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STELLUNGNAHME DES
EUROPÄISCHEN FLÜCHTLINGSRATES (ECRE)
ZUM

Strategiepapier des österreichischen Ratsvorsitzes
zur Migration und Asylpolitik

Allgemeine Anmerkungen

Dem Europäischen Flüchtlingsrat (ECRE) ist sofort die offene Sprache des Textes aufgefallen. Diese ehrliche und direkte Sprache ist sehr erfrischend und wird zweifellos den Dialog zwischen Regierungen und Flüchtlingsvertretern erleichtern. Die Nichtregierungsorganisationen (NRO) haben immer wieder die „ausschließliche Konzentration auf restriktive Maßnahmen“ (Abs. 16) der EU kritisiert. Das erwähnte Papier kommt zu der gleichen Einschätzung. Obwohl einige EU Mitgliedstaaten erst kürzlich ihre Asylgesetze durch weitergefaßte Definitionen verbessert haben, mußte ECRE jedoch gleichzeitig feststellen, daß gegenwärtig der politische Wille und der Mut zu humanitären Aktionen auf ein sehr niedriges Niveau gesunken sind. Dies wird in dem Dokument ebenfalls zum Ausdruck gebracht: „Kein europäisches Land nimmt heute im Alleingang eine Öffnung des Asylrechts […] in Aussicht“ (Abs. 25). Diese Feststellungen gestatten es uns, die Diskussion künftig mit offenen Karten zu führen.

ECRE ist dem österreichischem Ratsvorsitz außerdem dafür dankbar, daß er anregt, über eine langfristige Strategie zu beraten. Auch wir sind der Meinung, daß es ein großer Fehler der EU – insbesondere in den letzten fünf Jahren – war, für die Asyl- und Einwanderungspolitik keine globale Strategie auszuarbeiten. Wir stimmen mit dem Strategiepapier ebenfalls überein, wenn es an mehreren Stellen darauf hinweist, daß die Mitteilung von Kommissionsmitglied Padraigh Flynn zur Einwanderungs- und Asylpolitik, neu überdacht werden sollte. Wir finden es durchaus richtig und an der Zeit, daß das vorgelegte Strategiepapier einen gut verständlichen Überblick über die Asyl- und Einwanderungspolitik gibt und die Arbeit der drei Pfeiler der Europäischen Union in einem engeren Zusammenhang darstellt. Die Zeit vor dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages ist sehr wichtig für die Vollendung und Verbesserung der „fragmentarischen Ergebnisse“ (Abs. 23) der Union.

Im wesentlichen stellen sich ECRE zwei Fragen zu dem Papier: 1. Stimmen wir mit der Analyse überein? und 2. Inwieweit werden die Lösungen der Analyse gerecht? Wir möchten die für viele NRO typische Vorgehensweise, das Kritisieren ohne Aufzeigen von Alternativen, vermeiden und nennen daher am Ende dieses Textes einige Hinweise für solche möglichen Alternativen. Analyse

Das Strategiepapier geht von einer Reihe von Annahmen über die Art von Flüchtlingsbewegungen in den 90er Jahren aus, welche ECRE so nicht teilen kann. Da das Papier kaum Quellen nennt, ist es äußerst schwierig mit konkreten Zahlen zu antworten. Dabei dreht sich die Diskussion gerade um diese Grundanalyse.

