TAG DES FLÜCHTLINGS 1991
Um die Menschenrechte der Amseln
ist es schlecht bestellt
Zur Flüchtlingskonzeption der Bundesregierung
Victor Pfaff
INHALT
ZUR DISKUSSION GESTELLT
- Um die Menschenrechte der Amseln ist es schlecht bestellt – zur Flüchtlingskonzeption der Bundesregierung
- Resignation ist keine Alternative: Zu den Ursachen des internationalen Flüchtlingsproblems
- Die Erweiterung des Flüchtlingsbegriffs
- Kinderrechte im Schatten des Krieges
- Die psychischen Folgen von Sammellagern
- Harmonisierungsmaßnahmen von Asylpolitik und Asylrecht innerhalb EG-Europas
- Flüchtlinge in Europa
BEISPIELE UND ANREGUNGEN
- Bausteine für einen Gottesdienst
- Unterbringung von Flüchtlingen durch kirchliche Wohnprojekte
- Aufruf zum Gutscheinumtausch in Recklinghausen
- Wir wollen hier bleiben – Roma-Brief an Rau
- Wo Einheimische und Fremde zueinander finden – das positive Beispiel Reinhardshagen
- Feste feiern mit jungen Aussiedlern
- Die Bundesregierung zur Aussiedlerthematik
- Asyl im Nationaltheater in Weimar
- Keine Abschiebung in die Türkei! Aktionen in Bayern
- Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in Bayern
- Arbeitskreis Flüchtlinge in Sachsen gegründet
- Demonstration für mehr Bewegungsfreiheit
- Wir haben Platz im Boot – Plakataktion gegen Fremdenfeindlichkeit
Im September 1990 stellte Bundesinnenminister Schäuble der Öffentlichkeit den Bericht der interministeriellen Arbeitsgruppe „Flüchtlingskonzeption“ (Stand 20. August 1990) vor. Er enthält eine Bestandsaufnahme der Flüchtlingspolitik, eine kritische Bewertung sowie konzeptionelle Vorschläge. Das Fazit lautet: „Eine kritische Bewertung der Bestandsaufnahme hat ergeben, daß in der bisherigen Flüchtlingspolitik der Bundesregierung zwar Lücken zu schließen und Koordinationsmängel zu beheben sind, keineswegs aber ein völliger Neuanfang erforderlich ist.“
Bleibt also alles beim alten? Eine erste Lektüre des Berichtes macht große Hoffnungen.
I. Die Anerkennungsquote
Erstmals lesen wir ein Stückchen Wahrheit zur Anerkennungsquote aus öffentlichem Mund, wenn auch nur in einer Anmerkung: „Die Anerkennungsquote der Gerichte wird statistisch nicht erfaßt. Nach Schätzungen verdoppelt sich dadurch die Zahl der Anerkennungen. Allerdings vermindert sich die Zahl wieder (geringfügig) durch Gerichtsurteile, die der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten erstreitet.“
Rechnen wir für 1990 nach: Anerkennungsquote Januar bis Dezember 1990 – ohne „sonstige Erledigungen“, also ohne Berücksichtigung der durch Verfahrenseinstellung entschiedenen Fälle – 5,3 % (Quelle: Statistik des Bundesamtes). Die Quote muß infolge gerichtlicher Entscheidungen circa verdoppelt werden: Das macht 10,6%, abzüglich der Erfolgsrate des Bundesbeauftragten ergeben sich 10 % Anerkennungen.
Da die Anerkennungsquote aber nicht „Fälle“ (= Familien), sondern „Personen“ erfaßt, müssen zu diesen 10 % noch die abgelehnten Angehörigen gerechnet werden, die früher – entgegen internationaler Übung – „nur“ ein Aufenthaltsrecht, seit Inkrafttreten des §7a111 AsylVfG (15.10.1990) aber die Rechtsstellung als asylberechtigt erhalten. Während diese Personen bisher in der Statistik und im Munde vieler Politiker als Asylmißbraucher, geschleuste Wirtschaftsflüchtlinge und sonst was erschienen, sind sie jetzt „asylberechtigt“.
Rechnet man diese Angehörigen hinzu, steigt die Anerkennungsquote auf ca. 20 %. Zwar ist das Verhältnis von „Fällen“ zu „Personen“ im Durchschnitt nicht 1 : 2. Für die drei Hauptherkunftsländer Rumänien/Jugoslawien/Türkei beträgt das Verhältnis für 1990 rund 47000 : 80 000. Jedoch ist es häufig so, daß Angehörige des Asylberechtigten erst nach dessen Asylantragstellung einreisen und infolgedessen in der Statistik selbständig erscheinen.
