TAG DES FLÜCHTLINGS 1995
Verhaftet, gefoltert, verschwunden
Wenn deutsche Behörden abschieben – drei Fälle
INHALT
- Grußwort der Vertreterin der Hohen Flüchtlingskommissarin der Vereinten Nationen (UNHCR) in der Bundesrepublik Deutschland
- Kriegsflüchtlinge brauchen eine Lebensperspektive
-
GRENZEN: LAND, WASSER, LUFT
- Justizlotto am Flughafen
- Kein faires Verfahren für nigerianische Flüchtlinge
- Datenschutz ist Flüchtlingsschutz
- Ein natürlicher Tod
- Deutsche Ufer – Tod an der Grenze
- Festung Europa: Die Odyssee eines Deserteurs aus Kosova
- Verhaftet, gefoltert, verschwunden – wenn deutsche Behörden abschieben
- Lageberichte des Auswärtigen Amtes: Verharmlosung von Menschenrechtsverletzungen?
- Zweierlei Wahrnehmungen: Behördliche Auskünfte und die Realitäten vor Ort
IN DEN HERKUNFTSLÄNDERN
Zum Beispiel Riza Askin aus der Türkei.
„Ein eher unauffälliger Kurde, doch trotzdem wurde er in seiner Heimat 1992 für einen Tag festgenommen. Man verdächtigte ihn, die verbotene Kurdische Arbeiterpartei (PKK) zu unterstützen. In den Verdacht, enge Verbindungen zu dieser mit Waffen kämpfenden Organisation zu haben, geraten Kurden in der Türkei sehr leicht. Oft reicht es aus, kurdisch zu sprechen oder in seinem Ausweis einen Geburtsort in den kurdischen Gebieten vermerkt zu haben. Wahrscheinlich ist es nur eine Frage der Zeit oder der Statistik, bis es einen trifft.
Nachdem Riza Askin entlassen worden war, versuchte er, der Gefahr zu entgehen und nicht wieder ins Blickfeld der Behörden zu geraten und auf die Polizeiwache geschleppt zu werden. Wie es auf türkischen Polizeistationen zugeht, ist hinlänglich bekannt, nicht nur bei den Betroffenen, sondern auch beim Menschenrechtskomitee der Vereinten Nationen, das kürzlich feststellte, in der Türkei werde in Polizeihaft systematisch gefoltert.
Riza Askin floh deshalb nach Deutschland, beantragte Asyl und wurde abgelehnt. Er wurde im Februar 1994 nach Istanbul abgeschoben. In seinem Koffer fand man bei der Einreisekontrolle am Flughafen eine Armbinde mit der Fahne und dem Symbol der PKK. Er wurde verhört, festgenommen und dann ins Gewahrsam der politischen Polizei in Istanbul gebracht. Dort wurde er nach seinem unbestätigten – jedoch glaubwürdigen – Bericht mehrfach durch Stromstöße gefoltert. Das Geständnis, das er dann unterschrieb, widerrief er eine Woche nach seiner Einreise vor der Staatsanwaltschaft und dem Gericht. Dies ordnete seine Freilassung an, dennoch wurde er wieder eine Woche später offiziell angeklagt, eine bewaffnete Bande unterstützt zu haben (§ 169 türkStGB).
Die Bundesregierung sagte zu, den Fall zu untersuchen. Bis heute hat sie kein Ergebnis veröffentlicht, was einen aufhorchen läßt, denn ein rasch verbreiteter positiver Bericht hätte die deutschen Behörden von dem häßlichen Verdacht befreit, einen Flüchtling seinen Folterern ausgeliefert zu haben.
Zum Beispiel Daoud Moulay aus Algerien.