Das Papier verwechselt die Ursachen von Fluchtbewegungen mit denen von Wanderungsbewegungen. So wird zum Beispiel in Abs. 15 und 53 die Verringerung von „Migrationsdruck“ mit Krisenverhinderung in Verbindung gebracht, jedoch nicht unterschieden zwischen der Krise in Albanien, die weitesgehend wirtschaftlicher Natur war, und den Krisen in Kurdistan und Kosovo, die durch die systematische Verletzung von bürgerlichen und politischen Rechten verursacht wurden. Anscheinend sorgfältig vermieden wurde der Flüchtlingsbegriff auch in Abs. 62, wo die „Anhebung von Menschenrechtsstandards“ als mögliches Mittel zur Unterstützung von „Staaten, die die meisten Emigranten produzieren“ vorgeschlagen wird. Das gesamte Papier scheint auf der Annahme aufzubauen, daß Flüchtlingsströme durch zwischenstaatliche Verhandlungen verhindert werden können und daß die Kosten für Asyl durch wirtschaftliche Anreize für die Herkunftsländer ausgeglichen werden können. Hierbei wird die grundlegende Tatsache übersehen, daß Asyl ein Menschenrecht ist, das nicht umsonst in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte aufgenommen wurde und daher einen moralischen Wert darstellt, der weit über derartige internationale Vereinbarungen hinausgeht.

ECRE begrüßt den ersten Teil von Abschnitt 4 des Strategiepapiers, in dem ganz deutlich gesagt wird, daß die einzige Möglichkeit für Präventivmaßnahmen im Bereich der Asylpolitik darin besteht, auf dauerhafte Verbesserungen der Menschenrechtssituation hinzuarbeiten. Ferner wird auch der enorme Umfang dieser Aufgabe herausgestellt. Abs. 37 nimmt auf „kooperative länderübergreifende und umfassende multidisziplinäre Ansätze” Bezug, und ECRE hofft, daß damit gemeint ist, Flüchtlingskrisen vor allem durch Beseitigung von Push-Faktoren wie Menschenrechtsverletzungen zu lösen, und nicht einfach nur durch Ergreifen von abschreckenden Maßnahmen. Das Papier erwähnt Vorbehalte beim Handel mit Drittstaaten, bezieht sich dabei jedoch leider nur auf die Unterzeichnung von Rücknahme-Abkommen und die Verschärfung der Zuwanderungskontrollen (Abs. 59), nicht aber auf die Beurteilung der Menschenrechtssituation im Rahmen der Handels- und Entwicklungspolitik der Union.

In dem Papier wird beschrieben, daß sich die Ursachen der Fluchtbewegungen von der „Unterdrückung durch autoritäre Regime” zur „interethnischen Verfolgung und Vertreibung durch nichtstaatliche Gewaltapparate” gewandelt haben (Abs. 26). Dabei wird davon ausgegangen, daß die letztgenannten Fluchtgründe „nicht in der Genfer Konvention” (Abs. 99) genannt sind. Zwar ist es richtig, daß nach dem Kalten Krieg die Zahl der ethnischen Konflikte und Bürgerkriege immer mehr zugenommen hat, doch ist ECRE der Meinung, daß diese Fluchtursachen schon länger bestanden haben (z. B. die religiösen Auseinandersetzungen, die zur Teilung von Pakistan und Bangladesch geführt haben). Auch heute noch zeigen europäische Statistiken, daß die Mehrzahl der Flüchtlinge vor Verfolgung durch autoritäre Regime fliehen (Irak, Türkei und zahlreiche andere Länder). Flüchtlinge, die aufgrund dieser Situationen fliehen, werden sehr wohl durch die Genfer Flüchtlingskonvention geschützt, denn diese schließt die Ethnie (gleichbedeutend mit „Rasse“) ein, wobei die Entscheidung, ob eine „begründete Furcht vor Verfolgung“ gegeben ist, unabhängig von der betreffenden Situation (Bürgerkrieg oder Unterdrückungsregime) getroffen werden sollte. Zehntausende Bosnier, die vor diesem Konflikt flohen und Schutz in Europa suchten, wurden denn auch von EU-Mitgliedstaaten als Flüchtlinge nach der Genfer Konvention anerkannt.