Auch dann ist das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht. Denn es gibt Flüchtlinge, die nicht nach Artikel 16112 GG Asyl erhalten, aber Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention sind (und seit 15.10.1990 als solche förmlich anerkannt werden können: § 51 AuslG vom 09.07.1990).
Diese Flüchtlinge hinzugerechnet ergibt für 1990 eine Anerkennungsquote von über 20 %.
Dann muß über jene Flüchtlinge gesprochen werden, die zwar abgelehnt, aber aus völkerrechtlichen, politischen, humanitären oder sonstigen Gründen nicht abgeschoben werden. Der Bericht nennt für 1989 eine Quote von 17 %.
Ergebnis: Weit über ein Drittel der Asylantragsteller, über deren Anträge 1990 entschieden wurde, sind asylberechtigt und werden aus Gründen des öffentlichen Interesses nicht abgeschoben. Dabei ist die Anerkennungspraxis des Bundesamtes eher restriktiv als großzügig.
II. Die Beschleunigung des Verfahrens
Die Feststellung des Verhältnisses von originärer Anerkennung durch das Bundesamt und Verpflichtungsanerkennung aufgrund gerichtlicher Entscheidungen – es beträgt dem Bericht zufolge ca. 1 : 1 – zeigt, daß das Bundesamt auf jede Anerkennung eine rechtswidrige Ablehnung ausspricht. In diesem Zusammenhang muß kritisch gesehen werden, daß sich das Bundesamt der Beschleunigung rühmt (Verfahrensdauer bei Polen, Jugoslawien, Rumänien „zur Zeit vier bis sechs Wochen“; die Zahl polnischer Asylantragsteller ist unterdessen drastisch gesunken; insgesamt beträgt die Verfahrensdauer nur noch einige Wochen) und daß der Bericht im Kapitel Asylpolitik an erster Stelle eine „durchgreifende Beschleunigung des Anerkennungsverfahrens“ nennt.
Zunächst einmal sind die Zahlen zur Verfahrensdauer ein klassisches Beispiel für Wahrheit und Unwahrheit zugleich. Denn das Bundesamt berechnet seine Verfahrensdauer wie folgt: Eingang beim Bundesamt per „Schnellbrief“ bis Entscheidung (Entscheidungsdatum auf dem Bescheid). Die Verfahrensdauer, die die Flüchtlinge und die Öffentlichkeit interessiert, ist aber länger: Von Antragstellung bei der Ausländerbehörde bis Zustellung an den Flüchtling. Handelt es sich um eine Anerkennung, vergehen zwischen Entscheidungsdatum bis zur Zustellung Wochen, handelt es sich um eine Ablehnung, erfolgt die Zustellung über die Ausländerbehörde, die neuerdings erst noch die Zentrale Abschiebestelle zu konsultieren hat: Es vergehen zwei bis neun Monate, bis der Flüchtling den Bescheid erhält und prüfen kann, ob er Klage erhebt.
Wichtiger aber ist folgendes, wobei zum Beispiel an den Länderbereich Türkei gedacht werden mag, in dem die Anerkennungsquote über dem Durchschnitt liegt: Die Einzelentscheider sehen sich beim beschleunigten Verfahren (Direktanhörung) häufig nicht in der Lage, gründliche Anhörungen durchzuführen und fundierte Entscheidungen zu treffen. Aber auch ohne Direktanhörung ist die Quote der Fehlentscheidungen viel zu hoch. Eines von vielen Problemen: Es wird häufig Unglaubwürdigkeit angenommen, ohne daß nach Beweismöglichkeiten gefragt wird oder wenigstens Widersprüche vorgehalten werden, um dem Antragsteller Gelegenheit zu geben, sich weiter zu erklären. Dabei unterstelle ich ganz wenigen Einzelentscheidern Böswilligkeit oder Leichtfertigkeit. Die Ursachen liegen in verschiedenen Umständen: mangelnde Länderkenntnis, Zeitdruck, allzu schematische Verfahrensweise, Vorurteile … Je höher die Qualität der Entscheidungen des Bundesamtes, desto geringer jedenfalls die Beschäftigung der Justiz mit Fällen, die zu Verpflichtungsurteilen führen. Aber auch: Je höher die Qualität der Ermittlungen des Bundesamtes im Bereich tatsächlicher Feststellungen, desto schneller die Justizverfahren.
