TAG DES FLÜCHTLINGS 1996
» … daß hier allzu leichtfertig mit dem Schicksal eines Menschen umgegangen wird.«
Später Erfolg für die kurdische Familie Simsek im Petitionsausschuß
INHALT
- Grußwort der Vertreterin der Hohen Flüchtlingskommissarin der Vereinten Nationen (UNHCR) in der Bundesrepublik Deutschland
- Entwicklung der Asylpolitik in Europa
- Frauenspezifische Verfolgungsgründe
- Der Einzelfall zählt
- Statt Asyl: Auslandsschutzbrief und Nichtverfolgungsbescheinigung – Verfassungsgericht glaubt der Selbstauskunft von Diktatoren
- Gibt es Kettenabschiebungen?
- »In meinem Kopf ist immer die Frage: Was kommt später?« – Minderjährige unbegleitete Flüchtlinge
- Kann man Folter übersehen?
- Der Präsident erhöht die Schlagzahl
– Druck auf die Mitarbeiter des Bundesamtes verschlechtert die Qualität der Asylentscheidungen - »…daß hier allzu leichtfertig mit dem Schicksal eines Menschen umgegangen wird.«
Später Erfolg für die kurdische Familie Simsek im Petitionsausschuß - Brennpunkt Flughafen
- Nach Einreise: Abschiebehaft
- Für Härtefallregelungen
- Gegen die inhumane Abschiebepraxis in Deutschland
- Illegalität fällt nicht vom Himmel
- Beispiele und Anregungen
- Das Asylbewerberleistungsgesetz ein Schreckgespenst für Flüchtlinge und Asylsuchende
- Ärzte-Netzwerk »Medizinische Hilfe«
- Erste Erfahrungen einer Abschiebehaft-Gruppe
- Begegnung mit Flüchtlingen suchen
- Wir wollen, daß ihr bleiben könnt!
- Was ist los in Zaire?
- Gruppenasyl in Regensburg für togoische Flüchtlinge
- Unzureichende Altfallregelung – künftig kaum noch Abschiebestopps
- Zehn Jahre PRO ASYL
- Adressen
- Statistik
Die Geschichte der Familie Simsek ist ein Leidensweg. Fariz Simsek wurde 1990 zusammen mit seinem Cousin bei einer Autofahrt in die Türkei verhaftet und schwer gefoltert. Der Cousin ist mittlerweile in Deutschland als Asylberechtigter anerkannt. Fariz Simseks Vortrag wertete das Bundesamt dagegen als unglaubhaft, seine Schilderungen als »detailarm, vage und widersprüchlich «. Außerdem hätten Asylbewerber grundsätzlich keinen Anspruch auf Asyl, wenn sie sich mit der PKK identifiziert hätten. Und auch für Nichtmitglieder der PKK, die ihr Tun in irgendeiner Weise förderten, gebe es kein Asyl in Deutschland, wenn das Tun des Asylsuchenden von der Völkerrechtsordnung mißbilligt werde. Unterstellt wurde Simsek weiter, die von ihm vorgelegten Dokumente aus der Türkei seien gefälscht. Große Teile dieser Interpretation wurden vom Verwaltungsgericht übernommen. Selbst als Simsek an der deutschen Botschaft in Ankara die Bestätigung der Echtheit seiner Dokumente bekam, nützte ihm dies aus formaljuristischen Gründen nichts mehr. Daß Simsek gefoltert wurde, bestreitet heute niemand mehr. Ärztliche Gutachten bestätigen die Folgeschäden. Ein Abschiebungsschutz ergab sich daraus nicht. Simsek war nach Auffassung des bayerischen Innenministeriums ein Straftäter. Er hatte in Augsburg an einer verbotenen Demonstration zum kurdischen Neujahrsfest teilgenommen. Simsek tauchte in seiner Verzweiflung unter. Der Familie wurde durch eine Kirchengemeinde über längere Zeit Kirchenasyl gewährt. Als sich jedoch keine Lösung abzeichnete, verließ die Familie Deutschland und floh in ein anderes Land weiter.