Personen, die vor nichtstaatlicher Verfolgung fliehen, fallen ebenfalls unter die Genfer Flüchtlingskonvention. Ausschlaggebend ist die Tatsache, daß der Schutz seitens des Staates fehlt, und nicht wer die Verfolgung ausübt. Innerhalb der Europäischen Union lehnen nur Deutschland, Frankreich und Österreich diesen völkerrechtlichen Konsens ausdrücklich ab. So ist es paradox, daß ausgerechnet Österreich, das eine ‚Schutzlücke‘ geschaffen hat, indem es Personen, die vor Verfolgung durch „nichtstaatliche Gewaltapparate“ fliehen, von der Flüchtlingsdefinition ausschließt, jetzt auf diese Lücke hinweist und nach einer Lösung ruft. ECRE ist der Meinung, daß bereits genügend ernste Probleme im Flüchtlingsbereich vorhanden sind, als daß noch weitere geschaffen werden sollten. Bei dieser sich im Kreis drehenden Argumentation erscheint es nur logisch, weniger verbindliche und weniger sich auf Rechte gründende Instrumente zu entwickeln. Auf diesen Vorschlag kommen wir weiter unten noch zurück.

In dem Papier wird auch der Zutritt von Flüchtlingen auf europäisches Territorium angesprochen. ECRE stimmt mit der Analyse insofern überein, als in Frage gestellt wird, inwieweit den Push- und Pull-Faktoren für globale Flüchtlings- und Migrationsbewegungen allein durch „Grenzkontrollen, Visasystem, Quotenfestlegungen, Fremdenpolizeiwesen, etc” (Abs. 29) begegnet werden kann. Insgesamt scheint das Papier jedoch von der Annahme auszugehen, daß mehr und bessere Grenzabsperrungen der einzige Ausweg sind, und so das Unkontrollierbare schließlich doch kontrolliert werden kann. Die Einschätzung des Papiers, illegale Einwanderung und Schlepperei als wachsende Probleme der 90er Jahre zu bezeichnen, ist sicherlich richtig, doch möchte ECRE nochmals darauf hinweisen, daß dies ein Problem ist, zu dem auch die Politik der EU beigetragen hat. Jahrelang haben NRO davor gewarnt, daß Menschen in die Illegalität und oft lebensgefährliche Fluchtwege gedrängt werden, wenn alle legalen Zugangsmöglichkeiten versperrt sind. Es ist durchaus legitim, daß ein Staat seine Grenzen kontrolliert, doch können derartige Kontrollen, wenn als alleiniges Mittel angewandt, eben auch das Gegenteil bewirken. So kann die sinkende Zahl von Asylbewerbern, wie in Abs. 11 erwähnt wird, nicht einfach nur mit verhindertem Asylmißbrauch erklärt werden, sondern auch damit, daß echte Flüchtlinge gezwungen waren, in ihrem Herkunftsland zu bleiben, Schutz in anderen Regionen zu suchen oder sich illegal und unter einem unsicherem Status auf europäischen Territorium zu verstecken. Diese andere Möglichkeit kann von uns nicht überprüft werden, da nicht feststellbar ist, wie viele Opfer von Folter und Verfolgung in den letzten Jahren davon abgehalten wurden, Asyl zu beantragen.

Das Strategiepapier sieht vor, hart gegen Schlepper und illegale Zuwanderer vorzugehen. Bei den vorgesehenen Maßnahmen wird auf die „Nulltoleranz“ von illegaler Zuwanderung verwiesen (5.1 n). ECRE sieht einen der größten Fehler des Papiers darin, daß es versäumt, Asylbewerber von Strafen wegen illegaler Einreise zu befreien. Diese Befreiung wird in Artikel 31 der Genfer Flüchtlingskonvention garantiert, wo anerkannt wird, daß die Flüchtlinge, die der Verfolgung durch die Nazis entkommen konnten, auf Schlepper und illegale Routen angewiesen waren (zum Beispiel Raoul Wallenberg oder Oskar Schindler, oder die Fischer, die während des Krieges Juden gegen eine Gebühr in relativ sichere Gebiete brachten). Die Tatsache, daß in ein Land illegal eingereist wurde, sagt nichts über die Glaubwürdigkeit des einzelnen Anspruchs auf Asyl aus. Hilfsmaßnahmen für illegal einreisende Asylbewerber müssen neben Maßnahmen zur Kontrolle der Einschleusung von Zuwanderern stehen. Dies ist ein schwieriger Balanceakt, der weitaus komplexer ist, als im Strategiepapier dargestellt.

