteren Verbleib von Flüchtlingen aus Bosnien. Stellen Sie Fälle von Flüchtlingen, die nicht in ihre Heimat zurückkehren können, der Öffentlichkeit dar.
  • Schildern Sie einzelne Fälle Ihrem Innenminister. Die nächste Innenministerkonferenz findet am 3. Mai 1996 statt. Der jetzige Beschluß ist auf dem Reißbrett entstanden. Allerdings haben sich die Innenminister für ihre nächste Konferenz eine situationsbedingte Anpassung ihrer Beschlüsse vorbehalten. Setzen Sie sich für Bleiberechtsregelungen für Gruppen, die in absehbarer Zeit nicht zurückkehren können, ein.
  • Fordern Sie bei Ihrem Innenminister eine einzelfallbezogene Härtefallregelung ein. Keine Gruppenregelung wird alle Schutzbedürftigen umfassen. Das geltende Ausländerrecht ist – nicht nur bezogen auf die Flüchtlinge aus Bosnien – viel zu starr. Es muß eine rechtliche Möglichkeit geschaffen werden, daß humanitäre Lösungen im Einzelfall möglich werden.
  • Regen Sie Partnerschaft sprogramme zwischen Ihrer Stadt/Gemeinde und Städten, Kommunen und Regionen in Bosnien an. Dies ist u. a. auch deshalb wichtig, damit konkrete Informationen über die Situation vor Ort in die lokale Öffentlichkeit gelangen.
  • In jeder größeren Kommune und in jeder Region sollten regelmäßig Informationen über die Lage in Bosnien verbreitet werden. Veranstaltungen sollten in den Muttersprachen der Betroffenen und unter ihrer Mitwirkung und Planung stattfinden.
  • Regen Sie Gesprächskreise zwischen Vertretern der verschiedenen Volksgruppen aus Bosnien an. Der Verständigungsprozeß zwischen Serben, Kroaten und Muslimen kann nicht allein in Bosnien stattfinden. Der Frieden beginnt auch hier.
  • Beginnen Sie mit den Vorbereitungen zum Tag des Flüchtlings. Er findet in diesem Jahr am 4. Oktober statt.

Wohin zurück?
Einzelfälle zeigen die Schwierigkeiten.

Das Ehepaar O., sie kroatischer, er serbischer Volkszugehörigkeit, kommt aus einem serbisch dominierten Ort in der Nähe von Sarajewo. Herr O. wurde im Jahre 1992 unter Druck gesetzt, auf serbischer Seite zu kämpfen. Herr O. und seine Familie entschließen sich zur Flucht, »weil ich gegen Gewalt bin und dies nicht mein Krieg ist«. Seit 1992 leben sie nun in Deutschland. Nachdem ihre alten jugoslawischen Pässe abgelaufen sind, nötigt sie die Ausländerbehörde, sich durch die Annahme eines neuen Nationalpasses zu irgendeiner Seite zu bekennen. Laut Paß sind die O.’s nun Bosnier. Das löst kaum eines ihrer Probleme. Der Heimatort ist weiter unter serbischer Kontrolle. Werden sie als Kroatin und Serbe in Bosnien unbehelligt und ohne Diskriminierung leben können? Werden sie mit dem bosnischen Paß ihre Verwandten im serbischen Gebiet besuchen können? Das Ehepaar O., das sich niemals ethnisch hat definieren wollen, sieht sich zwischen allen Stühlen. Eine verordnete Staatsangehörigkeit – noch lange keine Heimat.

Der 32-jährige Marco S. und seine Familie kommen aus Mittelbosnien. Sie gehören zur kroatischen Minderheit in einer mehrheitlich von Muslimen bewohnten Stadt. Im Mai 1992 schickt S. seine Frau und sein Kind nach Deutschland und meldet sich bei der Militärverwaltung. Weil er den Krieg zum damaligen Zeitpunkt als serbischen Aggressionskrieg einschätzt, möchte er seine Republik und seine Stadt verteidigen. Mehrmals wird er jedoch ohne Begründung fortgeschickt. Beim dritten Mal versteht er, daß er aus ethnischen Gründen unerwünscht ist. Danach meldet er sich in einem anderen Ort, der mehrheitlich kroatisch ist, bei den kroatischen Militärverbänden (HVO).