Eine falsche Beschleunigung im Bundesamtsbereich führt zu überflüssiger Justizbelastung und damit zur vermeidbaren Verfahrensverzögerung.
III. Falsche Bewertung der Fluchtursachen
Im Bericht der Arbeitsgruppe tauchen Begriffe auf, die zu Freude Anlaß geben: Gewaltflüchtlinge, Kriegswaffenexportkontrolle, Bekämpfung der Fluchtursachen, internationale Zusammenarbeit zur Achtung der Menschenrechte und vieles anderes mehr. Bei genauem Hinsehen verfliegt diese Freude.
Der Bericht enthält folgende Aussage: „Europäische Asylbewerber können sich nur in Ausnahmefällen auf politische Verfolgung in ihren Heimatstaaten berufen. Ihre Fluchtgründe sind vorwiegend wirtschaftlicher oder sozialer Art (Wirtschaftsflüchtlinge).“ Ferner heißt es: „Unstreitig liegt eine der Hauptursachen für die Entstehung immer neuer Flucht- und Wanderungsbewegungen in dem Wirtschafts- und Wohlstandsgefälle zwischen West und Ost, Nord und Süd sowie zwischen den Entwicklungsländern. Politische und ethnologische Konflikte zwischen den Entwicklungsländern bilden eine weitere Ursache …“ Wohlgemerkt: Von ethnologischen Konflikten ist nur in bezug auf die Entwicklungsländer die Rede, worunter die drei genannten europäischen Länder dem Bericht zufolge in diesem Zusammenhang nicht gerechnet werden, weil dort nur ethnologische Konflikte zwischen den Entwicklungsländern erwähnt werden.
Europäische Flüchtlinge waren 1990 hauptsächlich Flüchtlinge aus Rumänien, Jugoslawien und der Türkei. Sie machten über 78 % aller europäischen Asylantragsteller aus. Wie kommt der Bericht zu dem Ergebnis, aus diesen Ländern kämen, von Ausnahmen abgesehen, nur „Wirtschaftsflüchtlinge“? Der Bericht definiert die „Wirtschaftsflüchtlinge“ wie folgt: „Personen, die ihre Heimat aus vorwiegend wirtschaftlichen oder sozialen Gründen verlassen haben. Sie sind nicht Konventionsflüchtlinge und genießen deshalb keinen Abschiebungsschutz. Konventionsflüchtlinge, die das Erstaufnahmeland, wo sie vor politischer Verfolgung sicher waren, aus vorwiegend wirtschaftlichen oder sozialen Gründen verlassen, gelten nicht als Wirtschaftsflüchtlinge, sondern bleiben Konventionsflüchtlinge.“
Die Autoren stützen ihre Aussage ausschließlich auf die Bundesamtsstatistik, wobei schon hier, auf Seite 3 des Berichtes, vergessen ist, daß die Anerkennungsquote aufgrund gerichtlicher Entscheidungen etwa verdoppelt werden muß, Seite 2 des Berichtes. Die Autoren haben keinen Blick auf die wirklichen Verhältnisse in türkisch Kurdistan, in Kosovo, in Rumänien geworfen. Ja, sie scheinen nicht einmal die Frankfurter Allgemeine Zeitung zu lesen.
Hier ist nicht der Platz, im Detail die Verfolgungs- und Menschenrechtsproblematik in diesen drei Ländern zu erörtern. Einige Hinweise müssen genügen.
Türkei: Ich verweise auf meinen Beitrag im Materialheft zum Flüchtlingstag 1990. Deutschland unterstützt seit 67 Jahren die kemalistische Politik, die, soweit sie Minderheitenpolitik ist, völkerrechtswidrig bis hin zum Terrorismus ist. Wenigstens verschließt Deutschland die Augen. Die Flüchtlinge aus der Türkei sind hauptsächlich Kurden, die seit Jahrzehnten unter schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen zu leiden haben. Die Erfahrung lehrt, daß nur wenige Flüchtlinge türkisch Kurdistans aus „wirtschaftlichen Gründen“ aufgebrochen sind. Soweit die Flüchtlinge nicht wegen ihrer politischen Aktivitäten individuell „strafrechtlich“ verfolgt werden, sind sie Opfer einer Jahre währenden Situation ethnischer Unterdrückung, Opfer von Deportation, von Festnahmen, Razzien, Mißhandlungen, gravierenden Diskriminierungen, erniedrigender Behandlung. Gewiß, der türkische Staat stellt diesen Menschen, soweit er sie nicht verhaften will, Pässe aus. Die türkische Regierung fördert den Exodus. Es wirkt dann aber wie Hohn, wenn dieser Umstand in Bundesamtsbescheiden als Ablehnungsgrund genannt wird.