In Abs. 92 wird behauptet, es sei am effektivsten für Staaten, illegale Zuwanderer sofort auszuweisen: „Ein Gesamtsystem, wonach im Fall eines nicht auf die vorgeschriebene Weise erfolgten Grenzübertritts jedenfalls zunächst der status quo ante herzustellen ist – also die Rückschaffung über diese Grenze – und alle Verfahren erst danach durchgeführt werden, wäre mit Sicherheit sehr hilfreich.” Dies könnte so interpretiert werden, daß die Zurückweisung von illegal einreisenden Asylbewerbern mit inbegriffen ist, wobei schwer zu verstehen ist, was im Falle der per Boot an der italienischen Küste ankommenden Menschen unter „über diese Grenze” gemeint wäre. Sollte diese Interpretation richtig sein, so wäre dies wohl die gefährlichste Aussage in dem Papier.

Die große Mehrheit der Asylbewerber wird ausgeschlossen und somit gleichzeitig Rechtssicherheit durch politisches Ermessen ersetzt, was das Ende des Asyls als Menschenrecht bedeuten würde. Paradoxerweise wird dieser Vorschlag 1998 vorgebracht, genau 50 Jahre nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Es wird auch das Argument gebracht, die Genfer Flüchtlingskonvention sei überholt (Abs. 27, 103 und 42, Punkt 6). Wie bereits oben erwähnt, läßt dieses Argument die Entwicklung der Rechtsprechung insbesondere der letzten zehn Jahre und die offiziellen Interpretationen der UNO außer acht und verwechselt Fehler bei der Umsetzung mit Versagen der Definition. Das Strategiepapier zeigt hier eine frappierende Verkennung der Verdienste des gegenwärtigen Systems und einer Konvention, die in diesem Jahrhundert für die Rettung von Menschenleben weitaus mehr getan hat als jedes andere Menschenrechtsinstrument.

Gleichzeitig gründet sich die Strategie auf eine bemerkenswerte Nostalgie, die Sehnsucht nach jenen goldenen Zeiten, als Entscheidungen noch nach politischen Launen getroffen und keinen rechtlichen Verfahren unterworfen waren. Sie „entwickelt“ (Abs. 102) sich sprichwörtlich zurück zu den vielfach aus politischen Überlegungen heraus gefällten Asylentscheidungen der 70er Jahre oder gar auf die Zeit vor bestehendem Menschenrecht in den 20er Jahren. Es ist nicht so, daß wir „politische Angebote” zur Aufnahme von Flüchtlingen ablehnen, doch hält in dem gegenwärtigen System nichts die europäischen Regierungen davon ab, einzeln oder gemeinsam nach solchem Ermessen zu handeln. Laut Abs. 44 des Handbuchs des UNHCR stellt Gruppenanerkennung durchaus eine kosteneinsparende Möglichkeit dar. Individuelle Anerkennung ist nicht und war noch nie das „einzige Instrument” (Abs. 132) des Flüchtlingsschutzes.