Im September 1992 beobachtet er, daß zwischen serbischen und kroatischen Verbänden ein reger Handel, z. B. Waffen gegen Öl stattfindet. Seine Einschätzung des Krieges ändert sich. Er bekommt mit, daß es zunehmend Kämpfe auch zwischen kroatischen und muslimischen Verbänden gibt und sieht nicht mehr allein eine serbische Aggression. Desillusioniert folgt er im Oktober seiner Frau in die Bundesrepublik nach, nachdem er seine Truppe verlassen hat. In seiner Heimatstadt hat es inzwischen militärische Auseinandersetzungen zwischen Kroaten und Muslimen gegeben, so daß er dorthin nicht zurück kann. Seine Situation ist absurd. Obwohl er als Kriegsfreiwilliger bei den bosnisch-muslimischen Truppen nicht genommen worden war, wollte man ihn zu einem späteren Zeitpunkt als Wehrpflichtigen formal einberufen. Allerdings ist inzwischen auch bekannt, daß er bei den kroatischen Verbänden gekämpft hat. Auf kroatischer Seite gilt er wegen des Verlassens der HVO-Truppe als Deserteur.

Marco S. hat in der Bundesrepublik einen Arbeitsplatz und lebt mit seiner Familie unabhängig von öffentlicher Unterstützung. Familie S. befürchtet bei der Rückkehr in ihren Heimatort, als unerwünschte Personen verfolgt und diskriminiert zu werden. In ihrer Eigentumswohnung dort leben inzwischen andere Flüchtlinge. Wohin aber könnte Familie S. zurückkehren?

Auszüge aus Annex 7 zum Abkommen von Dayton

Kapitel 1, Artikel 1: Rechte von Flüchtlingen und »displaced persons« (intern Vertriebene)

  1. Alle Flüchtlinge und intern Vertriebene (displaced persons) haben das Recht, frei an ihren früheren Wohnsitz (homes of origin) zurückzukehren. Sie sollen das Recht auf die Rückerstattung des Eigentums haben, dessen sie im Verlauf der Feindseligkeiten seit 1991 beraubt worden sind und für jedwedes Eigentum entschädigt werden, das ihnen nicht rückerstattet werden kann. Die frühzeitige Rückkehr von Flüchtlingen und intern Vertriebenen ist ein wichtiges Ziel der Beilegung des Konflikts in Bosnien und Herzegowina. Die Parteien versichern, daß sie die Rückkehr solcher Personen akzeptieren werden, die ihr Territorium verlassen haben, eingeschlossen diejenigen, denen zeitweiliger Schutz durch Drittländer gewährt worden ist.
  2. Die Vertragspartner sollen sicherstellen, daß Flüchtlinge und intern Vertriebene die Erlaubnis erhalten, in Sicherheit zurückzukehren, ohne jedes Risiko der Bedrohung, Einschüchterung, Verfolgung oder Diskriminierung, insbesondere solcher, die mit ihrer ethnischen Herkunft, dem religiösen Bekenntnis oder ihrer politischen Überzeugung einhergeht.
  3. Die Vertragspartner sind gehalten, alle notwendigen Schritte zu unternehmen, um Aktivitäten in ihren Territorien zu unterbinden, die die sichere und freiwillige Rückkehr von Flüchtlingen und intern Vertriebenen verhindern oder beeinträchtigen würden. (…)
  4. Die Wahl des Ortes (destination) soll dem einzelnen oder der Familie überlassen werden, wobei das Prinzip der Familieneinheit zu wahren ist. Die Vertragspartner sollen sich nicht in die Wahl des Ortes durch die Flüchtlinge einmischen. Sie sollen sie nicht nötigen, in Situationen ernster Gefahr oder Unsicherheit zu bleiben oder sich in solche hineinzubegeben oder in Regionen, in denen die elementare Infrastruktur fehlt, die zur Führung eines normalen Lebens nötig ist. Die Vertragspartner sollen den Fluß von Informationen erleichtern, die nötig sind, um Flüchtlinge und intern Vertriebene in die Lage zu versetzen, qualifizierte Entscheidungen (informed judgements) hinsichtlich der lokalen Bedingungen für die Rückkehr zu treffen.