Rumänien: Auch aus Rumänien kommen nach offizieller Lesart fast nur „Wirtschaftsflüchtlinge“. Also – sind nicht nur die Angaben rumänischer Asylantragsteller unglaubwürdig; unglaubwürdig müssen demnach auch die sorgfältigen Recherchen und Berichte von Menschenrechtsorganisationen und Presseorganen sein, wonach es Freiheit in Rumänien nur an der Oberfläche gebe. Erfunden wären demnach Dokumentationen wie jene der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 19.03.1991 und des SPIEGEL Nr. 22/28.05.1990. Tatsächlich gibt es in Rumänien nach wie vor und im Augenblick eher zunehmend politische Gefangene, politische Verfolgung, Unterdrückung nationaler Minderheiten und schwere Menschenrechtsverletzungen.
Jugoslawien: Nicht erst seit dem Beginn des Zerfalls des jugoslawischen Vielvölkerstaates sind jedenfalls bestimmte Republiken bzw. Teilrepubliken der Ort heftiger politischer Verfolgung und einer katastrophalen Menschenrechtslage. Der Anteil der Jugoslawen albanischer Volkszugehörigkeit wird offiziell auf 30 – 50 % aller jugoslawischen Asylantragsteller geschätzt. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtet seit langem ungeschminkt und detailliert über die Situation in Kosowo: „Die Unterdrückung der albanischen Bevölkerung im Kosowo durch Serbien hat einen Grad erreicht, der in Europa einzig dasteht und mit den europäischen Verhältnissen nicht mehr zu vereinbaren ist. Das stellen sowohl die Kommissionen der Helsinki-Föderation fest, welche die Frage unter dem Aspekt der Menschenrechte untersuchen, als auch jene, die von den politischen Aspekten ausgehen“ (FAZ vom 17.11.1990).
Die Bundesregierung hat in Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage zur Menschenrechtssituation im Kosovo und zur Abschiebung albanischer Flüchtlinge aus Jugoslawien mitgeteilt, gegenüber der jugoslawischen Regierung sei „Besorgnis“ geäußert worden (BT-Drucks 11/6350 vom 05. 02. 1990). Bundeskanzler Kohl hat Anfang 1991 dem jugoslawischen Ministerpräsidenten Markovic geschrieben und einen friedlichen Dialog über die Achtung der Menschen- und Minderheitenrechte in Jugoslawien angemahnt.
Diese amtliche „Besorgnis“ hinderte die baden-württembergische Regierung nicht, im Februar 1991 einen jugoslawischen Albaner abzuschieben, der von der Polizei geprügelt wurde und an den Folgen der Mißhandlung verstarb. Das baden-württembergische Innenministerium hat sein Bedauern ausgedrückt – und mit 78 weiteren Abschiebungen reagiert (Tageszeitung vom 21.03.1991).
Wir können sicher sein: Das Auswärtige Amt wird auch sein Bedauern ausdrücken, und die Bundesrepublik Deutschland wird weiter auf beschleunigter Abschiebung bestehen, da dem hier behandelten Bericht zufolge aus den europäischen Ländern – „von Ausnahmefällen abgesehen“ – nur „Wirtschaftsflüchtlinge“ kommen und ethnologische Konflikte nur „zwischen Entwicklungsländern“ bestehen.
Warum eigentlich entschließt sich der Auswärtige Ausschuß des eutschen Bundestages, eine Delegation auf das Amselfeld zu entsenden (FAZ vom 11.03.1991), wenn aus Jugoslawien nur „Wirtschaftsflüchtlinge“ kommen? Weil es um die Menschenrechte der Amseln so schlecht bestellt ist?
Fazit: Der Bericht der interministeriellen Kommission bewertet die Fluchtursachen, jedenfalls soweit es um die europäischen Flüchtlinge geht, völlig falsch. Auf der Grundlage einer falschen Bewertung kann keine richtige Asylpolitik gemacht werden, weder nach außen noch nach innen.