So wie ECRE den Vorschlag versteht, soll ein „Übergang von nur rechtsstaatsorientierten zu auch politisch orientierten Schutzkonzepten” (Abs. 41) vor allem ermöglichen, daß bestimmte nationale Gruppen zur Rückkehr gezwungen werden können und ihnen der Flüchtlingsstatus verweigert werden kann. Falls dies alles ist, worauf sich die vorgeschlagene „Neuorientierung” des internationalen Flüchtlingsrechts erstreckt, so können wir darin keinerlei Vorteile für Flüchtlinge finden. Wir sind der Meinung, daß die europäische Öffentlichkeit, Parlamentarier und einige Mitgliedstaaten noch über ausreichend politischen Willen verfügen, um die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 und andere Instrumente für den Flüchtlingsschutz vor restriktiven Änderungen oder gar Abschaffung zu bewahren. An mehreren Stellen kritisiert das Papier zurecht den Mangel an aussagekräftigen Daten und stellt zurecht fest, „es wäre in den kommenden ein bis zwei Jahren geboten, die Analyse der neuen Herausforderungen und der Entwicklung der letzten Jahrzehnte auf dem Bereich des Flüchtlingsschutzes und der Anwendung der Genfer Konvention vorzunehmen” (Abs. 125). ECRE glaubt, daß eine solche unabhängige Analyse ein ganz anderes Bild ergeben würde, als dies in dem Papier gezeichnete, wobei das Versagen bei der Umsetzung und selbstgemachte bürokratische Hindernisse in den Mittelpunkt gerückt würden. Daraus wiederum würde sich eine ganz andere Strategie ergeben.

Damit wollen wir nicht sagen, daß die Union kein neues System des ‚vorübergehenden Schutzes‘ und der ‚Solidarität‘ für die Aufnahme von Flüchtlingen in Europa braucht. ECRE unterstützt die in dem Papier aufgestellte Forderung, daß der Rat die Kommissionsvorschläge für diese beiden Bereiche schnellstmöglich annehmen soll. Allerdings bieten die Kommissionsvorschläge unserer Auffassung nach keine Lösung für alle Flüchtlinge, die „aus anderen als den Gründen der Genfer Konvention (vor allem wegen interethnischer Verfolgung)…” fliehen (Abs. 98), und wir möchten ernsthaft „die allgemein akzeptierte Vorstellung” (Abs. 127) in Frage stellen, daß Nicht-Konventionsflüchtlinge eine kürzere Schutzdauer als Konventionsflüchtlinge benötigen. Die gemeinsame Maßnahme der Kommission zum vorübergehenden Schutz von Vertriebenen bezieht sich insbesondere auf Situationen massiver Zuwanderung und ist ein Schutzinstrument für genau den Fall, in dem es unmöglich ist, den Status der betroffenen Personen festzustellen. Falls es dem österreichischen Ratsvorsitz vorrangig um die Harmonisierung des Status jener Flüchtlinge geht, die bei einer richtigen Interpretation der Genfer Flüchtlingskonvention herausfallen, so würde ECRE eher auf die Arbeiten zu subsidiären Schutzformen verweisen als auf die Vorschläge der Kommission zu vorübergehendem Schutz. Die einzig wesentliche Kritik von ECRE an der Flynn-Mitteilung von 1994 war, daß versäumt wurde, zu allererst eine zusätzliche Flüchtlingsdefinition für de facto-Flüchtlinge in Europa zu erarbeiten.

Neue europäische Standards können jedoch nicht „nach außen hin autonom” von anderen internationalen Standards entwickelt werden (Abs. 31, 42 und 54). ECRE begrüßt die realistische Einschätzung des Papiers, daß es anachronistisch ist, daß der europäische Prozeß der Entscheidungsfindung in der Asyl- und Einwanderungspolitik auch weiterhin von einzelstaatlichen Interessen dominiert wird (Abs. 39), hält das Papier jedoch insgesamt für in gefährlichem Maße eurozentristisch. Beispielsweise sollten europäische Vereinbarungen über die Aufteilung der Verantwortung oder „Lasten“ globale Lösungen nicht von vornherein ausschließen. Ferner ist die Ansicht des Papiers, internationale Beziehungen seien „konzentrische Kreise” (Abs. 60) zu statisch, um als Grundlage für ein neues System zur Einwanderungskontrolle in Betracht zu kommen. Es wird (wie im Protokoll über Asyl zum Vertrag von Amsterdam) davon ausgegangen, daß aus dem inneren Kreis keine Flüchtlinge hervorgehen können, und daß die Ursachen von Flüchtlingskrisen dem wirtschaftlichen Entwicklungsstand entsprechen oder von Staaten nach Abschluß internationaler Verhandlungen kontrolliert werden können. Dies ist ein kurzsichtiges und selbstgefälliges Konzept, das außer acht läßt, daß zum Beispiel Jugoslawien nicht das am wenigsten entwickelte Land in der Region war. Außerdem ist es noch nicht so lange her, daß Flüchtlinge aus Ländern wie Griechenland oder Portugal flohen oder US-Wehrpflichtige während des Vietnamkrieges Asyl in Schweden fanden. Mit anderen Worten: Die Annahme, Flüchtlinge könnten nur aus armen Ländern kommen, ist schlichtweg falsch. Langfristig würde dies – im Zusammenspiel mit neuen Erweiterungen und politischen Übereinkommen – dazu führen, daß das tatsächliche „Asylgebiet“ in der Welt immer mehr zusammenschrumpft.