Artikel 6: Amnestie

Der zurückkehrende Flüchtling oder der intern Vertriebene, der eines Verbrechens beschuldigt wird, das nicht eine ernsthafte Verletzung des internationalen humanitären Rechtes darstellt, wie sie vom Statut des Internationalen Tribunals für das ehemalige Jugoslawien seit dem 1. Januar 1991 definiert wird oder eines gewöhnlichen Verbrechens, das in keinem Zusammenhang mit dem Konflikt steht, soll bei der Rückkehr in den Genuß der Amnestie kommen. (…)

Beschluß der Innenministerkonferenz

vom 26. Januar 1996 (Auszug)

1. Mit ihrem Beschluß vom 15. Dezember 1995 in Erfurt hat die Innenministerkonferenz erste notwendige Konsequenzen aus dem Friedensvertrag von Dayton und dem sich entwickelnden Friedensprozeß in Bosnien-Herzegowina gezogen und die daraus folgenden grundsätzlichen Handlungserfordernisse deutlich gemacht. Dies sind insbesondere

  • die Notwendigkeit einer gestaffelten Rückkehr der Flüchtlinge,
  • die möglichst enge Konsultation mit UNHCR, der EU und anderen Gastländern in Rückkehrfragen und
  • das Auslaufen der bislang geltenden Abschiebestoppregelungen nach § 54 AuslG zum 31. März 1996.

2. Die Innenminister und -senatoren der Länder beobachten die Entwicklung des Friedensprozesses in Bosnien-Herzegowina ebenso sorgfältig und genau wie die auf internationaler Ebene geführten Gespräche über Umfang und Modalitäten einer geordneten und für die Stabilisierung vor Ort verträglichen Rückkehr der Flüchtlinge. Sie sind in Übereinstimmung mit UNHCR, den Partnern in der EU und der Regierung von Bosnien-Herzegowina der Auffassung, daß die baldige Rückkehr der Flüchtlinge in ihr Heimatland für den Friedensprozeß und den Beginn des Wiederaufbaus von fundamentaler Bedeutung ist.

Um den Friedensprozeß zu stützen und die im Friedensabkommen von Dayton vorgesehenen Sicherungsmaßnahmen umzusetzen sowie wegen der schwierigen wirtschaftlichen und innenpolitischen Situation Bosniens, die einen angemessenen Zeitraum für die Sicherstellung der Versorgung der rückkehrenden Flüchtlinge erfordert, soll die Rückführung der ehemaligen Bürgerkriegsflüchtlinge zeitlich gestaffelt erfolgen.

Die Verteilung der zurückkehrenden Flüchtlinge in Bosnien-Herzegowina und ihre Wiedereingliederung ist Sache der örtlichen Behörden sowie der im Friedensabkommen hierfür vorgesehenen internationalen Hilfsinstitutionen. Die Rückführungen sind so zu gestalten, daß davon keine Gefahr für die Sicherheit und das Leben der rückkehrenden Flüchtlinge ausgeht.

3. Die Innenministerkonferenz spricht sich dafür aus, ab sofort die freiwillige Rückkehr zu unterstützen. Zu diesem Zweck

  • wird volljährigen Personen, die zur Vorbereitung der dauerhaften Rückkehr eine Orientierungsreise nach Bosnien von höchstens zwei Monaten Dauer unternehmen wollen, die Möglichkeit einer anschließenden Rückkehr nach Deutschland garantiert.
  • wird die möglichst umfangreiche Beteiligung bosnischer Flüchtlinge an den im Sommer stattfindenden Wahlen auch durch Ausübung des Wahlrechtes vor Ort ausländerrechtlich gewährleistet und die anschließende Rückkehr ermöglicht.