IV. Die stille Diplomatie
In dem Bericht heißt es: „Jeder Versuch, unter Hinweis auf diese Prinzipien (s. a. VN-Resolution 41/70) konkrete Maßnahmen durchzusetzen, die naturgemäß in die inneren Verhältnisse von souveränen Staaten eingreifen würden, ist jedoch von vorneherein zum Scheitern verurteilt, wenn er den Bereich der ´stillen Diplomatie´ verläßt.“
Kein Zweifel, es gibt nicht wenige Bereiche, in denen die „stille Diplomatie“ das angemessene und häufig einzig wirksame Mittel ist. Die zitierte Behauptung aber ist in dieser allgemeinen Form nicht aufrechtzuerhalten.
Das völkerrechtliche Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates und das völkerrechtliche Prinzip der Achtung der Souveränität anderer Staaten verbietet keineswegs konkrete Maßnahmen, gebietet keineswegs eine Beschränkung auf Schritte der stillen Diplomatie. Welche Norm sollte der Bundesrepublik Deutschland verbieten, der Türkei keine Waffen zu liefern, solange dieser NATO-Vertragspartner, der durch den NATO-Vertrag auf die Respektierung der Menschenrechte verpflichtet ist, diese mit Füßen und Folter tritt? Welche Norm verbietet, gegen die Türkei die Staatenbeschwerde bei der Europäischen Menschenrechtskommission mit der Begründung zu erheben, die Türkei verletze die Menschenrechte der Individuen und die Rechte der nationalen Minderheiten? Schließlich hat sich die Türkei (auch) der Bundesrepublik Deutschland gegenüber zur Einhaltung der in der Europäischen Menschenrechtskonvention festgeschriebenen Rechte verpflichtet. Was hat die „stille Diplomatie“ in bezug auf die Kurdenfrage in der Türkei in den letzten zehn Jahren erreicht? Ihr Verdienst jedenfalls ist es nicht, wenn die Regierung Özal im Frühjahr 1991 in puncto Gebrauch der kurdischen Sprache (scheinbare?) Zugeständnisse gemacht hat.
Oder, sprechen wir von Rumänien und Jugoslawien: Beide Staaten stimmten im November 1990 bei der KSZE-Konferenz der Verabschiedung der „Pariser Charta“ zu (Charta von Paris für ein neues Europa, Erklärung des Pariser KSZE-Treffens der Staats- und Regierungschefs, Bulletin des Presse-und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 137/S. 1409, 24.11.1990). Diese Charta von Paris ist ein grandioses Dokument und eine hervorragende „Berufungsgrundlage“ (ein Ausdruck im Bericht der Arbeitsgruppe). 34 Staaten sowie die Kommission der Europäischen Gemeinschaften haben bekräftigt, „daß die ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Identität nationaler Minderheiten Schutz genießen muß und daß Angehörige nationaler Minderheiten das Recht haben, diese Identität ohne jegliche Diskriminierung und in voller Gleichheit vor dem Gesetz frei zum Ausdruck zu bringen, zu wahren und weiterzuentwickeln … Unsere Staaten werden zusammenarbeiten und einander unterstützen, um zu gewährleisten, daß die Entwicklung der Demokratie nicht mehr rückgängig gemacht werden kann.“ Sodann heißt es dort unter anderem: „Ferner erkennen wir an, daß die Rechte von Angehörigen nationaler Minderheiten als Teil der allgemein anerkannten Menschenrechte uneingeschränkt geachtet werden müssen. Im Bewußtsein der dringenden Notwendigkeit, im Hinblick auf nationale Minderheiten die Zusammenarbeit zu verstärken und den Schutz zu verbessern, beschließen wir, ein Expertentreffen über nationale Minderheiten vom 1. bis 19. Juli 1991 in Genf einzuberufen.“
Die Pariser Konferenz hat auch gleich eine Tagesordnung für dieses Treffen vereinbart.
Diese Konferenzergebnisse wurden nicht still, sondern laut verkündet. Warum sollte es der Bundesrepublik Deutschland verboten sein, laut – womöglich mit anderen europäischen Konferenzpartnern – die Einhaltung der Menschenrechte und die Respektierung der Rechte nationaler Minderheiten einzufordern?
Die Bundesrepublik Deutschland sollte sich nicht dem Verdacht aussetzen, die Beschränkung auf die Mittel der stillen Diplomatie diene dem Schutz der Wirtschaftsbeziehungen mit Diktaturen.