Bei den Arbeitgebern von Daoud Moulay, von denen einer ein Anhänger der Islamischen Heilsfront (FIS) war, wurden bei einer Durchsuchung ihres Friseurgeschäftes Waffen gefunden. Der für die Waffen Verantwortliche versuchte, sich durch eine Falschaussage gegenüber den Sicherheitskräften, mit der er Daoud Moulay schwer belastete, zu retten, wohl auch weil er wußte, daß sein Mitarbeiter den bewaffneten Aktivitäten des FIS kritisch gegenüberstand. Dadurch daß Daoud Moulay dieser Aussage widersprach und damit seinen Chef beschuldigte, fand er sich plötzlich zwischen allen Stühlen. Die algerische Polizei sah in ihm einen Terroristen, die FIS einen Verräter. Kurz darauf kamen seine beiden Arbeitgeber ums Leben. Der eine wurde nach seiner Flucht aus dem Gefängnis erschossen, der andere vermutlich von der FIS ermordet. Der Friseurladen wurde durch Beschuß verwüstet. Für Daoud Moulay waren das genug Gründe, um im Juni 1992 nach Deutschland zu fliehen, wo er Asyl beantragte. Durch ein Mißverständnis bei der Adressenangabe beim Bundesamt erhielt er weder die Einladung zum Anhörungstermin vor dem Bundesamt, noch den aus seinem Nichterscheinen resultierenden ablehnenden Asylbescheid.
Während seines Aufenthaltes in Deutschland, im März 1994, erfuhr Daoud Moulay vom Tod zwei seiner Brüder. Youcef wurde als FIS-Mitglied von den algerischen Sicherheitskräften verhaftet und kurz danach tot aufgefunden. Merzak fand man einige Tage danach mit durchschnittener Kehle, wahrscheinlich ein Racheakt der Islamisten. Zwei weitere seiner Brüder, Mohamad und Sid Ahmed, gelten seit April 1994 als »verschwunden«. Ihrem Vater wurde auf der zuständigen Polizeistation mitgeteilt, daß er einen seiner »verschollenen« Söhne erst wiedersehen könne, wenn er Daoud der Polizei ausliefern würde. Sippenhaft ist in Algerien eine weitverbreitete Maßnahme der Sicherheitsbehörden, um Verdächtiger auf der Flucht habhaft zu werden.
Der gestellte Duldungsantrag von Daoud Moulay wurde von der Ausländerbehörde als Asylfolgeantrag an das Bundesamt weitergeleitet. Dieses wies den Antrag als »offensichtlich unbegründet«
ab. Auch das Verwaltungsgericht Schleswig lehnte einen Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung, mit der die drohende Abschiebung verhindert werden sollte, ab. Erst nachdem amnesty international eine Petition beim schleswigholsteinischen Landtag einreichte und auch UNHCR in Bonn intervenierte, wurde Daoud Moulay eine mündliche Anhörung durch das Bundesamt im Folgeverfahren zugestanden. Obwohl vier seiner Brüder sowie seine ehemaligen Arbeitgeber, die ja in engem Zusammenhang mit seinem Asylbegehren standen, ermordet bzw. verschleppt worden waren, betrachtete das Bundesamt sein Asylbegehren als unbeachtlich, da »der Antragsteller auch weiterhin keine Gründe vorgetragen hat, die einer Abschiebung in seine Heimat entgegenstehen«.
Daoud Moulay wurde am 12. Juli 1994 nach Algerien abgeschoben und gilt seitdem als »verschwunden«. Seine Familie hat bis heute kein Lebenszeichen von ihm erhalten.
Zum Beispiel Murat Fani aus der Türkei.