Die Innenministerkonferenz fordert deshalb den Bund auf, sich in Verhandlungen mit den Transitstaaten für die Öffnung der Landreisewege einzusetzen.

4. Unter der Voraussetzung einer sich weiter stabilisierenden Lage vor Ort einschließlich befriedigender Regelungen zur Umsetzung des Artikels VI von Annex VII des Friedenvertrages von Dayton (Amnestie, insbesondere für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure), zur Herstellung von Planungssicherheit für die Betroffenen sowie wegen der am

31. März 1996 gegebenen Notwendigkeit von Anschlußregelungen, kommen die Innenminister und -senatoren überein, Rückführungen nach Bosnien-Herzegowina zu staffeln. Alle Schritte einer gestaffelten Rückführung – auch die Fragen ethnischer Zugehörigkeit – sind der künftigen Entwicklung vor Ort und dem Ergebnis weiterer Vereinbarungen mit dem UNHCR sowie den verantwortlichen Stellen in Bosnien-Herzegowina anzupassen.

4.1 Bereits erteilte Aufenthaltsbefugnisse bzw. Duldungen werden unter Beachtung der 3-Monatsfrist des § 56 Abs. 6 AuslG in jedem Fall bis zum 30. Juni 1996 als Duldungen verlängert. Bereits über diesen Zeitpunkt hinausreichende Aufenthaltsbefugnisse bzw. Duldungen werden nicht nachträglich zeitlich verkürzt. Ihre Verlängerung richtet sich nach den in diesen Grundsätzen vorgegebenen Fristen.

4.2 Nach dem Auslaufen der bisherigen Abschiebestoppregelungen wird zunächst eine Rückführung der bislang hiervon begünstigten alleinstehenden Erwachsenen, von Erwachsenen, deren Ehegatte und/oder minderjährige Kinder in Bosnien-Herzegowina leben sowie der Ehepaare ohne Kinder in Aussicht genommen.

Die Rückführung beginnt frühestens ab 1. Juli 1996 und soll Mitte 1997 beendet sein.

4.3 Ausgenommen von dieser ersten Phase der Rückführung sind:

  • traumatisierte Personen, die bereits jetzt in ärztlicher Behandlung in Deutschland standen,
  • Personen, die am 15. Dezember 1995 das 65. Lebensjahr vollendet hatten, wenn sie in Bosnien und Herzegowina keine Familie mehr haben, aber in der Bundesrepublik Deutschland Angehörige mit dauerhaftem Aufenthaltsrecht, soweit entsprechende Verpflichtungserklärungen vorliegen oder sonst sichergestellt ist, daß für diesen Personenkreis keine Leistungen der Sozialhilfe in Anspruch genommen werden,
  • Personen, die als Zeugen vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag im Rahmen eines Kriegsverbrecherprozesses geladen werden,
  • Schüler und Auszubildende, die ihre Ausbildung begonnen haben und in nächster Zeit einen qualifizierten Schulabschluß oder Ausbildungsabschluß erreichen können.

4.4 Für den Fall, daß nach der bereits erfolgten Amnestierung für Bosniaken eine Amnestie für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure der Teilrepublik Srpska nicht zustandekommt, behalten sich Innenminister und -senatoren eine gesonderte Regelung für diesen Personenkreis vor.

5. In Ansehung der Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland für eine ungestörte Weiterentwicklung des Friedensprozesses durch eine verträglich abgestimmte Rückführung der Flüchtlinge erhalten alle übrigen Flüchtlinge, die nicht in den Anwendungsbereich von 4. fallen, ab dem Ende des geltenden Abschiebestopps bundeseinheitlich Aufenthaltsbefugnisse oder Duldungen, deren Geltungsdauer unter Beachtung der 3-Monatsfrist des § 56 Abs. 6 AuslG zwischen dem 1. Mai und dem 31. August 1997 ausläuft.

Sie müssen davon ausgehen, daß nach heutigem Kenntnisstand ihre Rückführung ab 1. Mai 1997 beabsichtigt ist.

Über die weiteren Einzelheiten der Rückführung dieses Personenkreises wird zu einem späteren Zeitpunkt entschieden.