V. Wertsystem und Menschenwürde
Nie hat auch nur ein einziger Mensch gefordert, die Bundesrepublik Deutschland solle alle Flüchtlinge dieser Welt aufnehmen. Es haben auch „die Flüchtlinge“ dieser Welt nie Anstalten gemacht, alle in die Bundesrepublik Deutschland zu kommen. Gleichwohl ist der Satz: „Die Bundesrepublik Deutschland kann nicht alle Flüchtlinge dieser Welt aufnehmen“ ein ständig wiederholter Redetextbaustein in Ansprachen nicht nur von Politikern. Er soll das Feld ebnen für nicht von Skrupeln behaftete Abschiebungen und international koordinierte Zugangsbeschränkungen – dies sind die „konzeptionellen Vorschläge“ im Papier zur Asylpolitik (zusammen mit „weiterer Beschleunigung“, s. o.).
Der augenblickliche Stand der Bund-Länder-Beratungen ist dieser: Es gibt grundsätzlich kein einziges Land, für dessen Staatsangehörige ein genereller Abschiebestopp gelten soll. Der Rest: Einzelfallprüfung.
Die Aufhebung des Abschiebestopps soll gelten etwa für Sri Lanka – in einem Augenblick, da das Massakrieren, das Verschwindenlassen von Menschen, das „extralegale Töten“ etc. pp. schlimmer geworden sind denn je (vgl. Haubold, Noch 20 Jahre Krieg?, FAZ – Bilder und Zeiten, vom 16.03.1991). Auch bezüglich Äthiopien soll es keinen generellen Abschiebestopp mehr geben zu einer Zeit, da die Botschaften der EG-Staaten in Addis Abeba ihren Staatsangehörigen empfohlen haben, Frauen und Kinder außer Landes zu bringen (FAZ vom 20.03.1991) – zwei von vielen Beispielen.
Das Wertesystem, das diesen konzeptionellen Vorstellungen zugrunde liegt, widerspricht dem Wertesystem des Grundgesetzes: der Menschenwürde.
Bundeskanzler Kohl hat nach der vergangenen Bundestagswahl in der sogenannten Elefantenrunde gesagt, im Gegensatz zur DDR habe die BRD keine Kriegsgüter in den Irak geliefert. Mit dieser Breitseitsalve des Kanzlers auf die Wahrheit begann die neue Legislaturperiode. Die Bundesregierung hat in den 80er Jahren in großem Umfang Genehmigungen zur Lieferung von Rüstungsgütern nach Irak erteilt; die Lieferfirmen sind teilweise in bundeseigener Hand (Einzelheiten s. DIE ZEIT vom 15.03.1991, S. 23 ff.). Hermes-Kredite sicherten das Profitrisiko. Im Januar 1991 erklärte Hans-Jürgen Wischnewski der Öffentlichkeit, er habe keine moralischen Skrupel gehabt, als er 1981 der Firma BOSWAU, für die er selbst tätig war, den Auftrag zum Bau des Führerbunkers Saddam Husseins vermittelte. Als ob ausgerechnet Ben Wisch nicht gewußt hätte, daß zu jenem Zeitpunkt der iranisch-irakische Krieg längst im Gange war; im September 1980 hatte die Kriegsmaschinerie Saddam Husseins Iran überfallen und große Städte wie Abadan und Khorramshahr ganz oder teilweise dem Erdboden gleichgemacht; Kriegsziel war die Eroberung der iranischen Ölprovinz Khuzestan. Wischnewski hatte keine moralischen Bedenken, dem Aggressor einen Führerbunker zu bauen. Schlugen denn in den 80er Jahren Saddams Scud-Raketen in Bagdad oder in Teheran ein?
Im Januar 1991 ernannte der Bundespräsident den von der FDP-Fraktion mehrheitlich favorisierten Jürgen Möllemann zum Wirtschaftsminister, zuständig künftig unter anderem für die Genehmigung von Waffenexporten – einen Mann, den irakische Diplomaten gelobt haben, „Dinge“ für Irak beschafft zu haben, „die wir manchmal nur unter sehr schwierigen Umständen erhalten hätten“ (DER SPIEGEL, zitiert nach FR vom 04.02.1991). Wenn die interministerielle Arbeitsgruppe dem Flüchtlingsproblem nicht nur ein schöneres Rouge auflegen will, dann muß sie eine sehr viel gründlichere und vorurteilsfreie Analyse der Fluchtursachen und des europäischen Beitrages zur Auslösung von Flucht erstellen.