Am 1. Februar 1996 beschied der Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages die Petition der Familie Simsek und übte heftige Kritik insbesondere am Bundesamt:
»Im Gegensatz zum Bundesamt kann der Ausschuß nach Würdigung des Anhörungsprotokolls nicht feststellen, daßder Petent seine Erlebnisse in der Türkei detail arm, vage und widersprüchlich geschildert hätte. Vielmehr ergibt sich aus dem Anhörungsprotokoll ein in sich schlüssiger Sachverhalt, bei dem der Petent auch stets in der Lage war, angebliche Widersprüche nachvollziehbar aufzuklären.
Zu pauschal erscheint auch die Verneinung der Voraussetzung des Artikels 16 a Abs. 1 des Grundgesetzes mit der Begründung, Mitglieder und Unterstützer der PKK hätten grundsätzlich keinen Anspruch auf Asyl. Das Bundesamt legt hier nur allgemeine Voraussetzungen für die Grenze der Asylgewährung fest, ohne zu prüfen, ob diese Grenzen im konkreten Fall des Petenten auch tatsächlich überschritten wurden. (’00) Der Ausschuß hat keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß die politische Betätigung des Petenten in der Türkei bereits Formen von Terrorismus angenommen hätte. Es kann deshalb nicht nachvollzogen werden, wie das Bundesamt zu dieser Bewertung gelangt ist. «
Der Petitionsausschuß teilt weiter die Kritik des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen an der Bundesamtsentscheidung, die in ihrer pauschalen Form nicht im Einklang mit der Genfer Konvention stehe.
»Äußerst fragwürdig erscheinen auch die Feststellungen des Bundesamtes, wonach die von dem Petenten vorgelegten Beweismittel Fälschungen sein sollen. (…) Das Bundesamt geht schließlich auch nicht auf den Vortrag des Petenten ein, wonach er bereits im Januar 1991 schweren Folterungen ausgesetzt war. Auch dieser Vortrag wurde durch entsprechende ärztliche Atteste bestätigt. Das Bundesamt hätte deswegen zumindest im Rahmen der Prüfung zu Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG auf eine eventuelle Gefahr der Wiederholung eingehen müssen.
Nach Auffassung des Petitionsausschusses erweckt die Begründung des Bundesamtes insgesamt den Eindruck, daß hier allzu leichtfertig mit dem Schicksal, der körperlichen Unversehrtheit und dem Leben eines Menschen umgegangen wird.«
Diese Kritik des Petitionsausschusses am Bundesamtsverfahren hat jedoch zunächst einmal keine Konsequenzen. Das Asylverfahren ist rechtskräftig abgeschlossen. Das Bundesverfassungsgericht war im März 1995 lediglich bereit gewesen, die Abschiebung Simseks zunächst wegen bestehender Selbstmordgefährdung auszusetzen. Abschiebungshindernisse sah das Gericht nicht, nachdem der türkische Botschafter in der Bundesrepublik dem bayerischen Innenminister versprochen hatte, Simsek würde bei einer Einreise in die Türkei nach der üblichen Befragung freigelasen. Der Petitionsausschuß selbst kann die Urteile unabhängiger Gerichte nicht überprüfen oder eine Änderung der ergangenen Entscheidungen erwirken. Da das geltende Ausländergesetz, an das der Ausschuß ebenfalls gebunden ist, Härtefallregelungen für solche Fälle nicht vorsieht, bleibt dem Petitionsausschuß nur die Empfehlung, Simsek möge sich ans Bundesinnenministerium wenden. Doch die Initiativen, die die Familie Simsek im IKirchenasyl in Steppach unterstützt haben, wollen mehr: »Wir erwarten jetzt, daß der Bundesinnenminister der Familie Simsek die Rückkehr in die Bundesrepublik Deutschland ermöglicht«, so der Steppacher Pfarrer Peter Brummer Anfang März.