6. Alle vorstehenden Grundsätze gelten nicht für Personen, die vorsätzlich eine Straftat begangen haben. Ihre Rückführung erfolgt frühestmöglich nach Maßgabe des geltenden Rechts. Bagatelldelikte bleiben außer Betracht.

7. Das Bundesministerium des Innern wird gebeten, für die entsprechenden Anordnungen nach §§ 32 und 54 AuslG sein Einvernehmen zu erteilen.

8. Die Bundesregierung wird gebeten, diese Grundsätze in die weiteren Gespräche mit der Regierung von Bosnien und Herzegowina, dem UNHCR, der Europäischen Union und den übrigen Aufnahmestaaten einzubringen und die zur Umsetzung erforderlichen Konsultationen durchzuführen. Die Innenminister und -senatoren des Bundes und der Länder werden zu gegebener Zeit prüfen, wieweit das Friedensabkommen von Dayton verwirklicht worden ist und ob diese Grundsätze den tatsächlichen Gegebenheiten noch entsprechen.

9. Die Arbeitsgemeinschaft Rückführung wird gebeten, einen zwischen Bund und Ländern abgestimmten Mustererlaß zur Ausfüllung der Eckpunkte dieses Beschlusses vorzulegen.

10. Die Innenministerkonferenz geht davon aus, daß der Bund in enger Abstimmung mit dem UNHCR, der EU und den übrigen besonders betroffenen Gastländern in Europa Wiederaufbauhilfe leistet, die auch den Rückkehrern in Bosnien-Herzegowina zugute kommen muß. Dabei weisen die Länder neben der außenpolitischen Verantwortung des Bundes insbesondere darauf hin, daß Länder und Kommunen seit Beginn der militärischen Auseinandersetzungen durch Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge Kosten in Höhe von 14 Milliarden DM übernommen und damit den weitaus größeren Teil der deutschen Gesamtlast aus dem Bürgerkrieg in Bosnien-Herzegowina getragen haben.

11. Asylbewerber aus Bosnien-Herzegowina, die ihren Asylantrag bis zum 30. April 1996 zurücknehmen, werden nach den vorstehend genannten Grundsätzen behandelt.

Das Verbot einer Erwerbstätigkeit gemäß § 61 AsylVfG nach der ersten Beantragung von Asyl gilt unverändert.

12. Die Innenminister/-senatoren des Bundes und der Länder begrüßen die in der Friedensvereinbarung von Dayton niedergelegte Absicht, Wahlen zur Wiederherstellung demokratischer Strukturen in Bosnien-Herzegowina durchzuführen.

Im Hinblick auf die kriegsfolgenbedingte, schwierige Situation des Landes empfehlen sie ein möglichst einfaches Wahlsystem, das für die im Ausland lebenden Wahlberechtigten in Übereinstimmung mit Annex III der Friedensvereinbarung von Dayton die Wahlteilnahme mittels Briefwahl ermöglicht.

Deutschland wird die für die Organisation und Durchführung der Wahlen zuständigen Stellen – ggfs. auch durch Wahlbeobachter im Rahmen des Möglichen unterstützen.

13. Die Innenministerkonferenz ist sich über die Beteiligung deutscher Polizisten am internationalen Polizeikontingent für Bosnien – Herzegowina einig. Die Zusammensetzung des deutschen Kontingents aus der Polizei von Bund und Ländern mit bis zu 200 Polizisten wird im einzelnen noch vereinbart. Die deutschen Polizisten übernehmen damit jedoch keine exekutiven Aufgaben.

14. Die Innenminister und -senatoren der Länder behalten sich situationsbedingte Anpassungen ihrer Beschlüsse auf der nächsten Konferenz der Innenminister und -senatoren am 3. Mai 1996 ausdrücklich vor, sofern nicht bereits zu einem früheren Zeitpunkt eine Sondersitzung erforderlich wird.

Herausgeber:
Deutscher Caritasverband, Abt. Migration
DGB Bundesvorstand, Referat Migration
Interkultureller Beauftragter der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau
Förderverein PRO ASYL e.V.

Veröffentlicht im März 1996


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