Auch kann ECRE die Analyse des Strategiepapiers über das Zusammenwirken von Pull-Faktoren und Asyl nicht ganz teilen. Die Annahme (Abs. 81 und 104), daß das Niveau der Betreuung und Versorgung der Asylbewerber den Ausschlag bei der Wahl des Asyllandes gibt, wurde durch eine unlängst durchgeführte Studie der Europäischen Kommission widerlegt. Vielmehr scheint sich die These von NRO zu bestätigen, daß geographische Nähe, kulturelle, gemeinschaftliche oder familiäre Bindungen zu bestimmten Gastländern oder einfach nur der Zufall eine weitaus größere Rolle spielen. So haben die (in Abs. 105 angesprochen) Rückkehrprogramme für Bosnier gezeigt, daß vor allem in Bezug auf die Anerkennung der Rechte von Minderheiten die Bedingungen in Bosnien selbst für die freiwillige Rückkehr wichtiger waren als finanzielle Anreize der Aufnahmeländer. Der durchschnittliche Flüchtling scheint nicht dem rational handelndem Wirtschaftssubjekt zu entsprechen, von dem das Strategiepapier ausgeht.

ECRE befürwortet eine gewisse Harmonisierung der sozialen Aspekte der Asylpolitik, wie sie in der Mitteilung von Padraigh Flynn empfohlen und in dem Strategiepapier wieder aufgegriffen wurde. Soziale Integration ist keine knappe Quelle, die illegale Zuwanderer erschöpfen (Abs. 28) können, ohne Platz für Flüchtlinge zu lassen. Sie ist vielmehr ein dynamischer Prozeß, der unvermeidbare Änderungen im Aufnahmeland wie auch unter den Flüchtlingen selbst erfordert. Bei diesem Prozeß liegt der Schlüssel zum Erfolg weniger im finanziellen als im politischen Bereich, und daher muß in der gesamten Europäischen Union eine Strategie zur positiven Beeinflussung der öffentlichen Meinung gefunden werden. Des weiteren müssen die tatsächlichen psychologischen und sozialen Bedürfnisse, wie die der Familienzusammenführung (nicht nur nach dem Vorbild der westlichen Kleinfamilie) verstanden werden, wenn die erfolgreiche Integration der Flüchtlinge, die bleiben dürfen, ein vorrangiges Ziel ist.

Zusammenfassung

Eine Strategie, die davon ausgeht, daß die „Steuerung [der Einreisekontrolle] bereits bei der Visaerteilung im Ausreiseland beginnt” (Abs. 86), hat nach Auffassung von ECRE weitreichende Folgen für Flüchtlinge. 1994 kritisierte ECRE in seiner Antwort auf die Mitteilung von Pardraigh Flynn, daß wir uns vor Flüchtlingen schützen, anstatt die Flüchtlinge selbst zu schützen. Auch die neue Strategie von 1998 stellt primär auf Abschreckung ab.