Er stammt aus dem Südosten der Türkei und ist ethnischer Kurde. Im Juni 1993 kam er nach Deutschland und beantragte politisches Asyl. Er berichtete, er sei im August 1992 für eine Woche von türkischen Sicherheitskräften festgehalten und gefoltert worden. Später sei er dann mit gefälschten Papieren nach Deutschland geflohen. Im Januar 1994 wurde sein Asylantrag abgelehnt. Darin wurde ausgeführt: »Das durch den Antragsteller ausgelöste Verhalten der türkischen Behörden hat die Zumutbarkeitsschwelle, die die asylrechtlich irrelevante politische Diskriminierung von der politischen Verfolgung trennt, nicht überschritten.« Eine Woche Mißhandlung und Folter als ortsübliche Diskriminierung? Später wird abschwächend erwähnt, daß Folter zwar einen schwerwiegenden Verstoß gegen die Menschenwürde darstelle, daß der Antragsteller sich dem jedoch durch einen Umzug in die Großstädte der Westtürkei hätte entziehen können. Wer zu Hause bleibt, ist selbst schuld, wenn ihm etwas zustößt? Im übrigen hätte ein Blick in die Untersuchungsberichte von Menschenrechtsorganisationen und die Berichte des deutschen Außenministeriums die Entscheider im Bundesamt eines besseren belehrt. Sind die deutschen Asylentscheider über die Menschenrechtssituation in den Herkunftsländern einfach »nur« schlecht informiert, oder sind sie sich etwa der möglichen Konsequenzen ihres Tuns bewußt?
Am 17. März 1994 wurde Murat Fani in die Türkei abgeschoben. Nach einem Tag in Haft kam er wieder frei und lebte, ohne die Behörden zu informieren, in Mersin in der Südosttürkei. Doch offensichtlich fand die örtliche Polizei seinen Aufenthaltsort heraus und etwa am 8. November 1994 wurde er erneut festgenommen und ohne Kontakt zur Außenwelt gefangengehalten. Inzwischen konnte er von Verwandten besucht werden. Diese berichteten, Murat Fani habe eine schwärzlich verfärbte Nase gehabt, und einige Zähne würden ihm fehlen. Es ist naheliegend, daß Murat Fani gefoltert wurde.
amnesty international startete am 18. November 1994 eine Eilaktion für ihn, bei der weltweit viele ai-Mitglieder und Privatpersonen Briefe an die türkischen Behörden schicken und u. a. darauf dringen, daß er in Haft nicht gefoltert oder anderen Mißhandlungen ausgesetzt wird.
Bei diesen drei Fällen lag es offensichtlich nicht im Interesse der deutschen Behörden, Asyl zu gewähren. Wie viel mehr Tote und »Verschwundene« in seinem Umfeld, Folter und Mißhandlungen an sich selbst muß ein Mensch vorweisen, damit seine Furcht vor Verfolgung in Deutschland als begründet anerkannt wird?
Die Bundesrepublik Deutschland hat sich durch die Europäische Menschenrechtskonvention nicht nur verpflichtet, selbst keine Folter anzuwenden, sondern auch, keinen Menschen an einen Staat zu überstellen, in dem ihm Folter oder unmenschliche und erniedrigende Behandlung droht. Durch die zynischen Entscheidungen der vorliegenden Fälle wurde diese Verpflichtung in eklatanter Weise verletzt. Diese Fälle stellen kein Versehen oder Ausnahmen dar. Sowohl für die Türkei als auch für Algerien liegen detaillierte Berichte von unabhängigen Menschenrechtsorganisationen vor, die solche Schicksale als voraussehbar ausweisen. Die Voraussetzung des Prinzips »im Zweifel für den Antragsteller« wird gerade vor dem Hintergrund der Informationen über Menschenrechtsverletzungen offensichtlich.
Es ist sehr bedenklich, daß die Bundesregierung und viele Länderregierungen gerade mit dem starrsinnigen Verweis auf diese individuelle Einzelfallprüfung Abschiebestopps für bestimmte Länder verweigern. Doch gerade hier würde sich die Möglichkeit anbieten, mangelhafte Asylentscheidungen aufzufangen. Sowohl die Entscheider beim Bundesamt als auch die Regierungen gehen das Risiko bewußt ein. Es scheint so, als würde hier, um der »Scheinasylanten« Herr zu werden, eher ein Menschenleben gefährdet, als einmal zuviel Menschlichkeit gezeigt.