Weder zu Beginn noch am Ende des Papiers werden allgemeine Ziele genannt, obgleich sich einige Ziele wie die weitere Einschränkung der Einreise in die Union (von Zuwanderern wie von Flüchtlingen) ableiten lassen. Warum eine derartige Einschränkung wünschenswert ist, wird jedoch nicht erklärt. Es wird einfach davon ausgegangen, daß dies der erklärte Wille des EU-Bürgers ist. ECRE bezweifelt allerdings, daß es sich bei der in Cardiff propagierten „bürgernahen Union” (Abs. 32) zwangsläufig um eine xenophobe Gemeinschaft handeln muß. Gibt es nicht größeren Raum für humanitäre Maßnahmen, ohne die Schaffung unkontrollierbarer Push-Faktoren?

Schlußvorschläge

ECRE würde folgende Alternativen vorschlagen:

  • Zurückhaltung beim Visazwang bei ungewollten Flüchtlingsströmen, gegebenenfalls vorübergehende Aussetzung von Abschiebungen und Rücknahmeabkommen für Krisengebiete. Derartige Maßnahmen könnten Spannungen in diesen Gebieten abbauen;
  • Unterstützung von Asylbewerbern beim Zugang zum europäischen Territorium und bei Anerkennungsverfahren (gegebenenfalls auch Überseeverfahren);
  • Teilweiser Abbau des „Asylwesens” (Abs.102), jedoch nicht der fairen Verfahren und der Rechtsstaatlichkeit. Vielmehr sollten einige der ineffizienten und teuren Maßnahmen, die in den letzten zehn Jahren immer häufiger angewendet wurden, abgeschafft werden. Dies betrifft insbesondere die Inhaftierung trotz gleichwertiger Alternativen, die Regelung des sicheren Drittstaates (welche zur Vervielfachung der Verfahren, Inhaftierungen und Rückführungen geführt hat), die Abschiebung in Fällen, bei denen zunächst keine Programme zur freiwilligen Rückkehr angeboten wurden, sowie die Visapflicht für Personen, die aus flüchtlingsproduzierenden Situationen fliehen. So wie Abrüstung eine ‚Friedensdividende‘ abwirft, so würde auch eine Überprüfung dieser Aspekte eine Dividende abwerfen, mit deren Hilfe bessere Aufnahmemöglichkeiten, Rechtshilfe usw. finanziert werden könnten.
  • Breitere Nutzung der politischen Angebote der europäischen Staaten im Bereich Asyl (vorübergehender Schutz, Rückkehrprogramme und andere humanitäre Angebote). Die Angebote sollten eine sinnvolle Ergänzung zu den etablierten Instrumenten darstellen, welche ihrerseits richtig interpretiert und umgesetzt werden müssen;
  • Vollendung der Harmonisierung, einschließlich Verbesserung früherer Maßnahmen im Rahmen des dritten Pfeilers, sowie Ausarbeitung einer ergänzenden Definition für Flüchtlinge, die aus der Genfer Flüchtlingskonvention herausfallen;
  • Auf europäischer Ebene müssen Integrationsstrategien entwickelt werden, die sich auf Vielfalt, Nichtdiskriminierung, sozioökonomische Rechte und die Rechte der Familienzusammenführung gründen. Eine effiziente Rückführung aller keines internationalen Schutzes bedürfenden Personen ist erforderlich, doch müssen die Mitgliedstaaten jenen einen dauerhaften Aufenthalt ermöglichen, die aus außerhalb ihrer Macht stehenden Gründen nicht zurückgeführt werden können;
  • Die politische Unterstützung fur den UNHCR sollte wieder hergestellt werden, um auf dem direktesten Weg weltweite Solidarität praktizieren zu können und das Prinzip der Universalität der Menschenrechte (und somit auch des Rechts auf Asyl) zu wahren. Künftige Strategien der EU sollten die Arbeit der UN-Organisationen entsprechend würdigen und sich ihre Erfahrungen zunutze machen;
  • Die Mitgliedstaaten sollten den öffentlichen Dialog über künftige Strategien suchen und das Demokratiedefizit, das nach wie vor in den Institutionen der EU im Bereich Justiz und Inneres herrscht, beseitigen.

ECRE Sekretariat
4. September 1998


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